Barack Obama im Interview mit dem ROLLING STONE
Im Gespräch mit dem ROLLING STONE spricht Obama über seine Pläne für eine mögliche zweite Amtszeit – und die Taktik seines Kontrahenten, zunächst "die extremsten Positionen der Republikanischen Partei zu übernehmen", um nun im Endspurt die Nebelmaschine anzuwerfen und seine radikalen Positionen sorgsam zu verbrämen.
Bevor die Aufnahmegeräte am 11. Oktober eingeschaltet wurden, plauderte Interviewer Douglas Brinkley mit Barack Obama über den „Bronco Buster“, die Skulptur von Frederic Remington, die neben seinem Schreibtisch steht und einmal Theodore Roosevelt gehörte. Doch als der Smalltalk zu viel der kostbaren Zeit konsumierte, übernahm der Präsident das Kommando: „Okay“, sagte er bestimmt, „schießen Sie los.“
Als wir das Oval Office wieder verlassen, erwähnt RS-Redakteur Eric Bates gegenüber Obama, dass er seine sechsjährige Tochter gefragt habe, ob es irgendetwas gäbe, das er dem Präsidenten ausrichten solle. Nach längerem Überlegen meinte sie: „Sag ihm: You can do it.“
Obama grinst: „Das ist der einzige Rat, den ich brauche“, sagt er. „In diesem demografischen Segment schlage ich mich ohnehin ausgezeichnet. In der Altersgruppe von sechs und zwölf räume ich gnadenlos ab.“
„Vielleicht sollten Sie ja das Wahlalter herabsetzen?“, sagt Bates augenzwinkernd.
„Wissen Sie, Kinder haben gute Instinkte“, meint Obama, „sie schauen sich meinen Kontrahenten an und sagen: ,Ich merke genau, dass der nur Blech redet.‘“
Fangen wir mit dem Wahlkampf an, der gerade zu Ende geht. Seit der ersten Fernseh-Diskussion hat Romney eine 180-Grad-Wende vollzogen, was viele seiner Positionen betrifft – von seinen Steuerplänen bis hin zur Regulierung der Finanzindustrie.
Er hatte sich mächtig ins Zeug gelegt für eine Politik, die uns in meinen Augen auf einen Holzweg führt. Aber die Fakten sind noch immer die gleichen, die fundamentalen Daten haben sich nicht geändert. Die Grundfrage dieses Wahlkampfs ist und bleibt: Haben wir es mit einer wirtschaftlichen Erholung zu tun, die auf all dem aufbaut, was wir in den letzten vier Jahren geleistet haben – eine Wirtschaftspolitik, die darauf fokussiert ist, eine starke, dynamische Mittelklasse zu schaffen, die die industrielle Produktion in den USA wieder ankurbelt, die uns unabhängig von ausländischem Öl macht – nicht nur durch die Förderung von einheimischem Öl und Gas, sondern auch durch eine führende Rolle in der Entwicklung sauberer Energien? Wollen wir weiter in Bildung investieren, um sicherzustellen, dass jedes Kind in Amerika, das sich wirklich ins Zeug legt, seine Chance bekommt? Wollen wir in einer verantwortungsvollen Weise das Defizit reduzieren und gleichzeitig sicherstellen, dass wir weiterhin Investitionen tätigen können, die unser Wachstum beschleunigen? Das ist die Position, die ich vertrete.
Was Governor Romney vorschlägt, ist eine Rückkehr zu der gleichen Politik, die uns überhaupt diese Misere beschert hat: Steuersenkungen, von denen vor allem die Reichen profitieren, Aufhebung von Regulierungen, die wir gegen den erbitterten Widerstand der Lobbyisten durchgesetzt haben – um nämlich sicherzustellen, dass wir künftig keine steuerfinanzierten Bürgschaften mehr übernehmen müssen, um sicherzustellen, dass Krankenversicherungen nicht mehr hilfsbedürftige Bürger schröpfen, um sicherzustellen, dass wir einen Verbraucherschutz haben, um die Bürger und Bauherren vor skrupellosen Kredithaien zu schützen.
Ich habe daher keinerlei Zweifel, dass wir die besseren Argumente auf unserer Seite haben. Was Governor Romney nicht verborgen geblieben ist. Und das ist der Grund, warum er nach einem eineinhalbjährigen Wahlkampf – in dem er keinen Hehl daraus machte, den Reichen ein 5-Billionen-Dollar-Steuergeschenk zu machen – nun plötzlich die Nebelmaschine angeworfen hat, um diese Tatsachen zu verschleiern. Er weiß ganz genau, dass die amerikanische Öffentlichkeit nicht das kaufen wird, was er ihr andienen will.
