Barmbek by Bus
Der Trend zum deutschen Reggae ist in Wahrheit die internationale Öffnung der HipHop-Szene
Was viele abschreckt, ist dieses aufdringlich Lockere, das sowieso unverständlich ist, wenn man nichts, höhö, geraucht hat. Es ist die Hölle, die Veränderungen an Freunden zu beobachten, wenn bei Studentenpartys die Bob-Marley-Runde losgeht, und trotzdem gibt es in Deutschland eine Menge junger Menschen, nicht mal Musiker im klassischen Sinn, die Reggae völlig richtig verstanden haben und jetzt endlich Platten veröffentlichen, denen man das anmerkt. Die Musikindustrie stellt einen Reggae-Boom fest, weil Jan Delay, Dynamite Deluxe sowie Patrice aus Hamburg, Gentleman aus Köln und Seeed aus Berlin gut verkaufen. Auguren beobachten, dass HipHop-Festival-Planer es riskieren können, zur besten Zeit einen Dancehall-Toaster auf die Bühne zu lassen, was nicht immer so war. Die Künstler streiten es ja empört ab, Reggae zu sein: „Wenn das ,Hanfblatt‘ mich interviewen will, merke ich schon, dass ich missverstanden werde“, sagt Jochen Niemann, DJ bei Dynamite Deluxe, der unter dem Namen Joni Rewind nun die Platte „Welcome To The World Of Joni Rewind“ gemacht hat, auf der Rapper und Dancehaller aus England, den USA und Jamaika das Mikro halten und Niemann den ganzen musikalischen Rest erledigt.
Was den Boom betrifft: Auch in kleinsten deutschen Städten gibt es seit gut zehn Jahren Reggae- und Dub-Sound-Systems, die in selbstverständlicher Symbiose mit den örtlichen Hip-Hop-Szenen existieren. „Die Leute machen das schon so lange. Das überrascht mich nicht, dass die Majors das nicht mehr ignorieren können“, meint Niemann, dessen alte Freunde vom wichtigen Hamburger Sound System Silly Walks beispielsweise erst nach 12 Jahren die erste Platte gemacht haben. Und weil Reggae-Aktivisten so auffallend reisefreudig sind, ist das nicht mal National-Suppe: Die vielen Kollaborateure hat Niemann über strikt persönliche Kontakte nach London und Kingston zusammengeholt. „Die Leute wissen, dass es hier und in Frankreich eine Szene gibt Europa hat einen guten Ruf, die kommen gerne hierher. Auch, weil sie mit den Gagen für den Rest des Jahres ihre Familien ernähren können.“
Der Brite Blak Twang und der Jamaikaner Jahmali haben sich dann bei den Joni-Rewind-Sessions kennengelernt, so geht das immer weiten Dass ein 26-jähriger Hamburger DJ mit lokalen Größen aus Kingston Tracks produziert, die ihnen unter Umständen den internationalen Durchbruch bringen können, zeigt noch einmal das ökonomische Gefalle im internationalen Reggae-HipHop-Netzwerk. Der prinzenhafte Songwriter Patrice Babatunde wiederum ist – zwei Jahre nach dem in Hamburg von Hip-Hop-Mäzen Mathias Arfmann produzierten Debüt „Ancient Spirit“ – für die neue Platte „How Do You Calll it?“ nach Jamaika gereist. Von der Soundsystem-Vergangenheit, vom Marley-haften seiner älteren Stücke ist dagegen nichts mehr zu hören, dafür mehr Soul- die Unabhängigkeit von musikalischen Orten liest man bei Patrice schon aus der Biografie: Vater aus Sierra Leone, aufgewachsen in Köln und am Bodensee, meist in Frankreich auf Tour. „Ich bin ein Weltenbummler“, sagt er, „in Hamburg bin ich höchstens mal, um meine Kleidung zu waschen.“ Die deutsche Reggae-Hauptstadt? Vor allem der Flughafen, den die Protagonisten bevorzugt benutzen.