Berlinale, Tag 4: Was der Masse, als auch den Schlaubergern gefällt
Matthias Glasners „Sterben“ ist ein Opus Magnum.
Es ist schwer, den schmalen Grat zu treffen. Verpasst man ihn auch nur knapp, bleibt entweder nur Kitsch für die Massen oder Kitsch für die Schlauberger. Der vom Leben erschöpfte Komponist Bernard hadert in Matthias Glasners Film „Sterben“ mit sich und seiner Kunst, weil es ihm nicht gelingen will, dem Kitsch aus dem Weg zu gehen. Nun ist es ohnehin schwierig, das Pathos zu meiden, wenn man sich der simplen Frage der puren Existenz zuwendet. Im Wettbewerb ist dieses Thema bislang omnipräsent, aber nirgendwo wird das Nebeneinander von Leben und Tod so umfassend und ergreifend gezeigt wie in Glasners Film.
Existenzielle Fragen haben den Hamburger Filmemacher schon immer interessiert. In seinem Drama „Der freie Wille“ geht es um den Neuanfang eines entlassenen Vergewaltigers, in „Gnade“ macht sich ein Paar eines Verbrechens schuldig. Mit „Sterben“ konkurriert er zum dritten Mal um die Berlinale-Bären, er ist neben Andreas Dresen der zweite deutsche Filmemacher im Wettbewerb. In dem mit drei Stunden längsten der zwanzig Wettbewerbsbeiträge beobachtet er Lissy und Gerd Lunies sowie deren Kinder Tom und Ellen, wie sie, mit dem Tod konfrontiert, durchs Leben stolpern.
Ausgangspunkt für den Film war der Tod seiner eigenen Eltern. Der Film ist der Versuch, ihnen nahezukommen und sich dem eigenen Schmerz, der eigenen Verlorenheit, aber auch der Dreistigkeit von Krankheit, Niedergang und Tod zu stellen.
Der Film beginnt mit dem an Demenz leidenden Gerd Lunies (Jens Weisser), der halbnackt durch die Nachbarschaft irrt. Nach einigem Hin und Her wird er zur Erleichterung seiner Frau in ein Pflegeheim verlegt, wo er seine letzten Tage verbringt. Lissy (Corinna Harfouch) hat sich noch nicht an ihre neue Freiheit gewöhnt, da erhält sie eine verheerende Diagnose. Der Versuch, sich ihrem Sohn gegenüber zu öffnen, geht schrecklich in die Hose.
Glasers Porträt der Eltern hat nicht die Sensibilität eines Michael Haneke („Liebe“), ist aber alles andere als lieblos. Vielmehr gelingt es ihm auf faszinierende Weise, das nie völlig unbelastete Verhältnis von Eltern und Kindern in Worte und Bilder zu bringen. Zugleich fängt er in beklemmenden Miniaturen die elende Situation von Lissy und Gerd Lunies ein. Dabei erzählt er von so schwierigen Gefühlen wie Einsamkeit und Überforderung, Kontrollverlust und Verbitterung, Angst und Resignation.
„I’m looking for lasting relations“
Auf der anderen Seite sind da die wackeligen Existenzen von Tom (Lars Eidinger) und Ellen (Lilith Stangenberg), die voller Leben sein könnten und doch vom Tod gezeichnet sind. Toms Arbeit an dem neuen Stück seines lebensmüden Freundes Bernard (Robert Gwisdek) ist ebenso eng mit dem Tod verbunden wie sein Engagement als Ersatzvater der Tochter seiner großen Liebe (Ana Bedecke). Seine Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) wiederum versucht die kaputten Familienverhältnisse in rauschhaften Nächten zu vergessen, taumelt dabei aber permanent am Abgrund. „I’m looking for lasting relations“, zitiert Ellen einen Song von Bill Fay und bringt dabei die Sehnsucht der Figuren in diesem Film auf den Punkt.
Nicht zufällig teilen Bernards Komposition und Glasners Film den Titel. Man darf dies als Hinweis auf die Gestalt(ung) dieses Episodenfilms verstehen, der als klassisches Drama in fünf Akten erzählt wird. Wie die Arbeit an dem Orchesterstück selbst geht der Film permanent vor und zurück. Das Ringen mit der Existenz ist ein ständiges Anschwellen und Abklingen. Einatmen. Ausatmen. Laut und leise, Höhen und Tiefen, Lachen und Weinen, Leben und Tod – all das steht hier nebeneinander, ohne sich gegenseitig die Kraft zu nehmen.
„Sterben“ ist ein Film über Leben und Tod, aber auch über Freundschaft und (Wahl-)Familie. Er dürfte sowohl der Masse als auch den Schlaubergern gefallen, denn er trifft den schmalen Grat. Er hat den Mut, der Schönheit und der Hässlichkeit im Leben Raum zu geben, ohne das eine über das andere zu stellen. „Du musst machen, was dein Herz dir sagt“, lässt ein Kind am Anfang des Films neunmalklug verlauten. Glasner ist dieser Aufforderung gefolgt. Mit seinem wunderbaren Ensemble gelingt ihm das Kunststück, die Fragilität des menschlichen Daseins auf der großen Leinwand abzubilden.
