Berlin 1983. Depeche Mode haben in der Metropole ihr Quartier aufgeschlagen und träumen davon, anonyme Popstars zu sein
Im Herbst 1982 wurden sie erstmals in Berlin vorstellig, die Buben aus Basildon. Frische Gesichter, offener Blick. David Gahan noch im Clinch mit den postpubertären Unreinheiten der Haut, Martin Gore pausbäckig, Andy Fletcher schüchtern, Alan Wilder forsch.
Interview in einer Billig-Pizzeria. Berlin sei absolut faszinierend, beteuern sie mit glänzenden Augen. Warum? Was für eine Frage! Hatte nicht David Bowie hier gelebt? Und dann das Nachtleben, man bedenke: keine Polizeistunde! Ein Hauch von Dekadenz liege über allem, ein Flair von Gefahr und eine allgegenwärtige Präsenz von Geschichte. Man muß wohl Basildon erlebt haben, jene Trabantenstadt vor den Toren Londons, die für die Bewohner der zerfallenden East-End-Slums hochgezogen worden war, um den Enthusiasmus der gerade erst elterlicher Obhut entfleuchten Briten für Berlin nachvollziehen zu können.
Und anderntags dann in den Osten. Grenzkontrollen, Zwangsumtausch, dumpfe Uniformität, das ganze gruselige Grau. Eine Terrine Kartoffelsuppe mit Brot und Limo für genau 37 Pfennige. Gesprächsstoff für fast ein Jahr.
Im Sommer 1983 schlugen Depeche Mode ihre Zelte in der Mauerstadt für länger auf. Die Hansa-Studios wurden zum Hauptquartier erkoren, einmal ihres 56-Track-Luxus wegen, denn es galt, das dritte Album titels „Construction Time Again“ abzumischen. Zum anderen: Hatte nicht Bowie hier aufgenommen?
Mute-Supremo Daniel Miller, ein gutmütiger Brummbär, ließ seine Jungs an der langen Leine laufen. Und das nicht nur als Produzent im Studio. Bei Mute Records kannte man keine Verträge. Kontrolle sei gut, Vertrauen sei besser. Miller ahnte es damals noch nicht, doch trug diese Umkehrung des Leninschen Führungsprinzips nicht unwesentlich dazu bei, daß ihm die meisten seiner Künstler über Jahre die Treue hielten. „Sicher bekommen wir jede Menge lukrativer Angebote anderer Labels“, räumte Gahan damals schon ein, „aber Mute ist unsere Familie, und Zaster haben wir genug.“
Die Pausengespräche unten im Restaurant drehten sich um Politik, Religion und andere Schlechtigkeiten dieser Welt. Er sei nicht mehr derselbe Mensch wie noch ein Jahr zuvor, erklärte Martin Gore ohne Koketterie. „Vieles von dem, was mich früher völlig kalt ließ – soziale Ungerechtigkeit etwa -, beschäftigt mich heute Tag und Nacht. Ich schäme mich ein bißchen dafür, daß ich immer glaubte, das Leben sei eine Art Spiel, bei dem es nur darum geht, sich durchzumogeln. Ein blödsinniger Kinderglaube. Eine Menge stimmt nicht – das ist mir schlagartig klargeworden, und das versuche ich in meinen Songs auszudrücken.“ Die Runde nickt. Kleine Erkenntnisse für die Menschheit, entscheidende für die vier angry young men.
Während Miller dem Besucher von den Vorzügen des Profit-Sharing vorschwärmt und draußen vor dem Eingang ganze Trauben aufgeregter Gören die Koethenerstraße blockieren und gelegentlich ein gellendes „David!“ oder „We love you!“ hören lassen, scheinen Depeche Mode von all dem Drumherum völlig unbeeindruckt. Die Ernsthaftigkeit ihrer musikalischen Mühen war wohl bereits damals über jeden Zweifel erhaben, doch entbehrte die Umsetzung bisweilen nicht einer unfreiwilligen Komik: David Gahan in Trance übers Mikro gebeugt wie ein Schlangenbeschwörer, die drei hinter ihren Tastengestellen wippend. Sie mutete seltsam an, die schöne neue Synth-Welt. Und dabei waren Depeche Mode und ihre Songs der Konkurrenz um Lichtjahre voraus. Nie zuvor hatte es im Pop eine Epoche gegeben, die ähnlich viel Mittelmaß hochgeschwemmt hatte: Thompson Twins! Kajagoogoo! Haysi fuckin‘ Fantayzee. Oder, lachhafter noch, die Avantgarde des anämischen Treibens, DAF etwa, ein Tastenquengler und ein Hampelmann. Tanzten den Mussolini „Kill ugly pop!“ hieß die Gegenbewegung, und man wäre ihr gerne beigetreten, hätte man sich damit nicht mit AC/DC-Armleuchtern und Kiss-Kotzbrocken gemein gemacht.
Depeche Mode schwebten über diesen Niederungen, melodisch und songtechnisch sowieso. Und so was von umgänglich! Die netten Jungs von nebenan. Sonntags ging es raus nach Dahlem zum Kicken. Wirklich gute Fußballer. Besonders Martin: quirlig, ballsicher, ein bißchen eigensinnig vielleicht Wie Paul Scholes heute. Hat Spaß gemacht.
Nach dem Spiel, in irgendeinem Straßencafe, wenn die Fans um Autogramme und ein Lächeln anstanden, seufzten sie aus tiefstem Herzen, die Jung-Stars wider Willen. „Wir wären lieber eine völlig gesichtslose Band“, meinte David Gahan dann, „so anonym wie Pink Floyd.“ Hat nicht sollen sein.