Berlinale, Tag 10: Erneut erhält eine Dokumentation den Goldenen Bären

Silberne Bären gehen an deutschsprachige Produktionen, der Favorit auf den Goldenen Bären geht leer aus.

Der eindrucksvolle Dokumentarfilm „Dahomey“ von Mati Diop ist der beste Film der Berlinale. Die Jury um Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o vergab am Abend den Goldenen Bären an den französisch-senegalesischen Film, der die Rückgabe von entführten Kunstschätzen an den Benin begleitet. Dabei erzählt nicht nur eine Statue des Königs von Dahomey von ihrer leidvollen Geschichte, der Film thematisiert auch die Debatten im Benin zum Umgang mit den zurückgegebenen Raubkunstwerken. Diops einstündiger Film bringt die globalen Kontroversen um den Umgang mit dem kolonialen Erbe auf den Punkt und zeigt die Dringlichkeit einer nachhaltigen Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen. „Eine spannende Auseinandersetzung mit Fragen von kultureller Identität und Restitution“, wie es in unserer Kritik heißt .

Die französische Regisseurin sprach am Abend in Berlin über die Notwendigkeit der einst kolonialisierten Gemeinschaften, endlich die eigenen Wurzeln in der Geschichte treiben zu können. Entweder könne die Menschheit die koloniale Vergangenheit als Last los werden, zitierte sie den antikolonialen Vorkämpfer Aimé Césaire, oder die Verantwortung dafür übernehmen und vorankommen.

Die Entscheidung der Jury ist durchaus überraschend, wenngleich „Dahomey“ von Anfang an gute Chancen für einen Bären eingeräumt wurden. Filmkritiker:innen hatten aber eher mit einer Auszeichnung mit dem Silbernen Bären Preis der Jury oder Großer Preis der Jury gerechnet. Als großer Favorit für den Goldenen Bären galt der iranische Film „My Favourite Cake“. Der ging bei der Preisverleihung zur allgemeinen Verwunderung komplett leer aus, die internationale Filmpresse bedachte ihn immerhin mit dem Fipresci-Preis. Bereits im Vorjahr wurde ein Dokumentarfilm als bester Film ausgezeichnet, der Franzose Nicolas Philibert gewann 2023 mit seinem Film „Auf der Adamant“.

Der Silberne Bär Großer Preis der Jury ging an Hong Sangsoo und seinen Film „A Traveller’s Needs“. Es ist bereits die vierte Auszeichnung des koreanischen Filmemachers in Berlin. In seinem Film spielt Isabelle Huppert eine private Französischlehrerin, die mit ihren unkonventionellen Methoden und dem koreanischen Biergetränk Makgeolli die koreanische Höflichkeit unterläuft. Sangsoo setzt hier seinen Weg in den cineastischen Minimalismus konsequent fort  und rätselte auf der Bühne selbst über die erneute Ehrung. „Ich weiß nicht, was Sie in dem Film sehen, aber ich bin neugierig, das zu erfahren“, sagte er in Richtung der Jury.

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Der Preis der Jury geht an den französischen Film „L’Empire“ von Bruno Dumont. Dessen Persiflage auf Space Opera und Provinzposse ist ein schräger und unterhaltsamer Ritt, der die traditionelle Geschichte des Kampfes von Gut gegen Böse erzählt. „Als hätte sich George Lucas an einem bierseligen Abend mit der Truppe von Monty Python’s Flying Circus zusammengetan, um einen Arthouse-Noir in der Provinz zu drehen“, schrieben wir nach der Uraufführung des Films. Aufgrund seiner schlechten Englisch-Kenntnisse holte Dumont bei der Verleihung sein Handy heraus und spielte Audiobotschaften ab, in denen er wissen ließ, dass ein Kinofilm weder Geschlecht noch Hautfarbe habe, sondern etwas zutiefst Kinematographisches und Menschliches sei. Ein Auftritt so konsequent schräg wie sein Film.

Dass sich die Jury für ungewöhnliche Erzählformen erwärmen konnte, zeigt sich auch in der Auszeichnung des dominikanischen Filmemachers Nelson Carlos De Los Santos Arias mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie. In seinem Film verschiebt der dominikanische Regisseur den magischen Realismus seines Kinos in die Welt von David Lynch und lässt ein nach Südamerika entführtes Nilpferd sprechen. Diese Kommentierung geraubter Wesen aus dem Off verbindet den Film mit dem Gewinner des Goldenen Bären „Dahomey“. Der Film ist ein Meisterwerk der Imagination, „ein grandioser Brainfuck mit Anspielungen auf George Orwell, die Idiotie der Politik und deutlicher Kritik am Kolonialismus“.

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Als Bester Hauptdarsteller wurde der rumänisch-amerikanische Schauspieler Sebastian Stan für seine Rolle in Aaron Schimbergs Drama A Different Man“ ausgezeichnet. Eine durchaus strittige Entscheidung, dominierten doch die Frauen den Wettbewerb der 74. Berlinale. Stan spielt einen entstellten Schauspieler, der einen radikalen Eingriff vornehmen lässt und ein neues Leben beginnt. Als sein altes Leben auf die Bühne kommt und ein anderer in seine Rolle springt, hadert seine Figur mit seinen getroffenen Entscheidungen.

Emily Watson erhält für ihre Rolle im Eröffnungsfilm „Small Things Like These“ den Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle. In dem Film spielt sie die gestrenge Schwester Mary, die eine ganze Stadt mit ihrer autoritären Miene zum Schweigen bringt. Die britische Schauspielerin widmete den Preis den jungen Frauen, deren Leben in religiösen Besserungsanstalten zerstört wurde.

