Berlinale, Tag 1: „Small Things Like These“ ist ein Rohrkrepierer
Mit „Small things like these“ startet die Berlinale. Es sollte nicht allzu schwer fallen, im kommenden Jahr einen besseren Eröffnungsfilm zu präsentieren.
Bill Furlong ist ein Malocher, einer der anpackt und nicht locker lässt, um seiner Frau und seinen fünf Töchtern ein besseres Leben zu ermöglichen. In dem irischen Städtchen New Ross betreibt er einen eigenen Kohlenhandel, im gelben Lastwagen liefert er säckeweise Brennstoff aus. Wenn er nach einem Arbeitstag nach Hause kommt, schrubbt sich der stille Bill den Staub des Tages von den Händen, bevor er sich an den Tisch setzt und von seinen Mädchen in Beschlag genommen wird.
Bill ist ein sanfter Typ, ganz anders als man sich einen irischen Arbeiter vorstellt. Wenn er ins Pub geht, dann nicht, um sich zu betrinken, sondern um seinen Mitarbeitern einen auszugeben. Er schaut hin, wo andere betreten den Blick senken, kann an der grassierenden Armut im Irland der achtziger Jahre nicht einfach vorbeisehen.
Es ist kurz vor Weihnachten im Jahr 1985 und Bill hat alle Hände voll zu tun. Alle wollen warme Stuben, Bills Tage sind lang. Als er das örtliche Kloster mit Kohle beliefert, wird er Zeuge einer verstörenden Szene. Er sieht, wie eine Mutter ihre kaum erwachsene Tochter gegen ihren Willen den Schwestern des Hauses übergibt. Den flehenden Blick der jungen Frau wird Bill nicht vergessen, er ist so etwas wie das auslösende Moment in Tim Mielants Drama „Small things like these“, das die 74. Berlinale eröffnet.
Die Vorlage für den Film hat die irische Schriftstellerin Claire Keegan geliefert, deren gleichnamiger Roman es 2022 auf die Shortlist des Booker Prize geschafft hatte. Er erzählt von den Enthüllungen rund um die Magdalenen-Wäschereien, jenen meist religiösen Besserungsanstalten, in denen tausende sogenannte „gefallene Frauen“ gefangen gehalten wurden. Ein Umstand, den die irische Gesellschaft wissend verschwiegen hat.
Furlong geht die junge Frau nicht aus dem Kopf. Sie könnte auch eine seiner Töchter sein, die nur wenige Meter neben dem Refugium die Klosterschule besuchen. Ihre Verzweiflung raubt ihm den Schlaf und weckt seine frühesten Erinnerungen. Bill ist ohne Vater aufgewachsen, seine alleinerziehende Mutter fand bei den Wilsons Aufnahme. Deren selbstlose Hilfsbereitschaft ist der Maßstab, an dem er sein eigenes Handeln ausrichtet.
Niemand geringeres als Mr. Oppenheimer alias Cillian Murphy spielt den in sich gekehrten Bill, der um seinen moralischen Kompass ringt, während alle anderen um ihn herum wegschauen. Dass der bei den diesjährigen Oscars favorisierte Ire wenige Wochen vor der Verleihung in Berlin die Filmfestspiele eröffnet, ist sicherlich ein gelungener Coup. Tatsächlich aber hält das in dunklen Tönen gedrehte Drama nur auf dem Roten Teppich ein, was ein Eröffnungsfilm für so ein Festival versprechen sollte.
„Der sprichwörtliche Funken, der bei so einem Auftakt von der Leinwand auf das Publikum überspringen sollte, erlischt im matschigen irischen Winter“
Die im Film verteilten Anspielungen auf Charles Dickens scheinen Leitmotiv für Mielants Inszenierung zu sein. Das ist im besten Fall klassisch, im schlimmsten konservativ. Auch erzählerisch kommt die Geschichte eher unspektakulär daher. Der Wechsel zwischen Gegenwart und Kindheitserinnerung hält wenig Überraschendes parat. Zudem findet Cillian Murphy über den verklärten Blick hinaus kaum Mittel, dem inneren Ringen seiner Figur Ausdruck zu verleihen. Seine Figur ist eher getrieben als entschlossen, eine Identifikation mit diesem Leisetreter fällt schwer. Einzig die Bilder von Kameramann Frank Van den Eeden, der unter anderem „Close“ und „Girl“ von Lukas Dhont ins Bild gesetzt hat, können etwas versöhnen.
Der Startschuss, den diese bedrückende Geschichte für die fünfte und letzte Berlinale von Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek darstellt, ist bedauerlicherweise ein Rohrkrepierer. Der sprichwörtliche Funken, der bei so einem Auftakt von der Leinwand auf das Publikum überspringen sollte, erlischt im matschigen irischen Winter. Der US-Amerikanerin Tricia Tuttle, die nach der 74. Berlinale die Leitung des Festivals übernimmt, sollte es nicht allzu schwer fallen, im kommenden Jahr einen besseren Eröffnungsfilm zu präsentieren.
Das Gute daran: Es kann nur besser werden. Insgesamt 20 Filme aus aller Welt konkurrieren in diesem Jahr um den Goldenen und die Silbernen Bären. Über die Vergabe der Bären entscheidet die Internationale Jury um Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o („12 Years a Slave“), in der auch der zweifache Bären-Gewinner Christian Petzold („Roter Himmel“, „Barbara“) mitwirkt. Neben den neuen Werken von internationalen Stars wie Hong Sangsoo, Bruno Dumont, Olivier Assayas oder Claire Burger werden im Wettbewerb auch drei deutschsprachige Filme gezeigt. Dabei handelt es sich um die Widerstandserzählung „In Liebe, eure Hilde“ von Andreas Dresen, das Familiendrama „Sterben“ von Matthias Glasner und den Genrefilm „Des Teufels Bad“ des österreichischen Filmduos Veronika Franz und Severin Fiala.
Der Goldene Ehrenbär geht in diesem Jahr an den Amerikaner Martin Scorsese. Auf dem Festival wird aus diesem Anlass seine schwarze Komödie „After Hours“ und der Mafia-Film „The Departed – Unter Feinden“ gezeigt. Die Retrospektive ist in diesem Jahr dem anderen deutschen Kino gewidmet und blickt mit Filmen wie „Chapeau Claque“ von Ulrich Schamoni, „Engel aus Eisen“ von Thomas Brasch, „Kismet, Kismet“ von Ismet Elçi oder „Unsichtbare Tage oder die Legende von den weißen Krokodilen“ von Eva Hiller in die Archive der Deutschen Kinemathek. Insgesamt werden bis zum 25. Februar in den Berliner Kinos 233 Filme aus 80 Ländern gezeigt.