Avalon, Mississippi / Maik Brüggemeyer
„Avalon Blues“ von Mississippi John Hurt
Die meisten denken wohl, wenn sie die Namen „Avalon“ hören und nicht sofort den gleichnamigen Roxy-Music-Song im Ohr haben, an die mythische Insel aus der Artussage, auf die der in der Schlacht von Camlann schwer verwundete König gebracht wurde. Aber das Avalon, das ich meine, gibt es wirklich. Ich kenne es aus einem Song. Geschrieben hat ihn ein 34-jähriger Landarbeiter namens John Hurt im Dezember 1928 in New York City. Wie er in die große Stadt kam, ist eine längere Geschichte:
Einige Monate zuvor hatte mitten in der Nacht sein Freund Willie Narmour, der den Schulbus fuhr und die Fiddle spielte, an die Tür seiner Shotgun Shack (so nannte man im Süden die kleinen schmalen Holzhütten, in denen vor allem schwarze Landarbeiter und Sharecropper lebten) geklopft. Als Hurt öffnete schaute er in die Scheinwerfer eines Automobils. Das gehörte zu zwei Männern, von denen der eine sich als Tommy Rockwell vom Plattenlabel OKeh Records vorstellte und fragte, ob er Mississippi John Hurt sei. Hurt nickte. Und der Fremde fuhr fort, er habe gehört, dass Hurt, sehr gut Gitarre spiele und schön singe. Ob er nicht Lust habe, in Memphis ein paar Lieder für eine Schallplattenveröffentlichung aufzunehmen. Hurt hatte Lust, fuhr im Februar 1928 mit der Bahn die 200 Kilometer gen Norden, um Rockwell und dem Toningenieur Bob Stephens (der zweite Mann, der ihn in Avalon aufgesucht hatte) in der Stadt am Mississippi acht Lieder vorzuspielen, fuhr wieder heim nach Avalon und hörte nichts mehr von dem rätselhaften Mann. Bis er im November einen Brief bekam, in dem Rockwell erklärte, die erste Single sei gut gelaufen, ob er nach New York kommen könne, um weitere Songs aufzunehmen. Hurt traf Rockwell am 19. oder 20. Dezember 1928 in Memphis auf dem Bahnhof. Der drückte ihm 49 Dollar für die Zugfahrt in die Hand und sagte, er könne leider nicht mitfahren. Also machte Hurt sich alleine auf in die riesige Stadt an der Ostküste. Dort angekommen schrieb er völlig überfordert von den vollen lauten Straßenschluchten aus Heimweh an das beschauliche Heimatstädtchen den „Avalon Blues“.
Man erfährt nicht viel über Avalon in diesem Stück. Nur dass es sich um eine kleine Stadt handelt und dass seine „pretty mama“ dort auf ihn wartet. Aber die Sehnsucht, die in Hurts Stimme liegt, hat in mir gleich beim ersten Hören vor fast drei Jahrzehnten den Wunsch ausgelöst, dieses Avalon mal zu besuchen. Ich habe seitdem viel über den Ort gelesen, in dem es mal eine Postation gegeben hat, eine Dorfschule und drei Gemischtwarenläden. 1920 lebten dort etwa 440 Menschen. Die meisten schwarze Landarbeiter, darunter auch Hurts Brüder Cleveland, Junious, Hennis und Jim und seine Schwestern Annie und Ella, aber auch Eisenbahner wie Walter Jackson, von dem Hurt den „Spike Driver Blues“ lernte, der norwegische Schmied C.S. Cristoferson und die Lehrerinnen Florence Liddell und Fannie Sabin. Es kommt mir fast vor, als würde ich sie alle persönlich kennen, obwohl ich nie dort war.
Als ich schließlich vor einigen Jahren im Kino saß und die Dokumentation „American Epic“ meines Freundes Bernard MacMahon schaute, sah ich auf der Leinwand grüne Bäume und Wiesen und staubige Straßen und plötzlich tauchte ein Schriftzug auf: „Avalon, Mississippi“. Zum vertrauten Picking von Mississippi John Hurt erzählte Robert Redford aus dem Off, dass dieser für mich so mythische Ort mittlerweile von der Zeit verschluckt worden war und nur noch ein „abandoned hamlet“ sei, ein verlassener Weiler. Doch die Hütte von John Hurt stand noch. Und davor stand seine Enkelin Mary Frances und erzählte: „Dieses Städtchen hat mal existiert, es war ein richtiger Ort, hier lebten richtige Familien.“ Dann führte sie uns in einen Wald, um den Ort zu zeigen, den ihr Großvater jeden Morgen in aller Frühe aufsuchte, um den Vögeln zu lauschen und die ersten durch die Baumkronen dringenden Sonnenstrahlen einzufangen. An einem Novembermorgen im Jahr 1966 brach er hier zusammen und starb wenig später im Krankenhaus in Grenada/Mississippi. Nun liegt er an seinem Lieblingsort unter den Bäumen begraben. Irgendwann werde ich ihn dort besuchen.