#BackToLive: Bühne frei!

Es ist erst ein Jahr her, dass ROLLING STONE mit #BackToLive auf die dramatische Situation von Clubs, Veranstaltern und Musikerinnen aufmerksam machte. Nun droht die Pandemie erneut die Live-Musik zu killen. Von der Frustration der Konzertmacher, der Sehnsucht der Fans und den Erlebnissen einer Kölner Band – ein neuer Situationsbericht, eine erste Bilanz und ein Ausblick

Bis weit hinein in den Dezember wurden die Plakate von Biffy Clyro geklebt. Fünf große Konzerttermine für den Februar. „Endlich wieder in Deutschland“ heißt es auf der Website der Agentur. Das Ergebnis einer komplexen Organisationsarbeit, an deren Ende die Werbung steht. Zur aufwendigen Re-Start-Kampagne gehören auch Litfaßsäulen und sogar Plakatwände. Doch nun sprengen die neuen Corona-Regeln für Großveranstaltungen eine weitere, lang geplante Hallentour des Trios aus Schottland. Und das bereits zum dritten Mal.

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Momentaufnahmen wie diese verdichten sich zum neuen Schreckensszenario. Der Veranstaltungskonzern Live Nation gibt bekannt, dass „in der derzeitigen Situation vernünftig planbare Konzerte im Januar/Februar 2022 leider nicht möglich sind“. CTS-Eventim-Chef Klaus-Peter Schulenberg postuliert in der FAZ einen „dramatischen Überlebenskampf“. So schwankt der Gemütszustand in der Liveszene zwischen Galgenhumor und Verzweiflung. Kurz vor Weihnachten baten gleich sechs Verbände als gemeinsames „Forum Veranstaltungswirtschaft“ zu einem digitalen Hearing. Man wollte einen Überblick geben – und gleichzeitig Forderungen an Behörden und Politik stellen. Die Stimmung ist aufgekratzt. Die Branche, dazu zählen auch Messen und Kongresse, sei der „am härtesten getroffenen Wirtschaftszweig“ berichtet Klaus Wohlrabe, der stellvertretende Leiter des ifo Institut für Wirtschaftsforschung, nach Auswertung der aktuellen Zahlen. Wo andere Wirtschaftsbereiche längst positive Ausblicke für 2022 geben, lasse der „faktische Lockdown“, der bereits tiefe Spuren in der Event-Branche hinterlassen hat, keine seriösen Zukunftsprognosen zu.

Den gesamten Umsatzsatzverlust der Branche beziffert der Präsident des Bundesverbandes der Veranstaltungswirtschaft auf rund 10 Milliarden Euro

„Das Geschäftsmodell Live Musik an sich wird zunehmend in Frage gestellt“, sagt Axel Ballreich. „Wir brauchen dringend einen ‚Marshall-Plan‘ für die Veranstaltungswirtschaft, wenn unserer mittelfristig so gebeutelten Branche wieder auf die Beine geholfen werden soll“. Ballreich, Vorsitzender der Spielstätten-Vereinigung „Livekomm“, kennt die Praxis. Als Mitbetreiber des Nürnberger Clubs Hirsch sowie vom Concertbüro Franken muss er sich seit fast zwei Jahren mit Notfall-Management beschäftigen. Den gesamten Umsatzsatzverlust der Branche, der seit März 2020 aufgelaufen ist, beziffert Jens Michow, Präsident des Bundesverbandes der Veranstaltungswirtschaft, auf rund 10 Milliarden Euro. Tendenz steigend. „Da das Corona-Virus sich auch 2022 nicht einfach in Luft auflösen wird“, so Michow, „brauchen wir endlich nachvollziehbare einheitliche Kriterien für eine bundesweite Öffnungsperspektive.“

Das gemeinsame Trommeln ist bitter nötig. Denn anders als beim ersten großen Lockdown kam der erneute Stillstand schleichend und auch ohne gemeinsame Solidaritätswellen mit anderen Kulturbereichen wie im Jahr zuvor. Ein Zustand der allgemeinen Zermürbung hat sich breit gemacht. Berichte über die Öffnung von strahlkräftigen Locations wie etwa dem Berliner Berghain erweckten im Herbst zudem den Eindruck, dass alles wieder laufen würde. Party on – auch die Musik spielt wieder. So verstand es jedenfalls ein Großteil der Öffentlichkeit. Die Ankündigung des Ausstiegs aus der epidemiologischen Notlage durch den damaligen Gesundheitsminister Spahn tat ihr übriges. Stattdessen war es nur ein kurzes Aufflackern, das kaum zwei Monate währte – in manchen Regionen mit hoher Inzidenz sogar noch kürzer. Bereits Anfang November entzog ein verschärftes 2G-Modell (mit Maske und Abstand) etwa den Leipziger Clubs die Geschäftsgrundlage. Anfang Dezember war auch anderswo alles wieder erloschen. Lange bevor eine bundesweite Verschärfung mit Sperrstunden und offiziellen (Club-)Schließungen zum Ende des Jahres in Kraft trat.