Es ist viel darüber geredet worden, dass Romney im letzten Abschnitt des Wahlkampfs seine Positionen nicht nur verschleiert, sondern sie geradewegs auf den Kopf gestellt hat – dass er ein menschliches Chamäleon ist. Haben Sie den Eindruck, dass er das amerikanische Volk bewusst belügt?
Nun, ich denke, Folgendes ist passiert: Wir haben im zurückliegenden Jahr den Kampf der Ideen gewonnen. Sein Argument für eine 5-Billionen-Steuersenkung, von denen vor allem die Wohlhabenden profitieren – was entweder das Defizit verschärfen oder die Steuern für eine Mittelklasse-Familie erhöhen würde –, ist kein Rezept für Wachstum. Dem amerikanischen Wähler ist wohl bewusst, dass damit keine neuen Jobs geschaffen werden und auch nicht das Defizit reduziert wird. Vor zwei, drei Wochen waren sie also mit der Frage konfrontiert: „Gibt es einen Weg, um unsere Positionen irgendwie zu verbrämen?“ In der ersten TV-Debatte schaffte er es durchaus überzeugend, eine ökonomische Theorie zu verkaufen, die in meinen Augen allerdings grundlegend falsch ist. Unsere Aufgabe ist es sicherzustellen, dass er für diese Theorien auch konkrete Antworten liefert – Antworten, die der Mittelklasse nicht helfen und auch das wirtschaftliche Wachstum nicht beflügeln.
Aber natürlich gibt es keinen Zweifel, dass er wirklich an das glaubt, was er ein Jahr lang gepredigt hat – und dafür gibt es ausreichend Beispiele. Wir wurden Zeuge davon, als er Governor von Massachusetts war: Um das Budget auszugleichen, erhöhte er die Abgaben für Mittelklasse-Familien, während er die Steuern für Reiche senkte, Investitionen im Bildungssektor kürzte und die gestiegenen Kosten den Gemeinden und kommunalen Schulbezirken in Rechnung stellte. Wir wurden Zeuge davon, als er unlängst in „60 Minutes“ die Frage bejahte, ob es denn gerecht sei, dass jemand wie er, der 20 Millionen im Jahr macht, einen niedrigeren Steuersatz zahle als ein Lehrer oder Busfahrer, der 50000 Dollar nach Hause bringt. Seine Philosophie besagt nun mal: Wenn’s den Leute an der Spitze der Einkommenspyramide gut geht, wenn man ihnen alle Steine aus dem Weg räumt, wird der Wohlstand schon nach unten sickern, weil sie es nun mal sind, die die besseren Entscheidungen über den Einsatz von Kapital treffen.
Ich habe eine andere Philosophie: Wenn es der Mittelschicht gut geht – wenn sie genug Geld in der Tasche haben, wenn sie einen vernünftigen Lohn für ihre Arbeit bekommen, wenn sie die Sicherheit einer Krankenversicherung haben –, dass es dann allen besser geht. Weil das die Kunden sind, die Produkte und Dienstleistungen kaufen, was wiederum der Geschäftswelt Auftrieb gibt. Es ist das alte Prinzip, das schon Henry Ford praktizierte, als er seinen Arbeitern höhere Löhne zahlte: Die Arbeiter, die am Fließband die Model T’s herstellten, sollten in der Lage sein, irgendwann selbst einmal ein Auto kaufen zu können. Auf diese Weise stellten wie die Mittelschicht auf eine breitere Basis.
Deshalb ist es in den verbleibenden Tagen unsere primäre Aufgabe, diesen wirtschaftlichen Gegensatz aufzuzeigen. Die amerikanischen Wähler werden schon wissen, welche der Alternativen besser für sie und besser fürs ganze Land ist.
Wo hielten Sie sich auf, als Sie zum ersten Mal Romneys Rede in Boca Raton hörten, wo er über die berühmten 47 Prozent sprach? Was war Ihre spontane Reaktion?
Wir waren irgendwo bei einem Wahlkampftermin. Ich erinnere mich nicht mehr, in welchem Bundesstaat es war – wahrscheinlich Ohio (lacht). Da wir uns ständig in Ohio aufhielten, sind die Chancen groß, dass es Ohio war.
