Banal und bedeutsam
SCHNELL HABE SICH herausgestellt, dass er sein Handwerk „unter das viel größere Handwerk des Filmemachens“ stellen müsse, sagt Christian Kracht. Seine Ehefrau, die 37-jährige Frauke Finsterwalder, ist Regisseurin und hat bereits mehrere Dokumentarfilme gedreht -für ihren ersten Spielfilm suchte sie einen Co-Autor, und irgendwann habe sich ihr Mann, der bekannte Schriftsteller („Faserland“,“Imperium“), angeboten. „Ich dachte: Warum eigentlich nicht? Dann habe ich mich gefreut, aber auch Angst vor der Enge der Zusammenarbeit gehabt.“ Man habe bei einem Anwalt einen richtigen Vertrag gemacht, in dem stand, „dass er sich nach dem Schreiben des Drehbuchs aus dem Film heraushalten musste“. Dann, so erzählen es die beiden, habe man sich wie bei einer klassischen Psychoanalyse abwechselnd auf die Couch gelegt und geredet, während der andere mitschrieb. „Wenn man in der Ehe zusammen ist“, so Kracht, „ist man auch in Träumen zusammen. Man wacht nachts auf, es fällt einem etwas aus dem Drehbuch ein, und dann muss man schnell den anderen wecken. Dieser Prozess des Findens war schön.“
„Finsterworld“ ist nicht nur, wie bereits der schräge, zwischen Tiefsinnraunen, Ironie und Schülerzeitungsscherz angesiedelte Namenswitz des Titels klarmacht, offenkundig persönlich. Es ist auch einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Langem – und er trägt deutliche Spuren von Krachts Einfluss: Steckt er doch voller guter, bösartiger Beobachtungen unserer Gegenwart, voller Szenen mit sarkastisch konstruierten Konstellationen und geschliffenen Dialogen. Hat er doch zugleich einen utopischen Zug, wie ihn sonst nur Fabeln und Geschichten für Kinder besitzen. Alles sieht ein bisschen zu gut und zu perfekt und zu ausgeleuchtet aus, um ganz wahr zu sein.
Finsterwalder und Kracht führen ihr Publikum in eine abgründige Märchenlandschaft, die Zeit und Raum entzogen ist, scheinbar aus der Epoche gefallen und doch ganz gegenwärtig. Es ist ein Land des immerwährenden Sonnenscheins, der Autos und der Erinnerungen an schlechtere Zeiten; es ist bevölkert von Tieren und merkwürdigen Menschen. An einem einzigen, schier endlosen Sommertag sind deren Schicksale auf sonderbare Weise episodisch ineinander verschlungen.
Ein Song von Cat Stevens erklingt zu Bildern eines Waldes. Sonnenlicht fällt durch hohe Baumwipfel, Vogelzwitschern ist zu hören. Eine Naturidylle, ein Auftakt in fröhlicher Atmosphäre , fast zu fröhlich. Ein älterer Mann geht durchs Gehölz, findet eine offenbar verletzte Krähe, nimmt sie vorsichtig auf. Später erfahren wir, dass er offenbar in diesem Wald in einer provisorischen Hütte lebt, abseits der Zivilisation. Ein Aussteiger? Schnitt auf eine Tankstelle, irgendwo an einer Landstraße in Deutschland. Ein Mann tankt. Er heißt Claude und ist Fußpfleger. Kurz danach telefoniert er im Auto und macht mit einem Kunden einen Termin aus. Dabei wird er von einem Streifenwagen angehalten. Es folgt ein skurril-witziger Dialog, in dem er den Polizisten mit einem Satz Fußpflegeprodukte besticht.
