#BackToLive: Interview mit Stephan Thanscheidt – „Wir mussten tausende Veranstaltungen verschieben oder absagen“

Tourneen und Festivals sind ihr Geschäft und ihre Leidenschaft. Wie geht es einem der größten Veranstalter Europas, wenn nichts mehr geht? Ein Interview mit Stephan Thanscheidt, Geschäftsführer und Festival-Booker bei FKP Scorpio

Wir bewegen uns beim Live-Geschehen gerade in einem Teufels-Kreis. Die Situation jetzt erinnert fatal an die Situation im Frühjahr: Was ist gleichgeblieben, was anders im Vergleich zu den Pandemie-Vorjahren?

Die im Winter zunehmende Infektionsdynamik erinnert tatsächlich an das vergangene Jahr und wurde von Fachleuten ja entsprechend erwartet, auch wenn die Höhe der Inzidenzen sicherlich eine neue Qualität erreicht hat. Auch das Auftauchen einer neuen Variante erinnert an Delta und ist per se nichts Neues, wobei ihre Auswirkungen und Einfluss noch genauer geklärt werden müssen. Fest steht: Mit der Impfung haben wir im Gegensatz zum vergangenen Jahr ein wirksames Instrument an der Hand, um den Teufelskreis zu durchbrechen.

Wie viele Konzerte und Tourneen musstet ihr seit Beginn der Pandemie verschieben – und was macht das mit euch?

Bei uns sind mehrere tausend Veranstaltungen betroffen, die entweder mehrmals verschoben oder ganz abgesagt werden mussten. Insbesondere in der unklaren Anfangsphase der Pandemie. Was das mit uns macht, ist völlig klar: Statt das zu tun, was wir lieben, verwalten wir Verschiebungen oder müssen Konzerte irgendwann ganz ins Wasser fallen lassen. Das bedeutet eine hohe Arbeitsbelastung für Organisation und Kommunikation, die selbstredend nicht die Erfüllung bietet, die wir normalerweise durch unsere Arbeit erhalten.

„Es war sehr erfüllend, zu sehen, wie unser Team, unsere Gäste und die Künstlerinnen und Künstler ihr Wiedersehen bei Festivals wie dem Rolling Stone Beach genossen haben“

Macht der Job noch Spaß, was hält Dich am Laufen, wie motivierst Du Dich?

Aller Herausforderungen und Unwägbarkeiten zum Trotz erfüllt mich meine Arbeit noch immer, was gleich mehrere Gründe hat. Der Wichtigste davon ist unser Team, das erneut bewiesen hat, dass es auch unter schwersten Bedingungen verlässlich gute Arbeit leistet. Außerdem haben wir in diesem Jahr mehrmals unter Beweis gestellt, dass wir auch unter Corona sicher und gut veranstalten können. Es war sehr erfüllend, zu sehen, wie unser Team, unsere Gäste und die Künstlerinnen und Künstler ihr Wiedersehen bei Festivals wie dem Rolling Stone Beach genossen haben.

Wie dramatisch sind die Umsatzeinbußen?

In 2020 hatten wir überhaupt keine nennenswerten Umsätze, und 2021 war trotz einiger großer und erfolgreicher Vorverkauf-Starts ebenfalls herausfordernd. Wirtschaftlich ist Corona auch für uns eine Herausforderung, obwohl das Unternehmen seine Stabilität unter Beweis gestellt hat. Wir haben die letzten Jahre gut gewirtschaftet, und unsere Rücklagen helfen uns weiterhin, diese Situation zu überstehen.

Wie stark seid ihr von Kurzarbeit betroffen – und musstet ihr Mitarbeiter kündigen?

So gut wie unser gesamtes Team war unterschiedlich lang und intensiv in Kurzarbeit. Bis Januar 2022 werden wir unsere Kapazitäten wieder auf 100 Prozent hochgefahren haben. Wir sind dankbar und glücklich, keine einzige Kündigung ausgesprochen zu haben. Unser oberstes Ziel war es von Anfang an, unser gutes Team zusammenzuhalten.

So kennt man das Hurricane-Festival normalerweise: Tausende Menschen die gemeinsam auf dem Eichenring in Scheeßel feiern

Wie gut oder schlecht, bürokratisch oder unbürokratisch lief es mit den staatlichen Überbrückungshilfen? Wie sehen die Regelungen für die kommenden Monate aus?

Unsere Branche musste gerade zu Beginn sicherlich einige Erklärungsarbeit leisten, da die Politik uns nicht besonders gut kannte und wir uns bislang immer selbst geholfen hatten. Grundsätzlich steht Deutschland in Bezug auf Corona-Wirtschaftshilfen im internationalen Vergleich gut da, auch wenn es bei Implementierung und Auszahlung öfter mal geruckelt hat. Die Fortführung der Überbrückungshilfen setzt natürlich voraus, dass Kultur und öffentliches Leben wieder weitestgehend ohne Einschränkungen möglich sind – was realistisch ist, wenn die neue Regierung ihre derzeitigen Pläne zur Pandemiebekämpfung stringent umsetzt.

Was sind die Kriterien, nach denen ihr Tour-Termine mit internationalen Bands für 2022 wieder „hochfahren“ könnt – Inzidenz-Zahlen, neue Bestimmungen der Behörden?

