Auf der Suche nach dem dünnsten Eis
Auf "„Years Of Refusal" beschäftigt sich Morrissey mit jemandem, den er zumindest manchmal mag: sich selbst.
Die schönen silbernen Kannen in der schicken Londoner Hotelsuite können Morrissey nicht locken. „Ich habe noch nie in meinem Leben das Konzept von Kaffee verstanden“, sagt er verächtlich – und fragt dann mit durchdringendem Blick: „Was bringt Kaffee?“ Und während man also versucht, begreiflich zu machen, was die Vorzüge von Koffein sind, ‚wenn man um vier Uhr morgens aufgestanden ist, um zu einem Interview mit einem als schwierig geltenden Sänger zu fliegen, sagt dieser plötzlich: „Ich hoffe, ich ruiniere dir nicht den Tag.“
Freundlich ist Morrissey, aber immer in Habachtstellung. Sein neues Album heißt nicht umsonst „Years Of Refusal“. Wenn er ausnahmsweise mal herzlich lacht, schlägt er sich im nächsten Moment die Hand vor den Kopf— vermutlich erschrocken vor der eigenen Lockerheit. Im Studio, behauptet er. müsse er sich „absolut wohlfühlen“, um beim Singen sein Bestes geben zu können. Aber ist Morrissey je entspannt, geht das? „Mental explodiere ich vielleicht, aber wenigstens körperlich muss ich mich wohlfühlen. Wenn ich ans Mikrofon trete, bin ich ohnehin absolut im Panik, ob alles funktionieren wird. Wenn es in vier bis sechs Takes nicht läuft, ist es sinnlos. Viel Druck also. Doch meistens klappt es.“
Viele der Songs von „Years Of Refusal“ hast du mit deiner Band schon bei der letzten Tournee gespielt. Hat das die Stücke verändert?
Die Struktur hat sich nicht verändert, aber wenn man sie live spielt, hat man natürlich mehr Drive und mehr Energie. Vielleicht ist das Album deshalb ein bisschen forcierter. Andererseits stelle ich oft fest, dass man bestimmte Ideen und Vorstellungen von einem Album haben kann, und dann führt einen der Aufnahmeprozess ganz woanders hin. Whatever will be, will be. Die Aufnahmen regieren sich selbst. Ich bin natürlich ein Teil davon, aber vieles ist eine Frage des Schicksals.
Gitarrist Alain White hat fünf der neuen Songs mitgeschrieben, spielt aber nicht auf dem Album. Warum?
Er musste aus persönlichen Gründen irgendwann aussteigen. Das hatte nichts mit mir zu tun! Er hat dann seine eigene Band gegründet, Red Lightning, und war damit sehr beschäftigt. Deshalb hatten wir in letzter Zeit nicht so viel miteinander zu tun. Aber es gibt keinen Groll zwischen uns.
Du hast Jerry Finn, der auch „You Are The Quarry“ (2004) produzierte, zurückgeholt. Wieviel Einfluss hatte er auf das Album?
Ein Produzent ist ziemlich notwendig. Was meinen Gesang betrifft, hat mir nie jemand etwas geraten oder mir eine Richtung gewiesen. Aber bei technischen Finessen nehme ich schon Vorschläge entgegen. Grundsätzlich sind die meisten Ideen aber so fixiert, dass keiner dreinreden kann. Wir sagen einfach: Das haben wir. das wollen wir machen. Hier sind die Songs, könntest du sie gnädigerweise noch ein bisschen besser klingen lassen?
Ist der Gesang am Ende der einfachste Teil der Aufnahmen?
Sicher! Ich merke immer erst, wie schwer meine Songs zu singen sind, wenn ich höre, wie andere es versuchen (lacht). Es gibt ja viele Cover-Versionen, und die mühen sich alle ab, aber bekommen die Phrasierung und die twists and twns nicht hin. Ich glaube, das liegt daran, dass ich ein sehr emotionaler Sänger bin. Das ist keine Wissenschaft, es kommt einfach vom Herzen, von nirgends sonst. Auch wenn Leute für mich Backing-Vocals singen sollen, tun sie sich schwer — because of the curves and the drops and the loops and the bends and sudden rises. so — it’s amusing. To me.