„Wir hatten im ganzen Herbst genau drei Konzerte“, sagt Frank Dietrich vom Gleis 22 in Münster. Sein Laden ist mit einer Kapazität von rund 300 Gästen der Prototyp des kleinen, legendären Indie-Clubs. Ein Ort für intensive Shows, in dem es keine Nutzungs-Alterativen gibt. Anfang Dezember war hier auf Anordnung der örtlichen Behörden Schluss. „Wir wissen nicht, wie lange das so sein wird. Das ist ja nicht nur von der Bundes- oder Landesregelung abhängig, sondern auch davon, was die jeweilige Corona-Verordnung vor Ort sagt. Während bei uns schon zu war, konnten in Dortmund noch Konzerte stattfinden, in Hamm sogar eine Techno-Party. Zuletzt habe ich aufgegeben, das alles nachzuhalten.“

Dank einer örtlichen 2G-Plus-Regelung mit reduzierter Kapazität konnten etwa The Notwist noch am 13. Dezember im Düsseldorfer Kulturzentrum Zakk auftreten. Ein vorerst letzter Gig. „Wie es nun weitergeht, weiß nur der Himmel“, sagt Bandmanager Florian Niederlechner und bangt um die fest eingeplante Februar-Tour zum Comeback-Album „Vertigo Days“. Plante die Band ihre Live-Aktivitäten bislang mit einem Vorlauf von etwa neun Monaten, ist daraus ein Fahren auf Sicht geworden. Man sitze auf gepackten Koffern und hoffe noch. Wohlwissend, dass so manches Konzert der eigenen Tourliste nicht stattfinden wird. Von der vielbeschworenen Planungssicherheit kann einmal mehr keine Rede sein.

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Ganz egal, auf welche Club- oder Hallen-Website man auch klickt: Der „Verschoben“-Stempel dominiert die Vorausschau. „Bei uns sind mehrere Tausend Veranstaltungen betroffen, die entweder mehrmals verschoben oder ganz abgesagt werden mussten“, berichtet Stephan Thanscheidt, Geschäftsführer und oberster Festivalbooker bei FKP Scorpio in Hamburg. Zu welchem Zeitpunkt man das System wieder hochfahren kann, sei nicht eindeutig zu beantworten. „Wir richten uns in jedem Fall nach den jeweiligen politischen Vorgaben und brauchen bei Tourneen natürlich einheitliche Regelungen innerhalb Deutschlands. Wenn Konzerte in manchen Bundesländern nicht möglich sind, in manchen vielleicht und in einigen auf jeden Fall, hilft uns das verständlicherweise nicht weiter. Wir brauchen Verlässlichkeit für ein funktionierendes Tourneegeschäft, auf nationaler und internationaler Ebene.“ Und gerade daran mangelt es am meisten.

„Bis zum Jahreswechsel konnte niemand verbindliche Aussagen zu Omikron machen, außer dass diese Variante ansteckender ist als Delta. So beschränkt sich mein Job aktuell darauf, für 2022 alles wieder umzuplanen. Februar und März wird schwierig. Die April-Touren behalten wir noch im Auge, zumindest bei europäischen Bands auf Club-Ebene. Ich denke da an Shows mit reduzierter Kapazität im Rahmen des Starthilfe-Programms“, sagt Julia Frank, die bei der Frankfurter Konzertagentur Wizard Promotion überwiegend internationale Acts bucht. Eine Sisyphos-Arbeit, die mittlerweile zur nüchternen Routine geworden ist. Intern kursieren „Verschiebe-Charts“. Zu den Rekordhaltern gehört das schwedische Indierock-Duo Johnossi, das seine Deutschland-Tour bereits zum fünften Mal nicht antreten konnte. Die Band Red kommt auf sieben Umbuchungen.