Es dauerte eine Weile, bis wir die Abschrift seiner Rede bekamen. Es kam schon überraschend, dass er das so offen aussprach, andererseits ist das eine Geschichte, die sich die Republikaner – zumindest ein beträchtlicher Teil von ihnen – schon seit geraumer Zeit erzählen: dass sich die Hälfte der Bevölkerung als „Opfer“ verstehe und damit zufrieden sei, von der Regierung durchgefüttert zu werden. Natürlich stimmen die Fakten vorne und hinten nicht, weil der überwältigende Teil dieser 47 Prozent entweder Leute sind, die jeden Tag arbeiten und alle möglichen Arten von Steuern entrichten, aber eben nicht genug verdienen, um Einkommenssteuer zu zahlen – oder aber Rentner, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet und alles richtig gemacht haben, im Alter nun aber gewisse Sicherheiten erwarten. Oder es sind Veteranen, die für dieses Land ihr Leben riskiert haben – oder Soldaten, die das in diesem Moment noch immer tun. Aber diese Vorstellung, dass Leute, die etwas für dieses Land geleistet haben, sich allerdings am unteren Ende der Einkommenspyramide befinden, nun von der Regierung Almosen einfordern und eine Erwartungshaltung haben, geht völlig an den Tatsachen vorbei. Es passt überhaupt nicht mit dem zusammen, was ich auf meinen Reisen durchs Land tagtäglich erlebe.
Gibt es Leute in diesem Land – ganz oben wie ganz unten –, die nicht mitziehen, sondern glauben, sie seien im Selbstbedienungsladen? Ganz sicher. Aber wie deutlich gemacht wurde, als diese Kontroverse ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückte: Es gibt eine Menge Millionäre, die keine Einkommenssteuer zahlen – genauso wie es Leute am unteren Ende des Spektrums gibt, die das Sicherheitsnetz, das wir für sie gezogen haben, zielstrebig missbrauchen. Wir sollten jeden zur Rechenschaft ziehen, der nicht seinen fairen Beitrag leistet. Denn daran glauben die Amerikaner: Sie mögen keine staatlichen Bürgschaften, sie mögen keine Almosen, aber sie verstehen, dass wir eine Regierung brauchen, die garantiert, dass derjenige, der hart arbeitet und seinen Verpflichtungen nachkommt, auch die Früchte seiner Arbeit ernten will und die Aussicht auf ein besseres Leben seinen Kindern und Enkeln weitervererben möchte.
Was hat Sie am Wahlkampf der Republikaner am meisten überrascht?
In welchem Ausmaß Governor Romney gewillt war, auf die extremen Positionen seiner Partei zuzugehen: bei Einwanderung, Umwelt, Frauen-Fragen und der Wirtschaft. Ich denke, das sagt viel über einen Mann, der sich um das Amt des Präsidenten bewirbt. Wenn man nicht in der Lage ist, extremen Elementen seiner eigenen Partei Einhalt zu gebieten, wenn man keine Prinzipien hat, für die man zu kämpfen gewillt ist – selbst wenn es politisch nicht opportun ist –, dann wird man in diesem Amt gravierende Probleme bekommen.
Interessanterweise warf er die Nebelmaschine erst an, als auf der Hand lag, dass die Amerikaner seine Positionen eindeutig ablehnen. Aber es sind und bleiben noch immer seine Positionen: Was die Einwanderungs-Politik betrifft, glaubt er weiterhin, dass die Gesetzgebung in Arizona als Modell für das ganze Land dienen sollte. Er ist noch immer der Meinung, dass „Roe v. Wade“ (die Entscheidung des Supreme Court von 1973, Abtreibungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt nicht unter Strafe zu stellen – Red.) revidiert werden sollte. Er würde einer Gesetzesänderung zustimmen, die der Frau das Recht über ihren eigenen Körper abspricht, er würde die finanzielle Unterstützung von „Planned Parenthood“ einstellen und die Entscheidung, ob Verhütungsmittel von der Krankenversicherung gezahlt werden, in die Hände des jeweiligen Arbeitgebers legen.
