„Beatles ’64“ auf Disney+: Die Armee, die es niemals gab
„Beatles ’64“ zeigt die friedlichste, klügste und humorvollste Invasion der Weltgeschichte.
Es sind nicht die berühmten Bilder vom 7. Februar 1964, als die Beatles vor Scharen schreiender und kreischender Fans auf dem New Yorker Flughafen landeten, mit denen David Tedeschis von Martin Scorsese produzierte Disney+-Dokumentation „Beatles ’64“ beginnt.
Es ist die Stimme von John F. Kennedy. Wir hören seine Civil Rights Message vom 11. Juni 1963: „Hundert Jahre sind vergangen, seit Präsident Lincoln die Sklaven befreite, doch ihre Erben, ihre Enkel, sind nicht völlig frei. Sie sind noch nicht von den Fesseln der Ungerechtigkeit befreit. Sie sind noch nicht von sozialer und wirtschaftlicher Unterdrückung befreit. Und diese Nation wird trotz all ihrer Hoffnungen und Prahlereien erst dann völlig frei sein, wenn alle ihre Bürger frei sind.“
„Close your eyes and I’ll kiss you“
Es folgt ein Auszug aus Kennedys Moon Speech ein Jahr zuvor, es sind Worte des Aufbruchs und der Hoffnung auf eine strahlende Zukunft. Wir sehen Farbbilder von einem die Hände begeisterter Bürger:innen schüttelnden Präsidenten, wir hören einen Herzschlag, der mit einem dumpfen Knall und einem Schwarzbild endet. Und zu den Bildern weinender Menschen bei der Kennedy-Beerdigung hören wie eine elegische Version eines am Tag des Attentats in Großbritannien erschienenen Songs: „Close your eyes and I’ll kiss you“, singt die südkoreanische Sängerin Elaine Kim sanft. „Tomorrow I’ll miss you. remember I’ll always be true.“
Dann sehen wir, wie der Idlewild-Flughafen in New York City in John F. Kennedy International Airport umbenannt wird. Und schließlich – endlich! – George Harrison, Paul McCartney, Ringo Starr und John Lennon an Bord des der Pan Am Flight 101, der selbigen ansteuert. Fasziniert schauen sie sich das Equipment der Dokumentarfilmer-Brüder Albert und David Maysles an, die sie auf diesem Trip begleiten. Der Spaß kann beginnen – oder besser: die Befreiung.
Denn „Beatles ’64“ zeigt, wie die Fab Four mit ihrem Witz, ihrer Energie und ihren Songs gemäß der Kennedy’schen Zukunftsvisionen verwandelten. Der Autor John Queenan erzählt unter Tränen, wie er im dunklen Dezember 1963 zum ersten Mal die Beatles im Radio hörte. Ein Licht sei angegangen, aus dem Nichts. Die Beatles befreiten ein Land aus der Schockstarre, eine Jugend aus der Hoffnungslosigkeit und einem archaischen, von Kriegen und harter Arbeit geprägten Männlichkeitsbild.
Die Autorin Jane Tompkins erklärt, sie habe Elvis Presley nie verstanden, die Beatles hätten die männlich/weiblich-Differenz aufgehoben, seien inklusiv gewesen. Smokey erzählt, Lennon, McCartney, Harrison und Starr seien die ersten weißen Musiker mit Strahlkraft gewesen, die ihm von ihrer Liebe zu Motown-Platten erzählt hätten.
Kultureller Wandel in der „elektrischen Ära“
Wir sehen, wie die Beatles bei Pressekonferenzen vor Fernsehkameras, auf Partys und Bühnen eine Nation in ihren Bann ziehen. Tedeshi lässt das zeitgenössische Filmmaterial die Geschichte erzählen, schneidet Kommentare der Medien, die die Beatlemania mit einer kurz zuvor ausgebrochenen Masern-Epidemie vergleichen, gegen Statements des Medienphilosophen Marshall MacLuhan, der in den Beatles die Verkörperung der Gegenwart – „Artists are people who enjoy living in the present“ – und den Träger des kulturellen Wandel in der „elektrischen Ära“ sieht. Leonard Bernsteins Tochter Jamie erzählt, wie die ganze Familie vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher saß, um die Ed Sullivan Show zu schauen, David Lynch erinnert sich an seinen Besuch des ersten Beatles-Konzerts auf amerikanischem Boden in Washington, D.C.
In der US-Hauptstadt wurden die Beatles zu einem Cocktailempfang in die britische Botschaft eingeladen und von einigen vermeintlichen Kulturbürgern verhöhnt, die das Ansehen ihres Landes durch die vier wilden neuen Botschafter in Gefahr sahen, was George Harrison an den Rand der Tränen brachte. Paul McCartney erklärt 60 Jahre später, sie seien es als Arbeiterkinder gewohnt gewesen, von den „posh people“ geschnitten zu werden – „and you know what? We didn’t give a flying fuck. They were working in an embassy, we were on the road rockin’“.Die beste Deutung der alles verändernden British Invasion fand Tedeschi in einem Interview, das Lennon 1969 dem oben genanntem Marshall McLuhan gab. Das Aussetzen der Wehpflicht 1963 habe zu dieser großen Explosion der Kreativität und jugendlichen Energie geführt: „Wir wussten einfach, dass wir die Armee waren, die es nie gab. Wir waren die Generation, die leben durfte, und daraus entstand die Musik.“