Für viele US-Bands ist der föderale Flickenteppich in Deutschland ein schwieriges Terrain

Viele Veranstalter gehen fest davon aus, dass das erste Quartal 2022 für das klassische Tourgeschäft verloren ist. Und selbst bei günstigem Pandemieverlauf wird der Betrieb im ersten Halbjahr 2022 eher schleppend wieder anlaufen. Für viele US-Bands, die im eigenen Land eine paradiesische Situation mit nahezu unbeschränktem Livebetrieb vorfanden (der aber auch dort gerade wieder eingeschränkt wird), ist der föderale Flickenteppich in Deutschland ein schwieriges Terrain. Zu kompliziert und für eine Tourplanung aus Übersee mit zu vielen Risiken verbunden. Eine Situation, die an das Containerschiff-Unglück im Suezkanal erinnert: Ein massiver Rückstau entsteht. Rollt das weltweite Geschäft aber wieder an, werden die Termine knapp. Es wird lange Zeit dauern, bis alles wieder im Rhythmus ist. „In meinem Bereich werden Konzerte aus drei Jahren in einem einzigen Sommer stattfinden“, sagt Julia Frank, die mit den Planungen von 40 bis 50 Bands jongliert. Die Tour von Faith No More musste sie für 2022 absagen. Ansonsten heißt es, im ständigen Dialog mit Agenten oder Bandmanagern immer neue Slots in den Spielstätten zu finden. Und nach der Leere droht ein geballtes lokales Überangebot. „Gehen die Leute dann wirklich dreimal pro Woche ins Konzert?“, fragt nicht nur Frank Dietrich vom Gleis 22. Er berichtet vom schwer kalkulierbaren Publikumsverhalten: Bei einem Herbst-Konzert mit 170 verkauften Tickets wären 40 Leute mit Karten aus dem Vorverkauf einfach nicht gekommen. Trotz Hygiene-Konzept bestünde eine gewisse Unsicherheit bei den Fans. Dicht an dicht vor Bühne – eine Vorstellung, die mache schreckt. Eine stinknormale Lockerheit im Konzert muss sich erst wieder einspielen.

Ein anderes Problem ist das Wegbrechen des technischen Personals: Vielfach Solo-Selbständige, denen nach zwischenzeitlicher Hoffnung nun wieder der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Aus dem ALG-II-Status scheint eine Umschulung der einzige Weg – nicht nur das Handwerk lockt mit Jobs. Für den Musikbetrieb sind sie dann erstmal verloren. Und der eiserne Kampf des Produktionsleiters Dany Ray, der sich gegen sein „faktisches Berufsverbot“ durch alle Instanzen klagt, wird als Präzedenzfall die Lage der Freien bestenfalls mittelfristig verbessern. Ein Richter in Neumünster wies Rays Klage in erster Instanz ab: Eine Existenzgefährdung könne erst dann anerkannt werden, wenn der Kläger obdachlos auf der Straße leben muss.

Auf der anderen Seite türmen sich Vorverkaufstickets, die im Laufe der vergangenen zwei Jahre gekauft worden sind. Beim Veranstalter-Forum wirbt man darum, diese Karten noch eine Weile an der Pinnwand stecken zu lassen. Schlummern doch zig Millionen Euro in Form von Gutscheinen bei den Ticketing-Dienstleistern, mit denen beim großen Konzerte-Verschieben zumindest die Auslastung kalkuliert werden kann. Doch mit dem neuen Jahr endet die Haltefrist, die der Gesetzgeber für die bereits vor der ersten Pandemie-Welle im März 2020 erworbenen Karten verordnet hat. „Der Vertrauensverlust bei den Besuchern wird durch jede neue Verschiebung immer größer“, sagt Livekomm-Sprecher Axel Ballreich. Während es bei kleineren Veranstaltern zu persönlichen Gesten der Solidarität kommt, endet bei Bands ohne starke Fanbindung vielfach die Geduld.

Adventskalender Playlist 2021
Die Erdmöbel

Wie sich Konzerte derzeit für die Musiker anfühlen, kann Ekki Maas von Kölner Band Erdmöbel erzählen, die mit ihrer traditionellen Weihnachtstour in die Schließungswelle hineingeraten sind. „Wir hatten Ende 2021 das Glück, dass die Hälfte unserer Termine nicht abgesagt wurde. Unser Publikum hatte das Vergnügen, uns dabei beobachten zu können, wie wir mit den veränderten Bedingungen klarkommen: Halbierte Anzahl, geimpfte und getestete Maskenträger, Tanzen und Anfassen verboten. Es war trotzdem sehr schön und atmosphärisch dicht. Musik kann so was – aber bitte nur ausnahmsweise!“ Die Band habe auf der Bühne deutlich gespürt, dass Konzerte weiterhin dringend gebraucht werden. „Die Leute sind nicht aus Langeweile hier. Entsprechend ernst haben wir unsere kulturelle Aufgabe da genommen. Und entsprechend viel kam dann auch von den Leuten zurück.“