Vier Wochen vor einer Wahl kann man von seinen fundamentalen Überzeugungen, die mit der Mehrheit der Amerikaner nicht in Einklang stehen, nicht so einfach abrücken. Wenn Sie mit Frauen sprechen – nicht nur aus dem Lager der Demokraten, sondern auch Republikaner und Independents –, werden Sie von ihnen hören, dass sie sehr wohl in der Lage sind, Entscheidungen über ihren eigenen Körper selbst zu treffen. Und sollten Sie die Möglichkeit haben, Jugendliche kennenzulernen, die vom „Dream Act“ betroffen sind (der Gesetzesänderung, nach der ausländischen Kinder, die in den USA aufwuchsen, die US-Staatsbürgerschaft in Aussicht gestellt wird – Red.) undfeststellen, dass sie dieses Land lieben, den Eid auf unsere Flagge geschworen haben und sich in dieser Gesellschaft engagieren wollen, dann werden Sie den Vorschlag von sich weisen, diese jungen Leute in ein Land zu deportieren, das ihnen völlig fremd ist. Aber das sind die Positionen von Governor Romney, und wir müssen dafür Sorge tragen, dass alle Amerikaner über die Tragweite dieser Positionen informiert sind.
Haben Sie die Befürchtung, dass „Roe v. Wade“ revidiert werden könnte, wenn die Republikaner das Rennen um das Amt des Präsidenten gewinnen und damit auch einen neuen Richter für den Supreme Court bestellen können?
Daran kann es keinen Zweifel geben. Governor Romney hat seine Einstellung zu diesem Thema sehr deutlich gemacht. Paul Ryan, sein Vize-Kandidat, hat es sogar zu einem zentralen Punkt seiner politischen Arbeit erklärt. Normalerweise beruft ein Präsident während seiner Amtszeit ein oder zwei neue Richter, und wir wissen, dass es bei der momentanen Zusammensetzung mindestens vier Richter gibt, die das Urteil kassieren würden. Es braucht also nur einen weiteren Richter, um diesen Fall eintreten zu lassen.
Hat es Sie überrascht, dass Chief Justice Roberts die Gesundheitsreform passieren ließ?
Nein, ich war immer davon überzeugt, dass der „Affordable Care Act“ – oder Obamacare – mit den bestehenden Gesetzen vereinbar ist. Interessant war allenfalls, dass der Supreme Court – oder Richter Roberts im Besonderen – in seiner Begründung den Umweg über das Steuerrecht nahm. Wenn man sich die vergleichbaren Fälle anschaut, die bis in die 1930er zurückreichen, wäre es durchaus auch mit der „Commerce Clause“ (die den Handel zwischen den Bundesstaaten reguliert – Red.) vereinbar gewesen. Ich vermute, dass Justice Roberts mit seiner Begründung beabsichtigte, die gegenwärtige Auslegung der „Commerce Clause“ nicht in Frage zu stellen, gleichzeitig aber die Legislative daran zu erinnern, dass sie künftig die „Commerce Clause“ nicht überstrapazieren sollte.
Warum waren Sie sich so sicher, dass die Gesundheitsreform verfassungsrechtlich wirklich so unproblematisch sei?
Weil man nicht leugnen kann, dass das Gesundheitssystem ein gravierender Bestandteil unserer nationalen Wirtschaft ist. Es macht 17 oder 18 Prozent des Bruttosozialproduktes aus, es tangiert das Leben aller Mitbürger, es ist eine erhebliche Belastung für das Budget eines Unternehmers, des Bundes wie auch jeder einzelnen Familie. Es wird praktiziert, ohne auf die Grenzen der einzelnen Bundesstaaten Rücksicht zu nehmen. Insofern war es nicht realistisch, dem Kongress die Möglichkeit einer grundsätzlichen Regelung nehmen zu wollen.
Ich bin ungemein stolz auf die ersten Schritte, die wir in dieser Richtung bereits unternommen haben – dass Krankenversicherungen nicht mehr eine Zahlungsgrenze festsetzen können, wenn es sich um eine schwere Erkrankung handelt, dass Eltern ihre Kinder unter 26 Jahren mitversichern können, dass Versicherte Geld zurückbekommen, wenn die Versicherungen ihre Einnahmen nicht zum überwiegenden Teil für tatsächliche Leistungen, sondern für ihren Apparat und die Gehälter der Geschäftsführer verwenden. Rentner werden jährlich 600 Dollar weniger für ihre Medikamente zahlen, und die Steuererleichterungen für kleinere Unternehmen werden dazu beitragen, dass mehr Arbeitnehmer samt ihrer Familie krankenversichert sind. Wir haben Maßnahmen zur Kostensenkung eingeführt, die die Qualität der Versorgung verbessern werden. All diese Faktoren sind bereits Realität, und ab 2014 werden Patienten mit Vorerkrankungen die Möglichkeit erhalten, eine erschwingliche Versicherung zu bekommen – ebenso Leute, die 18 oder 20 Prozent mehr bezahlen, als es der günstigste Gruppentarif vorsieht.
