Berlinale, Tag 7: Cineastische Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus
Im Fokus: Liebe in einer zusammenrückenden Welt, Kulturelle Aneignung und die Aufarbeitung echter Schuld
Aya macht das, womit keiner rechnet. Am Tag ihrer Hochzeit sagt sie nein und lässt ihren Verlobten sitzen, nachdem der sie am Vorabend hintergangen hat. Die junge Frau verlässt ihre Heimatstadt Abidjan, um im chinesischen Guangzhou neu anzufangen. In Chocolate City, einem Viertel, in dem sich die afrikanische Diaspora niedergelassen hat, arbeitet sie in einem Teegeschäft.
Die Verbindungen zwischen China und dem afrikanischen Kontinent sind vielfältig, China ist für viele afrikanische Staaten der wichtigste wirtschaftliche Partner. Entsprechend bunt ist es in den Großstädten auf beiden Seiten. Wer Abderrahmane Sissakos Filme wie „Bamako“ oder Timbuktu“ gesehen hat, wird hier verwundert sein, dass es in seinem neuen Film kaum um die sozioökonomischen Aspekte des kulturellen Austauschs geht. In „Black Tea“ interessiert sich der mauretanische Filmemacher allein für die menschlichen Aspekte. Die unterschiedliche Herkunft seiner Figuren und ihre kulturellen Prägungen bleiben ebenso nebensächlich wie gesellschaftspolitische Debatten oder Sprachbarrieren.
Sissako beobachtet in seinem von Aymerick Pilarski großartig fotografierten Film die emotionale und sinnliche Dimension der Begegnung. In Guangzhou trifft Aya (Nina Mélo) auf Cai (Chang Han), den in sich ruhenden Besitzer des Teeladens. Beim Studium der verschiedenen Teezeremonien kommen sich die beiden näher. Cais Sohn Li-Ben (Michael Chang), seine Ex-Frau Ying (Wu-Ke-Xi) und einige andere Figuren bringen Spannung in das Beziehungsgeflecht.
Bei einer Teezeremonie muss jede Geste präzise sein, damit sich die Beteiligten nicht am heißen Aufguss verbrühen. Das gilt auch für diesen Film, der wie eine cineastische Teezeremonie wirkt. Mit Ruhe, Bedacht und Empfindsamkeit erzählen Sissako und sein tolles Ensemble diese Geschichte. In kurzen Momenten brodelt die Atmosphäre, in langen Einstellungen aber gibt der Film Luft zum Atmen. Hier entwickelt diese Erzählung, die atmosphärisch an Wong Kar-Wais Drama „In the Mood for Love“ erinnert, in kleinen Szenen ihr besonderes Aroma. Die Stunden, in denen Cai seiner schönen Schülerin die Geheimnisse des Tees nahebringt, sind wie Meditationen, in denen die Synchronizität der Gesten auf den Gleichklang der Herzen schließen lassen. Ja, das wirkt aus der Zeit gefallen, ist aber einfach auch wunderschön.
Zugleich drückt sich der mauretanische Filmemacher nicht vor den Herausforderungen der Gegenwart. Er braucht nur den Konflikt der Generationen, das Scheitern von Lebenswegen, die kolonialen Zusammenhänge oder die Herausforderungen der puren Existenz nicht als erzählerisches Mittel, um diese Geschichte voranzutreiben.
„Black Tea“ ist eine betörend sinnliche Meditation über das Leben und die Liebe in einer zusammenrückenden Welt. Er schafft eine Perspektive, die der Westen nicht einzunehmen imstande ist, weil er sich zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sissako zeigt eine Welt, in der Tradition und Kultur allen zur Verfügung stehen und die Begegnung in ein Miteinander statt in ein Gegeneinander führt. Das mag konventionell erzählt und vielleicht sogar naiv sein, schön anzuschauen ist es dennoch.
Die Frage, ob das noch cineastische Fantasie oder schon kulturelle Aneignung ist, stellt sich in Margherita Vicarios Klostermädchen-Aufstand „Gloria!“, der in der versammelten Kritikerschaft erstmals hörbare Dissonanzen hervorgerufen hat. Buhrufe und trotziger Applaus hallten nach der Pressevorführung durch den Berlinale-Palast.
Handlungsort ist das Kollegium Sant Ignazio vor den Toren Venedigs, in dem Ende des 18. Jahrhunderts Waisenkinder musikalisch ausgebildet werden. Der Papst kündigt sich an, es braucht ein besonderes Konzert und der alte Kapellmeister Perlina (Paolo Rossi) – eine Witzfigur – muss liefern. Zentrale Figur ist Teresa (Galatéa Bellugi), ein stilles Bauernmädchen, mit der Perlina ein dunkles Geheimnis verbindet. Teresa wird mit einer Handvoll Mädchen am geschenkten Klavier einen eigenen musikalischen Weg gehen.
