Berlinale, Tag 3: Wenn die Freiheit auf dem Spiel steht
Der neue Dresen. Dazu eine Covid-Komödie, eine Afterlife-Dystopie – und eine sexuelle Revolution
Es sind oft die großen Gesten, mit denen Filmemacher:innen politischen Widerstand einfangen. In dem Film „In Liebe, Eure Hilde“ sind es hingegen die kleinen, leisen Momente, mit denen an die Widerstandskämpferin Hilde Coppi erinnert wird. Etwa in dem Moment, als sie mit anderen Aktivist:innen der Roten Kapelle zum Gericht transportiert wird. „Heinrich, kannst Du mich einmal umarmen?“, fragt sie da, um einen Moment zur Ruhe zu kommen, bevor sie wegen Hochverrat zum Tode verurteilt wird.
Mit Andreas Dresen hat sich einer der erfolgreichsten deutschen Regisseure der Geschichte von Hilde Coppi gewidmet. Sein neuer, im Wettbewerb der Berlinale vorgestellter Film „In Liebe, Eure Hilde“ erzählt von einer leisen und aufgeweckten jungen Frau, die in schwierigen Zeiten Haltung bewahrt und Widerstand geleistet hat. Sein Film ist keine Heldenerzählung, ganz im Gegenteil. Dresen bleibt wie so oft ganz nah bei dem Menschen, der hinter der Ikone oft in Vergessenheit gerät.
Die unauffällige Hilde lernt Hans Coppi (Johannes Hegemann) Anfang der 40er Jahre kennen, als ihr Partner Franz eingezogen wird. Sie hilft beim Druck von Flugblättern und schmuggelt ein Funkgerät zu Hans. Beim gemeinsamen Studium des Morse-Alphabets kommen sie sich näher. Als die Gestapo die Widerstandszelle um die Coppis auffliegen lässt, ist Hilde schwanger. Ihr Hänschen bringt sie im Knast zur Welt. Nach ihrer Hinrichtung kommt Hans Coppi jr. zu ihrer Mutter. In Dresens Film gehören ihm die letzten Worte.
Gespielt wird Hilde Coppi von Grimme-Preisträgerin Liv Lisa Fries, die in der Serie „Babylon Berlin“ die gewitzte Polizeiassistentin Charlotte Ritter spielt. Während ihre Figur dort alles andere als auf den Mund gefallen ist, ist Hilde Coppi als stille, fast in sich gekehrte Figur angelegt, die ihre Kraft aus der Fürsorge für ihren Sohn zieht. Die Erfahrung der Zuwendung gibt ihr ein Durchhaltevermögen, das den anderen Widerstandskämpfer:innen fehlt. Auf dem Weg ins Gericht kompensiert sie die Nähe zu ihrem Kind in Heinrichs Umarmung.
Die Rote Kapelle wurde zu DDR-Zeiten als Widerstandszelle überzeichnet, die echten Geschichten kennen die wenigsten. Dresen und seine Drehbuchautorin Laila Stieler, die auch bei dem 2022 mit zwei Silbernen Bären ausgezeichneten Drama „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ zusammengearbeitet haben, kennen das aus dem Effeff. Im Bildungssystem der DDR groß geworden, haben sie die Überhöhung des antifaschistischen Widerstands selbst erlebt.
In ihrem leisen, empfindsamen und lebensbejahenden Film, schieben sie diese und andere vorgefertigten Bilder des politischen Aktivismus bewusst zur Seite. Sie konzentrieren sich auf die Menschen, die hinter dem Widerstand stecken. Die Figuren der Roten Kapelle sind bei Dresen keine heroischen Aktivisten, sondern junge Menschen mit Idealen, die das Leben und die Liebe genießen. Sie gehen baden, essen Eis und tanzen durch die Nacht. Und sie spüren, dass ihre Freiheit auf dem Spiel steht. Aus diesem Gefühl heraus entwickelt sich ihr Widerstand.
„Man sagt immer, die Berlinale ist ein politisches Festival. Wir müssen langsam aufpassen, dass es nicht ein Festival der Politik wird“
„In Liebe, Eure Hilde“ wäre ein guter Film gewesen, um der Debatte um die Einladung von Parteipolitiker:innen den Nährboden zu nehmen. Unabhängig vom Parteibuch können in diesem Film alle etwas über Haltung und Anstand in schwierigen Zeiten lernen. Schaden würde das Niemandem, wenngleich „Menschen aus einer bestimmten Partei dabei besonders viel lernen können“, so Dresen. Zugleich wies er vor der Premiere darauf hin, den Bogen der Kunst nicht zu überspannen. „Man sagt immer, die Berlinale ist ein politisches Festival. Wir müssen langsam aufpassen, dass es nicht ein Festival der Politik wird.“
Wer auf die große Widerstandserzählung hofft, wird wohl enttäuscht aus diesem Film gehen. Dresen rollt weder die typische Nazitapete aus, noch lässt er seine Figuren die erwartbaren Parolen herunterbeten. Stattdessen konzentriert er sich auf die Zwischentöne und Ambivalenzen. Sie verleihen diesem Film in der Gegenwart Gewicht. Nicht nur, weil in den hitzigen Debatten dieser Tage die stillen Töne ungehört verhallen, sondern weil er zeigt, dass es für Widerstand keine Held:innenmut braucht. Die Sehnsucht nach einer Umarmung kann schon ausreichen.