Wir wissen, dass dies ein funktionstüchtiges Modell ist. Es funktioniert bereits in Massachusetts, wo 90 Prozent der Erwachsenen und 99,5 Prozent aller Kinder krankenversichert sind. Dass das erfolgreichste Land auf dieser Erde nicht in der Lage war, Kranke vor dem finanziellen Ruin zu bewahren, war ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft. Und dieser Schritt, den wir gemacht haben, wird in den kommenden Jahrzehnten für Millionen von Familien einen gravierenden Unterschied machen. Er gibt uns zudem die Möglichkeit, nun die Ineffizienz und Verschwendung des gesamten Systems unter die Lupe zu nehmen, um die Kostenlawine unter Kontrolle zu bringen, die unser Defizit verschärft und unsere Familien und Unternehmen tagtäglich belastet.
Sie nahmen soeben selbst das Wort „Obamacare“ in den Mund. Können Sie damit leben, wenn künftige Historiker dieses Wort mit der Gesundheitsreform in Verbindung setzen?
Ich werde uneingeschränkt stolz darauf sein. Weil ich zuversichtlich bin, die anstehende Wahl zu gewinnen und die komplette Reform in den nächsten vier Jahren umzusetzen. Wie bei „Medicare“ und „Social Security“ werden die Menschen eines Tages – wenn das Projekt noch weiter ausgestaltet und verbessert wird – sagen: „Das war das letzte noch fehlende Element unseres grundlegenden gesellschaftlichen Kontraktes.“ Weil es den Menschen die Sicherheit gibt, nicht durch Krankheit oder schlichtes Pech in den Ruin getrieben zu werden.
Sie benutzen in diesem Zusammenhang oft den Ausdruck „Fair shake“: Jedermann sollte die gleiche Chance bekommen, die gleiche Ausgangsposition haben. FDR hatte den „New Deal“, Lyndon Johnson die „Great Society“. Ist „Fair Shake“ ein Schlagwort, mit dem Sie leben könnten, wenn man im Rückblick Ihre Amtszeit subsummiert?
Ich hätte keine Probleme damit. Klingt gut, vor allem wenn es aus dem Mund eines Historikers kommt.
Der zentrale Punkt, den ich dem amerikanischen Volk vermitteln möchte, ist doch der: Wenn man über eine gleiche, faire ökonomische Ausgangsposition redet, dann geht es nicht nur um Fairness, sondern auch um Wachstum. Es ist die Basis, auf der wirtschaftliches Wachstum überhaupt erst möglich ist. Republikaner – und nicht zuletzt Mitt Romney – versuchen das dann so darzustellen: „Obama will umverteilen, während wir den Kuchen vergrößern wollen. Wir wollen nicht Paul ein Stück wegnehmen, um es dann Peter zuzuschieben.“ Aber wenn man sich unsere Geschichte anschaut, waren wir immer dann erfolgreich, wenn alle am Erfolg partizipieren, wenn alle von einer steigenden Produktivität und wachsenden Wirtschaft profitieren. Erst wenn das Wachstum auf einer breiten Basis steht, ist es stabil, nachhaltig und robust.
Wenn aber nur ein paar Wenige an der Spitze profitieren, wird das Wachstum begrenzt bleiben. Wir konzentrieren dann am einen Ende viel Geld in der Hand weniger Leute, die damit spekulieren und finanzielle Modelle aufbauen, die unsere Wirtschaft in den Abgrund stürzen können – was wir 2007 und 2008 erlebt haben. Am anderen Ende befinden sich Leute aus dem mittleren und unteren Einkommenssegment, die mit ihrem Budget nicht mehr klarkommen und Kredite aufnehmen – was ebenfalls Probleme mit sich bringt. Wir haben nicht mehr genug Konsumenten, die vorhandene Produkte und Dienstleistungen kaufen können – woraufhin Unternehmen weniger produzieren, was prompt zu einem wirtschaftlichen Einbruch führt. Wenn das Gegenteil eintritt, bekommt man einen selbsttragenden Kreislauf – und nur das kann unser Ziel sein.
Der Erfolg, den wir bisher verbuchen konnten – auch wenn wir erst am Anfang des Weges sind –, basiert nun einmal darauf, dass jedermann das Gefühl hat, sein Stück vom Kuchen zu bekommen. Man schaue sich nur einmal an, was in der Auto-Industrie passierte: Management und Arbeiter setzten sich an einen Tisch und machten beide schmerzhafte Zugeständnisse. Plötzlich befindet sich eine Industrie, die kurz vor dem Kollaps stand, wieder im Aufwind. General Motors steht wieder ganz oben, Chrysler macht Gewinne in ungekannter Höhe – und die ganzen Zulieferer, die für Beschäftigung im gesamten Mittleren Westen sorgen, partizipieren ebenfalls von diesem Aufschwung. Ich glaube, das ist ein Modell, das die Amerikaner instinktiv nachvollziehen können.