Dann wird in schnellem Szenenwechsel das komplette Figurenarsenal des Films vorgestellt: Dominik, Nathalie und ihre Mitschüler, der blonde Dandy Maximilian und Jonas, besuchen ein Elitegymnasium für Kinder reicher Eltern. Sie reden über „Furrys – Typen, die sich wirklich danach sehnen, Stofftiere zu sein. Die treffen sich in stillgelegten Flugzeughangars.“ – „Und ham die dann Sex?“
Gleich mehrere Paare gibt es in diesem Film: Franziska, eine Dokumentarfilmerin, die vom „Neuen Neorealismus“ träumt und vielleicht auch ein wenig ein Alter Ego ihrer Regisseurin ist, und Tom, der Polizist, der im menschengroßen Eisbärkostüm einer jener „Furrys“ ist, über den die Schüler zuvor sprachen. Georg und Inge, ein reiches Ehepaar, das ihr jeweilges Servicepersonal mit dem Gestus selbstverständlichen Herrschertums lenkt. Sie mieten ein Auto, um über die Autobahn nach Paris zu fahren. Ihre Gespräche miteinander sind liebevoll, aber zugleich gleichgültig gegenüber der Außenwelt: „Ich hasse Deutschland weil’s hier so hässlich ist. Überfüllt mit unhöflichen, ruppigen Menschen, Innenstädte ausgebombt, die ehemaligen Bombenkrater zugeschmiert mit Beton Stuttgart, ich weiß gar nicht, was die mit ihrem Bahnhof haben -die Stadt ist doch so hässlich, wenn man die abreißen würde, würde es doch keinem weiter auffallen.“
Fußpfleger Claude arbeitet in einem Altenheim. Seine besondere Favoritin dort ist Frau Sandberg, eine vornehme, aber einsame ältere Dame, die darunter leidet, dass sie von ihrem Sohn und ihrem Enkel kaum besucht wird. Er pflegt sie mit Kamillenessenz und bringt ihr stets selbstgebackene Plätzchen mit. Ihr Gespräch kreist um Angst vor Autoritäten und Gewalt – und um die Liebe. Dann geht es um die alte Fernsehwerbung für „Werthers Echte“ und deutsche Volkslieder. Claude ist ein Softie, der in seiner Handlungshemmung und Introvertiertheit seiner Außenwelt kaum gewachsen scheint. Die Schüler schließlich unternehmen mit ihrem Geschichts-LK den Besuch eines NS-Vernichtungslagers. Dabei werden sie von ihrem Lehrer begleitet, einem sympathischen, wohlmeinenden und engagierten Pädagogen, der angesichts der Wand aus Ignoranz, die ihm entgegenschlägt, allerdings etwas hilflos reagiert.
Wald, Vernichtungslager, Autobahn und „Werthers Echte“ – es muss wohl Deutschland sein, von dem hier die Rede ist, auch wenn Ort und Zeit seltsam unkonkret bleiben. Denn das Banale und das Bedeutungsvolle, der pure Ekel und die reine Schönheit stehen hier direkt nebeneinander. Frauke Finsterwalder ist ein deutscher Film geglückt, der endlich einmal mit der Frage „Was ist deutsch?“, die laut Nietzsche ja niemals ausstirbt, offensiv umgeht, der nicht herumdruckst, nicht nassforsch ignoriert, sondern wägt, differenziert, dabei das Pathos nicht scheut. Und immer schimmert eine Sehnsucht durch, die auf etwas zielt, von dem sie selbst nicht weiß, was es ist.
Die Menschen dieses Films sind Arche-und Stereotypen, klug ausgearbeitete Bedeutungsträger, aber keine Menschen mit Widersprüchen. Manchmal fühlt sich „Finsterworld“ an wie ein Comic für Erwachsene. Abgründig und abgehoben ist dieser Film, geprägt nicht zuletzt von der Geringschätzung dessen, was Finsterwalder den „trockenen Realismus“ im deutschen Kino nennt. Stattdessen sollen Überhöhung und Unterhaltung verbunden sein. Klingt wie ein Musical, und jedenfalls etwas zu theoretisch, etwas nach verkrampftem Absetzen.