Der Film setzt auf das feministische Kollektiv und die Kraft der Musik. Freunde von Max Richters klassischem Crossover – dessen sphärische Variante Johan Rencks einschläfernde Weltall-Therapie „Spaceman“ (mit Adam Sandler und Carey Mulligan) intoniert – werden diesem Mix aus klassischer Musik, Jazz und Gospel sicher etwas abgewinnen können, einer kritischen Sicht hält der Film aber nicht stand. Die seichte Story ist in jeder Hinsicht vorhersehbar. Die Verlogenheit der Kirche, die Arroganz der Hierarchien, das Drama der Liebe und die Kraft einer heimlichen Mutterschaft – all das verpufft, auch weil sich der Film nicht zwischen Historienfilm und Satire entscheiden kann. Zudem bedient er sich ungeniert an Elementen der Black Music und inszeniert sie als Erfindung eines blonden italienischen Bauernmädchens. Westliche Hybris hat viele Gesichter.
Die cineastische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und seinen Folgen schlägt sich im Wettbewerb der 74. Berlinale gleich an verschiedenen Stellen nieder. Faszinierend ist, dass dafür ganz unterschiedliche Mittel gewählt werden. Während Sissako die kolonialen Kontexte der Beziehungen zwischen China und Afrika zwar berührt, aber nicht vertieft, hat Nelson Carlos De Los Santos Arias seine Erzählung über das Nilpferd „Pepe“ eng mit den kolonialen Verbrechen verwoben.
Allein die Entführung des Nilpferds auf den amerikanischen Kontinent erinnert an das dunkle Kapitel des Sklavenhandels. Auch das Afrikaans, mit dem „Pepe“ aus dem Off zu den Zuschauern spricht, ist Hinweis auf die koloniale Geschichte seines Herkunftslandes Namibia. Derlei Anspielungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die ansonsten recht erratische Erzählung, die mit Spielfilm, Dok-Aufnahmen und Zeichentrick von Pepe Flucht aus dem Privatzoo von Pablo Escobar in den Rio Magdalena, der Angst der lokalen Fischer vor einem Monster aus der Tiefe und der tödlichen Hippo-Jagd des kolumbianischen Militärs erzählt. Der Kunstgriff, „Pepe“ diese Geschichte mit verzerrter Stimme selbst erzählen zu lassen, symbolisiert wohl die Verbiegungen und Verzerrungen, die der Kolonialismus bis heute nach sich zieht.
Vielleicht geht es aber auch nur einfach darum, dass die entführten und geraubten Wesen ihre Stimme erheben. Sie wie in der eindrucksvollen Dokumentation „Dahomey“ von Mati Diop, in der eine Statue des Königs von Dahomey darüber spricht, wie er und tausende andere Kultgegenstände „in die dunkle Nacht entführt“ des Exils entführt worden sind.
Die französische Regisseurin erzählt in ihrer einstündigen Doku davon, wie Frankreich 26 Kunstschätze an den Benin zurückgibt, die französische Kolonialisten einst aus dem Königreich Dahomey entführt haben. Ist die Rückgabe einiger dieser Schätze nun ein historischer Durchbruch oder doch nur eine unterkühlte Geste angesichts der tausenden Heiligtümer, die noch in französischen Archiven lagern? Und wie geht man mit den Götzen und Göttern um, wenn sie wieder in ihrer Heimat sind? Solche Fragen wirft Diop auf und führt damit die Langzeitfolgen der kolonialen Raubzüge vor Augen.
Dem kommt auch der bedrückende Dokumentarfilm „Das leere Grab“ nach, der außerhalb des Wettbewerbs läuft. Er erzählt von den Bemühungen einiger tansanischer Stämme und Clans, die Köpfe ihrer von deutschen Kolonialisten ermordeten Ahnen zurückzubekommen. Vor etwas mehr als hundert Jahren zogen marodierende Deutsche durch Deutsch-Ostwestafrika, um das Gebiet dem deutschen Kaiser zu unterwerfen. Um ihre Gegner zu demütigen, schlugen sie ihnen den Kopf ab. Rund 10.000 (!) Köpfe sind in der Zeit nach Deutschland gelangt, sie lagern noch heute in Museen und privaten Sammlungen.
Die Berliner Filmemacherin Agnes Lisa Wegner hat die Nachforschungen der betroffenen Familien festgehalten, führt die Folgen der fehlenden Aufarbeitung der deutschen Schuld vor Augen und macht die Traumata sichtbar, die die kolonialen Verbrechen Deutschlands verursacht haben. Oft sieht man in diesem Film nur die Außenwände der Institutionen, in denen die geraubten Schädel oder zumindest Hinweise auf sie liegen. Sie stehen symbolisch für die Mauern, gegen die die Aktivisten in Tansania und Deutschland bis heute rennen. Viel mehr als Versprechungen erreichen sie nicht.