Das Album beginnt mit den Zeilen „I’m doing very well/ I can block out the present and the past now“. Ist das Wunschdenken?
(Kichert richtig los) Yes, it is. Es ist Pathos oder was auch immer. Offensichtlich geht es dem Protagonisten nicht sehr gut. Aber er bemüht sich!
Mit „I’m Throwing My Arms Around Paris“ feierst du geradezu das Reisen als Eskapismus.
Reisen ist natürlich eine Art Flucht das funktioniert immer. Man beschäftigt
seinen Kopf mit anderen, neuen Dingen. Man hat das sichere Gefühl, ein Ziel zu haben-und einen Grund, um zu packen. Man hofft, dass auf der anderen Seite etwas auf einen wartet. Nicht jemand, der einen abholt und heimbringt, sondern vielleicht ein Foto, das man unbedingt von einem Gebäude machen muss. Oder so. Es geht darum, ein Programm auszuarbeiten und in Bewegung zu bleiben.
Das letzte Album, „Ringleader Of The Tormentors“ (2006), war von Italien und dem Lebensstil dort beeinflusst…
Dieses hier ist komplett anders, ganz andere Geschichte, ganz andere Stimmung, ganz andere Zeit, ganz andere Gefühle. Ich bin ein Jahr in Rom geblieben, dort war ich absolut fasziniert vom italienischen Lebensstil. Aber dann hatte ich Rom verbraucht – nicht auf grauenvolle Weise, aber ich wollte die Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Ich musste weg, und daraus entstand „Years Of Refusal“. Der Titel fasst die letzten 26 musikalischen Jahre meines Lebens adäquat zusammen.
Ich finde, ich habe große Mühen auf mich genommen, um niemals in irgendeiner Form der schockierenden institutionalisierten Welt der Musik nachzugeben und mich anzupassen. I’ve always felt like a lone voice.
Ob das wahr ist oder nicht, sollen andere entscheiden, aber so habe ich mich immer gefühlt. Es kommt mir vor, als ob ich mit Verweigerung beschäftigt bin, seit ich beschlossen habe, Musik aufzunehmen.
Etliche Stücke „That’s How People Grow Up“, „l’m OK By Myself“ – handeln davon, dass es gut ist, allein zu sein.
Ist das Resignation oder Zelebrieren von Unabhängigkeit?
Ganz sicher letzteres. Wir werden ja alle indoktriniert zu glauben, dass wir uns paaren müssen, um glücklich zu sein. Dass wir Stärke nur in den anderen Menschen linden können. Dass andere uns all das geben müssen, was wir begehren. Ich glaube nicht unbedingt, dass das wahr ist. Seit der Sekunde, in der wir geboren werden, kümmern wir uns um uns selbst. Das ist uns doch ganz gut gelungen, wir sind noch hier. Also sind wir auch allein vollwertig.
Wir werden ständig unterdrückt und entkräftet durch die Vorstellung, dass wir als solitäre Figur nur eine halbe Portion sind, dass uns etwas fehlt. Und die Kehrseite der Medaille ist: Leute, die zusammen sind, verheiratet oder was auch immer, fühlen sich überlegen und denken, sie sind der herrschende Clan. Was Unsinn ist, denn bei den meistens herrscht heilloses Durcheinander und sie stehen am Rande der Scheidung…
(Holt tief Luft.) Ich gehe meinen Weg auf dieser Erde allein, und ich schwimme alleine, und ich gehe auch allein unter. So war es immer, und so wird es immer sein.
Hast du je einen Song nicht veröffentlicht, weil er dir zu persönlich war?
Ich habe nie Angst davor, etwas zu veröffentlichen. Nichts kann zu persönlich sein. Ich hatte immer das Gefühl, ich muss das dünnste Eis finden und darauf herumspringen. Das ist die einzige Möglichkeit für mich zu leben. Ich will das Risiko. In privater Hinsicht habe ich nichts zurückzuhalten, nichts zu schützen. Für mich ist das alles wie ein gigantischer Bungee-Jump, der noch nicht zu Ende ist.
