Benjamin von Stuckrad-Barre: Nach dem Rummel – wie gut ist sein neues Buch?
„Noch wach?“, der neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre, sorgte schon im Vorfeld für enormen Medienrummel. Es geht um Macht und Machtmissbrauch, um Freundschaft und Verrat, um Selbstachtung und Verachtung. Wie gut ist das Buch eigentlich?
Wer war vor Benjamin von Stuckrad-Barre der letzte Schriftsteller auf dem Cover des „Spiegel“? Salman Rushdie? Stuckrad-Barres neuer Roman hat ihn weit gebracht, vielleicht sogar die Literatur – sicher aber die Literatur-Vermarktung: Keine Rezensionsexemplare vorab, wie sonst nur bei neuen Platten von Beyoncé oder Rammstein. Okay, „Zeit“, „Spiegel“, „FAZ“ und „Süddeutsche Zeitung“ bekamen das Buch natürlich dennoch vor allen anderen, damit die Leitmedien-Rezensionen pünktlich zur Premiere online standen. Weil, in drei Wochen interessiert das ja keinen mehr.
Echt jetzt? Denke: doch. „Noch wach?“ erzählt eine Geschichte von Größenwahn, Männerbünden und Machtmissbrauch, die Gültigkeit über den Rummel hinaus hat. Es ist die Geschichte der Freundschaft zweier Männer, dem Ich-Erzähler und dem Chef eines Fernsehsenders, die an zwei Ereignissen zerbricht, an zwei Menschen, die diese innige Beziehung stören. Da ist zum einen der neue Chefredakteur des Senders, ein breitbeiniger Ultra, der seine Macht genießt und missbraucht, der junge Mitarbeiterinnen belästigt und demütigt. Und zum anderen eine der jungen Mitarbeiterinnen, die sich dem Erzähler anvertraut. Sie heißt Sophia. Die drei Männer bleiben namenlos.
„Wenn sie sich dir anvertrauen, sei kein Arschloch“
Die ersten vier Kapitel sind Bombe. Der Roman beginnt mit der Erzählung einer Frau in Du-Form, wie das ist, wenn dich dein Chef anbaggert und einseift, wenn du dich aber nicht missbraucht, sondern gesehen fühlst durch Sprüche auf mittlerem „Bachelor“-Niveau. Das ist großartig protokolliert und macht frösteln, als hätten sich Eiskristalle auf dem Süßholz gebildet. In scharfem Kontrast dann der Ortswechsel vom Du zum Ich, von Berlin nach Los Angeles. Das gatsbyhafte Imlebenherumtreiben der Gäste des Promihotels Chateau Marmont (of „Panikherz“-Fame), wo Freunde Brandon heißen und aus sinnfreiem Überdruss Schreibmaschinen in den Swimming-Pool werfen oder für den Erhalt einer Gucci-Werbetafel kämpfen, hat einen sonnendurchfluteten Flow, bis eine Spielverderberin auftaucht. Denn unter dem Zitronenbaum im Garten des Paradieses liegt auch die Schauspielerin Rose McGowan, die sich die Haare kurz geschoren hat und als „anstrengend“ gilt und die den Weinstein-Fall und #MeToo ins Rollen bringen wird. Sie initiiert den Ich-Erzähler mittels einer in eine Monica-Lewinsky-Biografie hineingekritzelten Botschaft: „Wenn sie sich dir anvertrauen, sei kein Arschloch“.
Hollywood Babylon wird fallen, Berlin Babylon wartet darauf. Also Cut in den Rohneubau eines deutschen TV-Senders, der wie ein betongewordenes Silicon-Valley-Heilsversprechen aussieht. Baustellenbegehung mit dem Senderchef, dem engen Freund des Ich-Erzählers, der hier nur Bahnhof versteht, beziehungsweise „New York“ statt „New Work“, wie die künftigen äußeren Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter (ohne Schreibtische, aber mit Duschen auf dem Dach) von der „Feelgood-Managerin“ betitelt werden. Im Kapitel zuvor waren die Sender-Großkopferten tatsächlich in Sportwagen und SUVs durch Kalifornien zu einem Workshop gebraust, ein Dutzend Führungskräfte im Silicon Valley, ratlos. Nun bekommt die Zukunft Buzzwords: Transformativ, verdichtet, inklusiv; und von außen dringen die LED-Schlagzeilen der sendereigenen Nachrichtenshow durch das lichtdurchflutete Atrium: „Jetzt wird’s immer schmutziger!“
Stuckrads exakten Blick und Sprachgenauigkeit kennen wir aus all seinen Arbeiten, sie lassen die grotesken Szenen echter als die Wirklichkeit erscheinen; er malt ein hysterisches Sittengemälde, wie es kein anderer so hätte malen können.