Mit der Rettung der Auto-Industrie entgingen Bundesstaaten wie Ohio einem wirtschaftlichen Desaster. Was haben Sie – auf Ihren regelmäßigen Besuchen in Ohio – von den dortigen Einwohnern gelernt?
Sie wollen hart arbeiten und sicherstellen, dass ihre harte Arbeit entsprechend honoriert wird. Wenn man die dortigen Fabrikationshallen besucht, dann trifft man nicht nur Leute, die dort seit 15 Jahren arbeiten – oft genug hat ihr Vater oder Großvater schon in der gleichen Fabrik am Fließband gestanden. Es geht ihnen nicht nur um den gesicherten Lohnscheck – diese Leute sind stolz darauf, ein großartiges Auto vom Fließband zu lassen. In einer Fabrik, die wir besuchten, hatten ein paar Arbeiter gerade groß im Lotto gewonnen – und sie kamen trotzdem jeden Tag zur Arbeit. Einer von ihnen hatte seiner Frau zum Geburtstag ein Auto gekauft, das er selbst mitproduziert hatte, und er kaufte Flaggen für seine ganze Stadt, weil er so stolz auf sein Land war und weil es keinen Ort gab, in dem er lieber gelebt hätte. Das sind die Leute, die man in Ohio und im ganzen Land trifft. Die Menschen wollen hart arbeiten, sie wollen das Gefühl haben, ihren Beitrag zu leisten, sie wollen dieses Land aufbauen. Alles was sie wollen, ist ihre faire Chance.
Haben Sie je die Bücher von Ayn Rand gelesen?
Natürlich.
Angesichts der Tatsache, dass sich Paul Ryan von ihrer Philosophie so angezogen fühlt: Mit welchen Konsequenzen würden Sie rechnen, wenn Ryan das Amt des Vize-Präsidenten bekleiden würde?
Das müssen Sie schon Paul Ryan fragen. Ayn Rand ist eine dieser Autoren, die viele von uns studierten, als wir 17 oder 18 Jahre alt waren und uns von der Welt missverstanden fühlten. Als wir dann älter wurden, lernten wir verstehen, dass eine Welt, in der nur das Ich im Vordergrund steht und niemand sonst, in der die persönliche Entwicklung wichtiger ist als der gesellschaftliche Austausch, dass diese Welt ein sehr engstirniger, limitierender Ort ist. Ein Ort, der nicht gerade symptomatisch ist für die Qualitäten, die dieses Land hat. Unglücklicherweise sieht es manchmal so aus, als habe diese „Jeder für sich selbst“-Mentalität einen großen Teil der Republikanischen Partei infiziert.
Was natürlich nicht die Tradition dieser Partei ist. Ich habe dieses Argument schon in der ersten TV-Debatte vorgetragen. Nehmen wir nur Abraham Lincoln: Er glaubte an Selbstgenügsamkeit und Selbstständigkeit und lebte auch danach – dass man mit harter Arbeit auch seine Träume verwirklichen kann. Aber er verstand auch, dass es einige Dinge gibt, die man besser gemeinsam tut. Dass wir in unsere Infrastruktur investieren, in Straßen und Kanäle, in staatliche Universitäten und die „National Academy of Sciences“. weil es uns die Möglichkeit gibt, unser Potenzial auszuschöpfen und einen höheren Lebensstandard zu erreichen. Er besaß auch eine tief empfundene Empathie für jedes einzelne Individuum – was ihn zu einem Gegner der Sklaverei machte und zur „Emancipation Proclamation“ führte. Dieses Verständnis des Lebens – dass wir nicht isoliert sind und uns nur um uns selbst kümmern, sondern alle miteinander verbunden sind – hat Amerika groß gemacht und uns die Möglichkeit gegeben, aus all den Nationalitäten, die als Einwanderer zu uns kamen, so etwas wie eine nationale Identität zu stiften.
Wenn Sie wiedergewählt werden sollten: Was werden Sie in den nächsten vier Jahren anders machen? Wie wollen Sie vier weitere Jahre von parteipolitischem Stillstand vermeiden?