Tatsächlich ist „Finsterworld“ kein lockerer Film. Aber ein guter. „Kino ist, wenn man latent überfordert wird“, sagt Finsterwalder, und insgeheim hat ihr Film mehr mit der offenbar verachteten „Berliner Schule“ gemeinsam als er gern hätte (mit dem Gemenschel eines Dresen-Films allerdings auch) und ist trotzdem etwas völlig Eigenes. Eigenwillig, eigensinnig. Eine Komödie, mal empfindsam und feinsinnig darin, wie sie die Doppelbödigkeit unseres innerlich traurigen Deutschlands entfaltet. Dann wieder ein sarkastisch abgefederter Aufschrei gegen die Verhässlichung der Welt, in den die ästhetische Katastrophe der deutschen Fahne, die gut geschnittenen Uniformen im Dritten Reich ebenso eingerührt werden wie die perfekten Technologien, „das Giftgas, schnelle Autos, Glasfahrstühle, die Mülltrennung nur dazu da, um den Müll nach Afrika zu schaffen. Dieser Geist, diese Sprache, die nach wie vor in den Entwicklungsabteilungen von Mercedes Benz und Siemens gesprochen wird -das hat es ja erst möglich gemacht, dass Millionen Juden umgebracht wurden.“
Egal, wie sehr diese Ansichten im Einzelnen sogar zutreffen -mit ein bisschen Provokation vermeintlicher politischer Tabus fühlen sich die Filmemacher ganz offenkundig auch sehr wohl. „Alle Figuren sind Variationen von uns beiden“, behauptet Kracht. Das Paar, das durch die deutschen Lande fährt und diese nur durchs Autofenster wahrnimmt, sind die gelungensten Figuren im Film, der Fußpfleger Claude, der die Hornhaut seiner Kunden nicht nur abhobelt, sondern sie auch noch zu Keksen verarbeitet, ist die problematischste -nicht nur weil sie die Grenzen zum Ekel überschreitet, sondern auch, weil hier die Botschaften (ein weicher Mann, der die Verhornungen beseitigt) ein bisschen zu plakativ kommen. Auf ihre Figuren blicken sie zwar mit Distanz, aber nie verurteilend. Zwar schlüpft das Böse in dieser Geschichte immer wieder durch das engmaschige Netz des Alltags hindurch, aber auch in schlimmsten Momenten finden ihre Charaktere Trost. Die Tonlage, in der diese einzelnen Typen vorgestellt werden, wechselt zwischen Komödie und Drama hin und her. Manchmal ist die Verdichtung zu spürbar, da ist erkennbar, das ganze Erzählstränge herausfallen mussten. Erst nach und nach erfahren wir, wie die Figuren miteinander verbunden sind. Aber von Anfang an ist klar, dass der Film etwas Größeres im Blick hat: die Gesellschaft. Voller Liebe zum Kleinen geht es ums große Ganze: Den Untergang unserer Zivilisation. Den Tod. Die Liebe.
Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Film die Musik. Sie stammt von Michaela Melián, die man als Mitglied von FSK ebenso kennen könnte wie durch ihre Installationen, die in den letzten 20 Jahren an vielen Orten präsentiert wurden. Melián hat zuvor noch nie einen Soundtrack komponiert. „Ich arbeite eigentlich nur autonom und habe kein Interesse daran, Zeit und Energie für eine Dienstleistung aufzuwenden“, sagt sie. Das Drehbuch und die Zusage völliger Freiheit hätten ihr dann aber Lust gemacht. „Es gab eine große Schnittmenge mit Sachen, die auch mich interessieren.“
Ihre eindrucksvolle Darstellerriege , zu der Corinna Harfouch und Bernhard Schütz, Sandra Hüller und Ronald Zehrfeld, Margit Carstensen und Christoph Bach ebenso gehören wie Carla Juri, die man gerade erst in „Feuchtgebiete“ gesehen hat, inszeniert Finsterwalder mit Sinn für Timing. In einer subtilen Bildsprache, voller Poesie und Überraschungen, schlägt der Film furios den Bogen zwischen Witz und Ernst, stillem Melodram und skurriler Komödie. So gelingt eine verspielte Reflexion der deutschen Seele. Unaufdringlich und intelligent reflektiert die Regisseurin Erfahrungen und Traditionen aus der Bundesrepublik und präsentiert ein Mosaik unserer Gegenwart aus Handlungslähmung und Utopieverlust. So ist „Finsterworld“ eine Einsamkeitsmeditation und ein Heimatfilm der anderen Art geworden, ein schwarz-romantisches Traumspiel voller Schönheit, in der im Abgrund das Glück und in der Idylle das Grauen lauern.
Fast am Ende steht ein vermeintlich hoffnungsvolles Bild: Die Dokumentarfilmerin Franziska ist irgendwo in Afrika, am Fuß des Kilimandscharo (auch Finsterwalder und Kracht leben in Tansania). Sie redet mit einer Massai. „Wär’s nicht viel besser, wenn es gar keine Menschen auf der Welt gäbe?“ – Die Frau interessiert das nicht. Womöglich versteht sie es gar nicht. Sie will Geld. Sie rauchen zusammen eine Zigarette. Tom ist in Deutschland geblieben. Im Eisbärkostüm sitzt er, das ist leider das allerletzte Bild, auf einer Parkbank unter einem Sonnenuntergang. Ein kleines Mädchen setzt sich schüchtern dazu und rückt langsam näher.