Das ist nicht eindeutig zu beantworten. Wir richten uns in jedem Fall nach den jeweiligen politischen Vorgaben und brauchen bei Tourneen natürlich einheitliche Regelungen innerhalb Deutschlands. Wenn Konzerte in manchen Bundesländern nicht möglich sind, in manchen vielleicht und in einigen auf jeden Fall, hilft uns das verständlicherweise nicht weiter. Wir brauchen einheitliche Regeln und Verlässlichkeit für ein funktionierendes Tourneegeschäft, auf nationaler und internationaler Ebene.

Welche regionalen Unterschiede gibt es innerhalb Deutschlands?

Wir haben im Laufe der Pandemie und in allen Bundesländern ganz unterschiedliche Vorgaben für öffentliche Veranstaltungen erlebt, die von 1 bis 3G und verschiedenen Kapazitätsgrenzen gekennzeichnet waren. Derzeit gilt in der gesamten Bundesrepublik für Einzelhandel sowie Kultur und Freizeit flächendeckend 2G, gepaart mit Kapazitätsbeschränkungen, weiteren Maßnahmen und inzidenzabhängigen Schließungen. Auch wenn das natürlich nur vorübergehend sein darf, begrüßen wir das gemeinsame Vorgehen von Bund und Ländern.

„Wir blicken überaus zuversichtlich auf den kommenden Festivalsommer, da das derzeitige Infektionsgeschehen eine klare Begleiterscheinung des Winters ist“

Welche Vorläufe braucht es für ein Festival? Hältst Du Festivals im Frühsommer für gefährdet?

Für Festivals vom Kaliber eines Hurricane oder Southside geht eine Planungsphase nahtlos in die nächste über; im Booking ebenso wie in der Produktion sprechen wir schon jetzt über die kommenden Jahre. Mit Blick auf 2022 ist aber zu sagen, dass unsere geplanten Festivals zum großen Teil nachzuholende Veranstaltungen sind, für die weite Teile der Arbeit bereits hinter uns liegen. Davon abgesehen blicken wir überaus zuversichtlich auf den kommenden Festivalsommer, da das derzeitige Infektionsgeschehen eine klare Begleiterscheinung des Winters ist.

Gibt es ein Event-Überangebot 2022/23 – und wie dramatisch ist der Terminstau in den Venues?

Es wird ein relatives Überangebot geben, welches wir aber schultern werden, da es schließlich in der Bevölkerung einen entsprechend großen Kulturdurst gibt, der erst einmal gestillt werden muss. Richtig ist aber, dass die Kalender der Venues voll sind und es schwieriger ist, Kapazitäten zu finden.

Wie erlebt ihr die Fans, gibt es eine spürbare Zurückhaltung beim Ticketkauf? Oder im Gegenteil eine große Nachfrage?

Obwohl es beträchtlichen Nachholbedarf gibt, ist die derzeitige Situation etwas Besonderes: Viele Menschen denken verständlicherweise erst einmal an einen weiteren Pandemie-Winter, der ja schon jetzt spürbare Einschränkungen für uns alle mit sich bringt. Veranstaltungen, die weiter in der Zukunft liegen, laufen aber entsprechend besser – wobei wir mit Tourneen von Künstlern wie Ed Sheeran auch großartige Shows im Portfolio haben.

Was muss und kann die Politik tun und besser machen?

Die neue Regierung muss ihr Versprechen einlösen und einen klaren Weg aus der fast zwei Jahre währenden Pandemie aufzeigen. Alle seriösen Stimmen aus Wissenschaft und Politik sind sich einig, dass eine hohe Impfquote unsere wirksamste Waffe gegen das Virus ist. Alle Menschen, die Rücksicht gezeigt und wie wir hohe Einbußen in Kauf genommen haben, warten nun zu Recht auf einen reibungslosen Verlauf der Booster-Impfungen, aber auch der weiteren Erst-Vakzinationen.

Wie solidarisch erlebst Du die Branche, wie tauscht ihr euch untereinander aus?

Wir haben als Branche schon sehr früh eng und gut zusammengearbeitet, was auch nötig war, um die Politik auf unsere besondere Situation aufmerksam zu machen und wirksame Hilfen zu erhalten. Diese vertrauensvolle Partnerschaft setzen wir bis heute in verschiedenen Foren und Gremien fort.

#BackToLive

Wir habe ab 26. Januar einen digitalen Space gestartet, den wir für Bands, Musiker*innen, Veranstalter*innen, Clubs und Solo-Selbstständige im Live-Musik-Geschäft eingerichtet haben. Hier können alle ihre Konzertankündigungen, -verschiebungen und -absagen kommunizieren und sich über Projekte, Jobs und besondere Veröffentlichungen informieren. Hier können auch Statements gemacht und Meinungen diskutiert werden.

Schickt eure Infos und Kommentare (maximal 700 Zeichen) zur (kostenlosen) Veröffentlichung, gern mit Foto, an: backtolive@rollingstone.de. Die BackToLive-Seite findet ihr unter rollingstone.de/backtolive

Gina Wetzler Getty Images
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