Es ist wichtig, dass die Menschen realisieren, wie viel wir in dieser Zeit tatsächlich erreicht haben. Manchmal sind die Leute nämlich auf diesen Stillstand und die unhaltbaren Zustände in Washington fixiert. Wir haben die Gesundheitsreform durchgebracht – etwas, an dem sich Präsidenten seit 100 Jahren versucht haben – und werden sie nun auch im Detail umsetzen. Wir haben die weit reichendste Wall Street Reform seit den 1930ern durchgesetzt – und werden sie nicht nur umsetzen, sondern noch weiter verbessern. Wir haben eine „Consumer Finance Protection Agency“ ins Leben gerufen, auf die jeder Amerikaner zurückgreifen kann, der irgendwie in eine finanzielle Transaktion involviert ist – was den Bürgern Milliarden von Dollar ersparen wird. Wir haben durch unser „Pell Grant“-Programm und niedrige Studienkredite den Zugang zu den Colleges erleichtert. Die Liste der Dinge, die wir erreicht haben – selbst nachdem die Republikaner die Mehrheit im Kongress übernahmen – ist beachtlich.
Natürlich gibt es noch immer Dinge, die unerledigt blieben. Wir werden unser Defizit und die Schulden unter Kontrolle bringen müssen, aber wir werden es in einer verantwortlichen Art und Weise tun, die nicht der Mittelschicht den Schwarzen Peter zuschiebt. Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Ziel erreichen – zum Teil, weil die Bush-Steuersenkung zum Jahresende ausläuft und wir ein Showdown haben werden, wie sich ein Staat finanziert, der sich wachsenden Aufgaben gegenübersieht und diese mit Augenmaß finanzieren muss. Ich gehe davon aus, dass wir die Immigration-Reform durchbringen werden, weil die Republikaner zur Einsicht gelangen werden, dass es politisch nicht gerade klug ist, die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe gegen sich aufzubringen – ganz abgesehen von der Tatsache, dass diese Reform eine moralisch richtige Entscheidung ist.
Was Energie-Politik und Klimawechsel betrifft, werden wir unsere eigenen Ressourcen an Öl und Erdgas ausschöpfen, aber wir werden auch auf dem bisher Geleisteten aufbauen und die Benzinverbrauch-Vorgaben bei Autos verdoppeln, ebenso unsere Investitionen in saubere Energien. Was die Einsparmöglichkeiten beim Energieverbrauch unserer Gebäude, von Schulen und Häusern betrifft, gibt es einen riesigen Nachholbedarf. Wenn wir beispielsweise die Energie-Standards von Japan erreichen würden, könnten wir die Treibhausgas-Emissionen um 20 Prozent senken und gleichzeitig den Konsumenten jährlich Milliarden Dollar ersparen. Und nebenbei einem Haufen von Bauarbeitern wieder einen festen Arbeitsplatz geben.
Was die internationalen Beziehungen angeht: Nach dem Ende des Irak-Krieges bin ich fest entschlossen, auch den Krieg in Afghanistan bis 2014 zu beenden. Indem wir dieses Ziel mit Augenmaß verfolgen, werden wir einen substanziellen Effekt auch zu Hause verspüren: Das Geld, das für den Krieg budgetiert wurde, wird künftig für das „nation building“ im eigenen Land zur Verfügung stehen.
Wir werden in den kommenden vier Jahren eine volle Agenda haben, doch die Leute sollten nicht unterschätzen, was tatsächlich geleistet werden kann. Natürlich würde ich gerne eine personelle Veränderung im Kongress sehen, in den Abgeordnete gewählt werden sollten, die weniger an ihrer Wiederwahl und der reinen Blockade interessiert sind, sondern primär an der Lösung von Problemen. Das betrifft Republikaner ebenso wie Demokraten. Ich möchte nur sicherstellen, dass dort Leute sitzen, die sich ihrer Verantwortung als Volksvertreter bewusst sind.
Vergessen wir für einen Moment einmal die Knüppel, die Ihnen von Wall Street-Lobbyisten und republikanischen Kongress-Abgeordneten zwischen die Beine geworfen wurden: Wenn Sie im Alleingang einen Punkt in der Regulierung der Finanzindustrie durchsetzen könnte – welche Maßnahme wäre das?