Ansonsten reagieren viele Künstler und Künstlerinnen nur noch genervt auf die Corona-Lage. Die anfangs mit einer gewissen Euphorie gestarteten Streaming-Aktionen haben sich schnell abgenutzt. So kommen gerade Newcomer nicht so recht vom Fleck weg. Es fehlen ihnen mittlerweile zwei Jahre in einer normalen Pop-Biografie, die vom Wechselspiel zwischen Studio, Touren und Festivals lebt. Der Rhythmus, in dem sich nach einem erfolgreichen Debutalbum die künstlerische Entwicklung organisch hochschaukelt, ist nachhaltig gestört. Gerade spielstarke Livebands sind komplett ausgebremst. Von einem unerwarteten Energieschub berichtet Rob Eliis, Sänger der Indie-Pop-Band Cassia aus Manchester, die in Berlin eine zweite Heimat gefunden hat. Zwölf ausverkaufte Shows habe man bis Mitte absolviert November – in England. „Ohne Masken oder Beschränkungen. Wenn du da oben stehst, vergisst du, dass es Corona überhaupt gibt.“

Back to Live? Unbedingt, wenn die Musik, wie wir sie lieben, überleben soll

Aber auch die Briten erlebten nach ihrem „Freedom Day“ das Fiasko steigender Corona-Zahlen und kassierten die Freiheiten nach und nach wieder ein. Doch trotz aller Hygiene-Konzepte, die in Deutschland zuletzt bis zur Version 2G plus PCR gereift sind, nutzten nichts, alle Bemühungen waren umsonst: Rock’n’Roll und „Tanzlustbarkeiten“, wie es im Behördendeutsch heißt, gelten als Panademie-Treiber und sind die ersten, die unter verschärften Einschränkungen zu leiden haben. Auch wenn ein Nachweis dafür unter den neuen Impf- und Test-Bedingungen nie schlüssig erbracht wurde.

Back to Live? Unbedingt, wenn die Musik, wie wir sie lieben, überleben soll. In der aktuellen Corona-Welle bedeutet das ein nochmaliges Zugehen auf die Politik. Verbunden mit der Hoffnung, nicht doch noch die Corona-Soforthilfen zurückgezahlt werden müssen. Für die einst und gerne staatsfern agierende Branche kein kleiner Schritt. Zwei Grüne sind vor allem gefragt. Bereits im Oktober 2020 hatten der heutige Wirtschafts- und Energie-Minister Robert Habeck und der heutige Kultur-/Medien-Sprecher der Grünen, Eckhard Grundl, einen 10-Punkte-Plan aufgesetzt. Ein vermeintlich passgenaues Rettungspaket für die Veranstaltungsbranche, wie es damals hieß. Und einiges daraus findet sich im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Zunächst wird wie geplant das Rettungsprogramm „Neustart Kultur“ auch 2022 weitergeführt, sollen neue Ausschreibungen die Unterstützungsarbeit für den Musikbereich fortsetzen. Auch der „Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen“ wird fortgesetzt. Claudia Roth, die neue Staatsministerin für Kultur und Medien, lässt dazu im Amtsdeutsch verkünden: „Angesichts der aktuellen Entwicklungen werden mit einer befristeten Sonderregelung auch freiwillige Absagen von Veranstaltungen abgesichert. Die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder und der Bundeskanzler haben die Weiterführung des Sonderfonds erneut unterstützt.“

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Niemand weiß heute, wie viele Konzerte und Tourneen noch verschoben werden müssen, wie viele Pandemie-Wellen Künstler*innen, Fans und Branche noch aushalten müssen. Ab April wird es besser, sagen einige. Ab Sommer, andere. Wann auch immer: Sicher ist nur, dass Musik erst wieder richtig lebt, wenn sie auch live stattfindet.


#BackToLive

Wir haben ab 26. Januar einen digitalen Space gestartet, den wir für Bands, Musiker*innen, Veranstalter*innen, Clubs und Solo-Selbstständige im Live-Musik-Geschäft eingerichtet haben. Hier können alle ihre Konzertankündigungen, -verschiebungen und -absagen kommunizieren und sich über Projekte, Jobs und besondere Veröffentlichungen informieren. Hier können auch Statements gemacht und Meinungen diskutiert werden.

Schickt eure Infos und Kommentare (maximal 700 Zeichen) zur (kostenlosen) Veröffentlichung, gern mit Foto, an: backtolive@rollingstone.de. Die BackToLive-Seite findet ihr unter rollingstone.de/backtolive

Matthias Sandmann
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