Überhaupt spielt das Körperliche auf der diesjährigen Berlinale eine große Rolle. Von körperlicher Züchtigung („Small Things Like These“) über Schwangerschaftsabbrüche („La Corinna“), Krankheit und Entstellung („A Different Man“) bis hin zur Liebe im Alter („My Favourite Cake“) hielt der Wettbewerb eine breite Palette von dem bereit, was als „Body Politics“ gilt.
Olivier Assayas sperrige Covid-Komödie „Hors du Temps“ und Piero Messinas Afterlife-Dystopie „Another End“ erweitern im Wettbewerb den Themenkomplex. In Assayas Kammerspiel ziehen sich zwei Brüder aus dem Kulturbetrieb während des ersten Corona-Lockdowns mit ihren Freundinnen auf dem elterlichen Bauernhof zurück. Während der Filmemacher Etienne alle mit seiner Panik vor einer Ansteckung verrückt macht, fällt dem Musikjournalist Paul mit jedem weiteren Tag in Isolation die Decke ein wenig mehr auf den Kopf. In den Dialogen klingen noch einmal alle skurrilen Nebengeräusche der Pandemie an, wobei der Körper sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt der Bedrohung wird.
Assayas bildet in „Hors du Temps“ die Absurdität des Stillstands ab und zeigt, wie das Leben, die Existenz und die Zeit gerade in der Bewegungslosigkeit aus dem Gleichgewicht geraten. Die Ruhe, die vom Herunterfahren des Lebens ausgeht, schlägt bald schon im in eine Unruhe um, hinter der sich der Druck, am Leben teilzunehmen, verbirgt. Fast zwei Stunden sieht man dem ereignislosen Verstreichen der Zeit zu, was in seiner Konsequenz fast geniale Züge hat, aber nur schwer auszuhalten ist.
Schwer auszuhalten ist auch der Verlust leibgewonnener Menschen. Wer möchte in solchen Momenten nicht noch ein letztes Mal seine:n Liebste:n umarmen? Wer sehnt sich nicht danach, noch einmal das Wort an sie zu richten oder den Duft einzuatmen, der von ihrem Nacken ausgeht? Diese Sehnsucht macht sich in der Dystopie „Another End“ von Piero Messina ein Konzern zu nutze. „Another End“ verspricht, dieses letzte Mal zu ermöglichen und den Abschiedsschmerz zu lindern. Sal lässt sich auf dieses Experiment ein, um den plötzlichen Verlust seiner Partnerin Zoe zu überwinden. Dafür wird ihr auf einem Chip gespeichertes Gedächtnis auf einen Stellvertreterkörper geladen, der das alte Leben noch einmal für ein paar Tage als Simulation aufleben lässt. Dass dies die Knoten in der Brust nicht löst, sondern die Trauer nur verlängert, überrascht nicht.
Das mit Gael García Bernal, Renate Reinsve und Bérénice Bejo hochkarätig besetzte Sci-Fi-Drama wirft ein paar medizinethische Fragen auf, ohne Antworten darauf zu finden. Nun ist das nicht die ureigenste Aufgabe des Kinos, aber erzählerisch sollten Filme zumindest konsequent sein. Warum die Simulation einer Seele allerdings einfacher sein soll als die Simulation eines Körpers, ist mit den aktuellen Entwicklungen von KI jedoch nicht zu erklären. Aus diesem Dilemma kommt der Film des Italieners leider nicht, auch wenn er mit einigen überraschenden Wendungen zumindest zu unterhalten weiß.
Im Vergleich zu „Another End“ ist Bruce LaBruce’ queer-pornografische Aktualisierung von Pier Paolo Passolinis Kritik des Bürgerlichen geradezu realistisch. Sein Film „The Visitor“ ist das provokante Porträt einer bourgeoisen Familie, deren selbstgerechte Dekadenz von einem schwarzen Adonis in Asche und Staub gevögelt wird. Während dieser Besucher aus der Ferne anfangs aus einem angeschwemmten Koffer steigt, erklingt aus dem Off ein rechtspopulistischer Monolog von Fremden, die das Land überschwemmen und die brave Kleinfamilie zerstören.
Der kanadische Filmemacher nimmt diese faschistischen Fantasien und lässt sie im Raum der Kunst auf unerwartete Weise Wirklichkeit werden. Zu harten Beats setzt der fremde Schönling eine sexuelle Revolution in Gang, in deren Verlauf die bürgerliche Kleinfamilie nach allen Regeln der Kunst rangenommen wird. Parolen wie „Eat the rich!“ oder „Colonize the colonizer!“ werden radikal überschrieben. So schafft Bruce LaBruce die explizite Alternative einer bürgerlichen Gesellschaft, die in einer „new sexual world order“ eine ganz andere Form der Body Politics zelebriert.