Außerdem hat er Humor wie ein Rasiermesser.
Was sich auf den ersten Seiten abzeichnet und dann Kern der Erzählung wird, ist die Liebesgeschichte zwischen dem Romanhelden und dem Senderchef: eine Männerfreundschaft, die durch einen Nebenbuhler, den wie ein Megaschurke aus dem Marvel-Universum auftretenden Chefredakteur des Senders, torpediert wird – die totale Gegenfigur zu dem kunstsinnigen und zu soulfulem EDM durch Hotelzimmer tanzenden TV-Chef. Stuckrad-Barre beschreibt den Freund des Ich-Erzählers mit kaltem Blick, die ambivalente Beziehung der beiden in präzisen Dialogen. Doch die Natur dieser Freundschaft bleibt rätselhaft. Was finden sie aneinander , woher die Intensität? Zunächst schwärmerische Zuneigung, dann tsunamiartiger Zorn, und immer Exzentrik, Größenwahn, etwas Blasiertheit, oft zarte Innigkeit. Ein Wiedersehen der Freunde, heimlich, mitten im Kampfgeschehen, endet in Tränen: „Ich versank in seinem Jackett, weinte Creme auf sein Hemd.“
In rasantem Tempo zerbricht diese Freundschaft, wird der namenlose Ich-Erzähler vom Dandy zum Moralisten, eine „Fehlbesetzung“, wie er selbst glaubt, zum Streiter für die missbrauchten Opfer seines stumpfen Nebenbuhlers. Drei Männer approaching High Noon. Und ein Dutzend Frauen, die in einer grandiosen Szene mit dem unfreiwilligen Helden des Romans in einer Videokonferenz zusammengeschaltet werden und ihre Geschichten erzählen, die der unablässig mitschreibt. Sie berichten von Anmache per SMS in der Nacht, davon, wie sie umschmeichelt, hofiert, befördert und fallen gelassen wurden. Sophia ist eine von ihnen und die eigentliche Heldin des Romans, die Sex mit dem Chef hatte und abserviert wurde. Die ambivalent handelt, die den Missbraucher bestraft sehen will, aber in einer Art umgekehrten Machtdemonstration noch einmal Sex mit ihm hat. Die Angst, Scham, Ekel durchlebt und zur Kämpferin wird. Wie Stuckrad-Barre ihren Sound, ihre Sprache trifft, ist meisterlich.
Diese Geschichte kennt keine Gewinner
Lakonie und Komik verflüchtigen sich, je mehr sich die Geschichte zuspitzt. Alles muss gesagt werden: eine epische Wutrede auf den großkotzigen Chefredakteur, auf dessen Weltbild und die Mechanismen des Missbrauchs, eine penible und fast grishamhafte Justizkrimikonstellation, in der sich die Hauptfigur und ihr baldiger Ex-Freund immer unversöhnlicher gegenüberstehen, während sich immer mehr Opfer offenbaren. Aber (Achtung, Spoiler!) kein Happy End. Sondern (Achtung, Spoiler!) das Versagen des Helden, als der Machtmissbrauch schließlich in sein kalifornisches Paradies schwappt. Diese Geschichte kennt keine Gewinner.
„Ich schäme mich einfach. Für … keine Ahnung, für mich, für alle Männer, ich weiß es nicht“, sagt Stuckrads Ich-Erzähler an einer Stelle.
Kann man sich an die realen Figuren Stuckrad-Barre, Döpfner, Reichelt erinnert fühlen? Klar. Doch Stuckrads Buch kann mehr.
Am Ende steht die Reprise der Anfangs-Lyrics: Sei kein Arschloch. As simple as that.
Transparenzhinweis: Benjamin von Stuckrad-Barre war Redakteur und Autor des Rolling Stone.