Lars Eidinger beeindruckt dabei in der Rolle eines nahbaren Menschenfreunds, Lilith Stangenberg überzeugt als selbstzerstörerischer Vamp inklusive Anspielung auf ihre Rolle in Julian Radlmeiers „Blutsauger“. Jens Weisser und Corinna Harfouch glänzen zudem als emotional unerreichbare Eltern.
Das Leben sei nie nur eins, sondern immer viel mehr, zitiert Tom am Ende den schwedischen Filmemacher Ingmar Bergman. „Für manche macht es das lebenswert, für andere unerträglich.“ Dieser Ambivalenz kommt man mit diesem mal zart und fragil wirkenden, dann wieder überwältigenden Opus Magnum näher. „Sterben“ berührt, ohne rührselig zu sein, darin besteht seine große Kunst.
Ob das geniale Kunst oder absoluter Trash ist, weiß man nach Bruno Dumonts Sci-Fi-Persiflage „L’Empire“ nicht so genau. Der Film ist ein wilder Ritt, in dem Mainstream und Autorenfilm die Klingen kreuzen. Die Geschichte ist ein Blockbuster-Klassiker und handelt vom Kampf zwischen Gut und Böse. Der Franzose bedient sich bei Kassenschlagern wie „Star Wars“, „Die Tribute von Panem“ und „Tomb Raider“, wenn er in einem verschlafenen Dorf an der Küste Nordfrankreichs einen geheimen Krieg zwischen den Nullen und Einsen zur Aufführung bringt. Das ist so skurril, das es schon wieder interessant wird. Als hätte sich George Lucas an einem bierseligen Abend mit der Truppe von Monty Python’s Flying Circus zusammengetan, um einen Arthouse-Noir in der Provinz zu drehen. Flirrend skurril bis bekloppt und auf erfrischende Art verstörend.
Um Kunst geht es auch in „Dahomey“ der französischen Regisseurin Mati Diop. Der Dokumentarfilm begleitet die Rückgabe von 26 Kunstschätzen in den Benin, die die französischen Kolonialisten einst aus dem Königreich Dahomey entführt haben. Eine Geste, angesichts von rund 7.000 geraubten Kulturgütern, die weiterhin in den Händen der ehemaligen Kolonialisten sind, oder ein historischer Moment? Diese Frage stellt die in Cannes ausgezeichnete Französin in ihrem neuen Film. Sie hält auch den Bau der Ausstellungshallen und die gesellschaftlichen Debatten um den Umgang mit den Kulturschätzen fest. Eine der zurückgegebenen Statuen kommentiert zudem das Trauma der Entwurzelung. Eine spannende Auseinandersetzung mit Fragen von kultureller Identität und Restitution.
Auf der Berlinale ist auch Julia von Heinz’ neuer Film „Treasure“ zu sehen. Hochrangig besetzt mit Lena Dunham und Stephen Fry erzählt sie dort die Geschichte von Ruthie und ihrem Vater Edek, die nach dem Tod der Mutter nach Polen reisen, um sich auf die Spuren ihrer Vorfahren zu begeben. Ihr Weg führt sie von Warschau, Łódź und Krakau bis ins Todeslager nach Auschwitz-Birkenau, wo Edeks Familie umgebracht wurde. Die Geschichte lebt vor allem von den Neurosen von Vater und Tochter, die während der gemeinsamen Reise in den Vordergrund treten. Während der Schwerenöter Edek immer noch die Polen fürchtet, malträtiert Ruthie mit Haferflocken und heimlicher Schokolade ihren Körper. Eine mitreißende Vater-Tochter-Geschichte, mit der die deutsche Regisseurin („Und morgen die ganze Welt“) in den Abgrund der europäischen Geschichte schaut.
Im Panorama ist zudem Josef Haders neuer Film „Andrea lässt sich scheiden“ zu sehen. Nachdem Hader 2017 mit seinem Regiedebüt „Wilde Maus“ im Wettbewerb vertreten war, bringt er seinen neuen Film für den Publikumspreis in Stellung. Im Mittelpunkt steht die Provinzpolizistin Andrea (Birgit Minichmayr), die aus Versehen ihren Noch-Ehemann überfährt. In Panik macht sie sich aus dem Staub, als sie reumütig an die Unfallstelle zurückkehrt, hat sich dort der Dorfsäufer längst schuldig bekannt. Haders komödiantische Provinzposse widmet sich den kleinen Leuten und ihren alltäglichen Sorgen. Das ist durchaus unterhaltsam, der Kitsch ist dabei einkalkuliert.