Nun, die Geschichte der „Dodd-Frank“-Reform ist ja noch nicht abgeschlossen, da an der Implementierung noch weiter gearbeitet wird. „Dodd-Frank“ lieferte eine Plattform, um die ungeheuerlichsten Praktiken der Finanzindustrie zu unterbinden und künftige, steuerfinanzierte Bailouts überflüssig zu machen. Die Kapital-Einlagen wurden substanziell erhöht, und wir entwickelten einen Abwicklungs-Mechanismus für Finanzinstitute, die sich an riskanten Wetten verheben. Gehen sie unter, wird zumindest nicht mehr das ganze System in Mitleidenschaft gezogen. Wir werden sicherstellen müssen, dass die Regularien im Rahmen der „Volcker-Rule“ (die eigene Investment-Tätigkeiten eines Finanzinstituts einschränkt – Red.) tatsächlich in Anwendung gebracht werden. Es gibt also noch viele positive Ansätze von „Dodd-Frank“, die umgesetzt werden müssen.
Wenn es etwas gäbe, das ich im Alleingang lösen könnte, wäre es das System der Vergütungen und Bonus-Zahlungen, das auf der Wall Street praktiziert wird. Was letztlich natürlich nicht nur einen Beschluss der Legislative voraussetzt, sondern auch eine Veränderung in der Unternehmenskultur. Wir haben noch immer eine Situation, in der gefährliche Wetten riesige Gewinne abwerfen können, während die Risiken limitiert sind. Das gesamte System wird auf diese Weise animiert, sich an diesen gefährlichen Wetten zu beteiligen. Ich denke, eine legitime Frage wäre – selbst nach „Dodd-Frank“: „Haben wir genügend getan, um das System der finanziellen Anreize grundlegend zu verändern?“
Als Investment-Banken noch Partnerschaften und Personengesellschaften waren und keine börsennotierten Unternehmen, wussten die Anteilseigner sehr wohl, dass sie sich Risiken ausgesetzt sahen, die ihre ganze Firma in den Ruin treiben konnten. Es war ihr eigenes Geld, das dann verloren ging. Heutzutage gibt es Jungs, die fünf Jahre lang hochspekulative Investments tätigen, aber ungeachtet ihres Erfolges 100 Millionen jährlich nach Hause bringen. Während es im Gebälk zu bröckeln beginnt, haben sie ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht. Ich denke, das ist eine Thematik, die noch ausdiskutiert werden muss. Aber das kann nicht nur auf Seiten der Legislative passieren, sondern verlangt auch, dass Aktionäre und Vorstände ihr Unternehmen umsichtig lenken.
Wie wichtig war es für Sie, auf Bill Clinton als Wahlkampfhelfer zurückgreifen zu können? Wie darf man sich die Freundschaft zwischen Ihnen vorstellen?
Unser Verhältnis ist einfach wunderbar. Auf unserer Convention lieferte er natürlich eine meisterliche Rede, wie er überhaupt als Wahlkampfhelfer unermüdlich und unersetzlich war. Ich spreche regelmäßig mit ihm und höre auf seinen Rat. Er ist nicht nur ein großer Politiker, sondern hat in der Öffentlichkeit auch eine immense Glaubwürdigkeit – gerade in wirtschaftlichen Fragen. Die Leute haben nicht vergessen, dass wir in seiner Amtszeit zum letzten Mal eine gesunde Wirtschaft hatten, die auf einer breiten, stabilen Basis ruhte. Wenn er zu diesem Thema spricht, spitzen die Leute ihre Ohren. Und eins der Themen, die er dankenswerterweise auf der Convention ansprach, war die Tatsache, dass wir die wirtschaftliche Krise der letzten Jahre im angemessenen Kontext sehen müssen.
Franklin D. Roosevelt trat sein Amt an, als die Wirtschaft die Talsohle bereits durchschritten hatte. Alle Maßnahmen, die er danach in die Wege leitete, trugen zwangsläufig zur Verbesserung der Gesamtlage bei. Ich kam ins Amt, als es gerade steil bergab ging. Aufgrund unserer Initiativen konnten wir eine große Depression vermeiden, doch die politische „Narrative“ kam dabei unter die Räder – und gab jemandem wie Romney die Möglichkeit, meine Politik für den Scherbenhaufen verantwortlich zu machen, den die vorangehende Regierung angerichtet hatte. Ein Bill Clinton kann diesen Sachverhalt so eindrucksvoll erklären, wie es kein Anderer kann.
Halloween steht vor der Tür. Wenn Sie für Mitt Romney ein Kostüm auswählen könnten – wen sollte er spielen?
Was das diesjährige Halloween angeht, fällt mir nichts Sinnvolles ein. Im nächsten Jahr sollte er in jedem Fall einen ehemaligen Präsidentschaftskandidaten mimen.