Baustelle des Geistes
Internet-Recherche: Wohl dem, der darauf nicht angewiesen ist. Kaum ein Thema, zu dem nicht unvereinbare Darstellungen kursierten, kaum eine Erkenntnis, die nicht irgendwo auf den Kopf gestellt würde, aus unerfindlichen Gründen. Blogger, Spinner, Bauernfänger. „Im Netz tummeln sich eine Menge Schwachköpfe“, weiß Larry Sanger, einer der Gründer der Online-Enzyklopädie Wikipedia, „und sie sind leider auf einer Mission.“
Wikipedia ist eine gewaltige kollektive Anstrengung, ein partizipatorischer Akt von Medien-Philanthropie, die Summe ungezählter selbstloser Taten, die Speerspize einer hehren Bewegung, die sich nicht weniger zum Ziel gesetzt hat als die Demokratisierung des Wissens. Es weiß schließlich jeder etwas. Irgendetwas. Und ebendas, darauf gründet die Wiki-Philosophie, soll Gemeingut werden. Jeder darf seinen Beitrag leisten, gern auch Experten. Es sei sogar wünschenswert, sagt Jimmy Wales, der andere Wikipedia-Gründer, wenn auch solche Leute ihr Wissen einbrächten, das höherer Bildung entspringe. Umso verlässlicher sei schließlich das akkumulierte Wiki-Wissen, das dann wiederum Experten obsolet mache. Die Schwarm-Intelligenz der Drohnen erhebt sich über die Denkleistung hochgezüchteter Einzelhirne. Ein kommunistisches Manifest für die Wissensgesellschaft, entmaterialisiert gewissermaßen. Der Überbau stiftet das Klassenbewusstsein, welches das Sein bestimmt. Egalitär statt elitär! Irgendwie sympathischer als der prollige Materialismus von annodunnemals.
Und so mehren in diesem Geiste der Aufklärung von unten täglich tausende anonymer Heinzelmännchen (und -frauchen, so viel Zeit muss sein) unser aller Wissen, indem sie ihre Kenntnis-Aggregate einarbeiten ins große Ganze, die Aggregatzustände fremder Beiträge verändernd. Sie verbessern oder verfälschen, was freilich im Resultat keinen Unterschied macht, denn kaum recken irgendwo Fehler ihr hässliches Haupt, werden sie von fleißigen Helferlein flugs eliminiert. Wikipedia ist eine gigantische Baustelle des globalen Geistes, an der ein Heer von . Freiwilligen schuftet, unbezahlt und ohne Aussicht auf Anerkennung. Stein auf Stein setzend, mühsam Mauern hochziehend, die andere Freiwillige wieder schleifen, nach bestem Wissen und Gewissen. Sisyphusarbeit.
Nichts für Selbstdarstellungssüchtige mithin. Sollte man denken. Weit gefehlt. Es kann ja keiner in Frieden Fakten verwalten, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Und so hatten die tapferen Wikipedianer von Beginn an mit Trollen und Vandalen zu kämpfen, mit Saboteuren und Intriganten. „Wir wurden von Idioten überrannt“, erinnert sich Sanger, der inzwischen Wikipedia den Rücken gekehrt hat. Nicht entnervt vom „cyberwar“, sondern weil ihm aufgegangen sei, dass das Wiki-Konzept kein autoritatives Ergebnis zeitigen könne. Massenhafter Input nivelliere und führe unweigerlich zu Mediokrität. „Wikipedia like the world wide web is as broad as it is shallow“, so Sanger, der an einer Konkurrenz-Enzyklopädie bastelt, die Citizendium heißt und festgefügtes Wissen traditioneller Eliten bündelt.
„Wikiality“, wie der amerikanische Satiriker Stephen Colbert die Schnittmenge aus Wikipedia und Realität spöttelnd nennt, wird es dort nicht geben. Auch keine dreisten Info-Manipulationen durch Interessengruppen. Zeitweise musste erheblicher investigativer Aufwand getrieben werden, sogar die Androhung juristischer Konsequenzen war nötig, um US-Senatoren daran zu hindern, via Wiki-Korrekturen Kollegen anzuschwärzen, um Verbände, Regierungsstellen und Kirchen zu zermürben, die unermüdlich Public Relations in eigener Sache trieben, oder um die Propaganda kreationistischer Kreaturen zu unterbinden. Die daraufhin frustriert das Desinformationsportal Conservapedia aufmachten, wo der Schöpfungsunfug vom „Intelligent Design“ mit Darwins Evolutionstheorie koexistiert. Daneben wirkt wikipedia seriös und geradezu wissenschaftshörig. Weshalb es Wales wurmt, dass die meisten Hochschulen ihren Studenten nicht gestatten, aus Wikipedia zu zitieren, weil die Quelle unzuverlässig sei. „Das wird sich ändern“, meint Wales, „in den 50er Jahren haben die Eltern ihren Kids auch verboten, Elvis zu hören. Und sie taten es doch.“ Rock’n’Roll!
Was wir ebenfalls entbehren müssten, würde Sangers verknöchertes Citizendium die Wiki-Wunderwelt ablösen, ist der Infotainment-Aspekt, dem wir beispielsweise die Wiki-News verdanken, Robbie Williams verdiene sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verzehr von Hamstern in den Pubs von Stoke. Wurde natürlich umgehend entfernt.