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko verlieh den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch an den deutschen Regisseur Matthias Glasner und dessen Script für das Drama „Sterben“. Der Film, der die Dysfunktionalität einer Familie in allen Details vor Augen führt, zeige die „Wurzeln jeder Zerstörung“, denn er demonstriere, dass es „zu wenig Liebe und Empathie auf der Welt gibt“, sagte Sabuschko. Der wie ein klassisches Drama in fünf Akten erzählte Episodenfilm funktioniert wie ein Orchesterstück, ist ein ständiges Anschwellen und Abklingen. Einatmen. Ausatmen. „Laut und leise, Höhen und Tiefen, Lachen und Weinen, Leben und Tod – all das steht hier nebeneinander, ohne sich gegenseitig die Kraft zu nehmen“, heißt es in unserer Filmkritik. Glasner betonte, dass er sich und sein Herz für den Film so sehr geöffnet habe wie nie zuvor. Diese Liebe komme nun zurück.

Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld in „Sterben“

Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung ging an den Kameramann Martin Gschlacht für seine Fotografie in dem österreichischen Genrefilm „Des Teufels Bad“. Der ausgezeichnete Kameramann war so überrascht von der Auszeichnung, dass ihm fast die Sprache wegblieb. Er teilte den Preis mit Anja Plaschg, die die Hauptrolle in dem historischen Drama spielt, sowie mit den beiden Regisseurinnen Veronika Franz und Severin Fiala. In unserer Kritik heißt es zu Gschlachts Leistung: „Martin Gschlacht tastet mit seiner Kamera die dunkeln Landschaften nach Bildern ab, die das Innenleben der Hauptfigur spiegeln. Umgedrehte Kreuze, offene Fischmäuler und apokalyptisch flackernde Flammen wirken wir ein Winken aus der Hölle. Der silber glänzende Karpfenteich wird zum Morast, in dessen Dunkel es Agnes zieht. Gschlachts Ästhetik schließt an die Bilderwelten eines Hieronymus Bosch an, ohne sie wirklich zu zitieren. Diese intuitive und lichtempfindliche Handhabung der Fotografie kombiniert der Film mit Horror und Suspense, ohne dabei ins Gruseligere zu rutschen.“

Im Nebenwettbewerb Encounters wurden vier statt drei Preise vergeben. Der Spezialpreis der Encounters-Jury ging an zwei Filme. Ausgezeichnet wurden der iranische Film „The Great Yawn Of History“ von Aliyar Rasti, der von der Suche nach eine Kiste mit goldenen Münzen und einer spirituellen Reise handelt, sowie der chinesische Film „Some Rain Must Fall“ von Qiu Yang, über die Identitätskrise einer 45-jährigen Chinesin. Die brasilianische Filmemacherin Juliana Rojas erhält für ihre „furchtlose Regiearbeit“ in „Cidade; Campo“ den Encounters-Preis für die Beste Regie. Der Preis für den Besten Film im Nebenwettbewerb der Berlinale geht an Ben Russell und Guillaume Cailleau für ihren Dokumentarfilm „Direct Action“. In dem fast vierstündigen Film porträtieren sie eine Gruppe französischer Umweltaktivist:innen und ihre Strategien des Protests.

„Direct Action“ erhielt auch eine lobende Erwähnung im Wettbewerb für den Besten Dokumentarfilm der Berlinale. Der ging überraschend nicht an den Gewinner des Goldenen Bären, sondern an den Film „No Other Land“, in dem ein palästinensisch-israelisches Kollektiv die Auslöschung eines Dorfes im Westjordanland dokumentiert. Der Film zeigt das gemeinsame Vorgehen von Armee und bewaffneten Siedlern im Auftrag der israelischen Regierung. Bereits nach seiner Uraufführung kam es zu hitzigen Debatten, einzelne Zuschauer:innen riefen Parolen wie „Free Palestine“, andere, die Frieden für Israel und Palästina forderten, wurden niedergeschrien. Die Filmemacher:innen hatten im Gegensatz zur Festivalleitung Israel auch als Apartheidstaat bezeichnet und einen Waffenstillstand in Gaza gefordert. Beides wiederholten sie auch bei der Preisverleihung.

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Jurymitglied Thomas Heise sagte bei der Preisvergabe, dass ein Dokumentarfilm präzise Zeugnis ablegen müsse. Genau dies tue der Film von Basel Adra, Hamda Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor, die den „Horror der illegalen israelischen Besetzung des Westjordanlandes“ jahrelang mit einer kleinen Kamera festgehalten haben. Dieser Film stehe über der Kritik, erklärte Heise unter viel Applaus, „möge sich die Welt nicht von ihm abwenden.“

Die Preisverleihung wurde von vielen politischen Statements begleitet, der Nahostkonflikt stand am zweiten Jahrestag des Kriegsausbruch in der Ukraine im Vordergrund. Zahlreiche Preisträger:innen sprachen sich für einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza aus und forderten politische Lösungen, ohne diese genau zu definieren.

Die 74. Berliner Filmfestspiele enden morgen mit dem Publikumstag. Es ist die letzte Berlinale von Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek, die 2020 als Duo die Amtsgeschäfte von Dieter Kosslick übernommen haben. Unter schwierigen Bedingungen haben sie die Berlinale durch die Pandemie und die Krisen geführt, die inhaltliche Stärkung und Profilierung der Berliner Filmfestspiele als A-Festival ist ihnen nicht wirklich gelungen. Zwischen Cannes, Venedig und Berlin liegen nach wie vor Welten. Die Amerikanerin Tricia Tuttle übernimmt im April die Leitung des Festivals.

Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator
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