Das Risiko der Kritik, gehst du also auch gern und ganz bewusst ein?
Jede Kritik, die ich bekomme, ist sehr, sehr persönlich. Und sehr, sehr verletzend. Aber man kann eben nicht beides haben. Diese sehr persönliche und verletzende Kritik ist ja auch ein Indiz dafür, dass man auf einer erhabeneren Ebene existiert. You are not merely a simple, trivial pop singer, singing any old spiel. Es ist sozusagen eine hinterhältige Anerkennung meiner Position. Außerdem sind ja wohl viele Schreiber neidisch, wenn sie sehen, wie das Publikum einen so ernst nimmt und für so wichtig hält. Aus diesen Gründen werden leider viele Künstler, die nichtssagend sind, nie kritisiert. Sie sind nicht interessant genug für Kritik. Sie bekommen stattdessen Preise und Platin-Alben. Traurig.
Hast du oft ans Aufhören gedacht?
Ja. Naja, vielleicht nicht oft, aber zwei-, dreimal war mir alles zu viel. Und dann wurde mir doch wieder klar: Dies ist eine Berufung. Eine absolute Berufung. Man muss sich völlig hingeben. Egal, wie ich mich an Tagen fühle, an denen ich mich lieber zurückziehen würde, bin ich doch überwältigt von dem Gefühl, dass diese Lieder gesungen werden müssen.
Du schreibst gerade deine Autobiografie. Weil du einige Missverständnisse klären willst?
Es wurden so viele komplett absurde Dinge über mich geschrieben – sehr extreme und fast unerträgliche Dinge. Was nicht ungewöhnlich ist, wenn man bekannt ist. Aber warum sollte ich darauf nicht antworten? Man muss sein Recht wahrnehmen, sich selbst darzustellen. Das werde ich nun tun. Ich habe erst angefangen zu schreiben, aber es ist geradezu lächerlich einfach.
Vor einem Jahr hast du dich mit dem „NME“ überworfen, weil sie dich angeblich falsch zitierten und dir Rassismus unterstellten. Hast du aus dem Disput etwas gelernt?
Jede Situation, so erbärmlich sie ist, bringt einen voran. Man merkt das vielleicht nicht gleich. Ich nehme es als unterschwelliges Kompliment. Man sagt etwas in aller Unschuld, und es wird zu diesem riesigen viktorianischen Melodram aufgeblasen: Der“NME“ ist entrüstet und kommt mit meiner Gedankenwelt nicht klar und kollabiert vor Schock und ruft die Polizei und so weiter. Das ist natürlich alles absoluter Unsinn, und ihre Reaktion war absoluter Unsinn, und alles war einfach bösartig.
Dich trifft also gar keine Schuld?
Ich war zu arglos. Zuerst waren sie so freundlich, deshalb war ich überrascht. Es war eine Falle. Das machen sie wahrscheinlich dauernd, sinkende Auflagen sind sicher ein Grund dafür. Jeder vernünftige Mensch weiß, dass ich Rassismus verabscheue.
Viel mehr hat dich sicher getroffen, dass kiirz nach den Aufnahmen zu „Years Of Refusal“ Jerry Finn starb.
Das war absolut schockierend. Eben noch sitzt man zusammen in seinem Haus, hört fertige Songs an und lacht sich einen Ast, und ein paar Wochen später hat er einen Herzinfarkt und eine Gehirnblutung, liegt im Koma und stirbt dann nach zwei Wochen. Ich war bei ihm im Krankenhaus, und der Verfall war unvorstellbar. Es ist eine Lehre. Eine Lehre, die wir nie wirklich lernen, weil die menschliche Natur so besessen von Trivialität ist. Man lässt sich von Absurditäten unter Druck setzen und ist hilflos gegenüber fast allem.
Im Mai wirst du 50. Ein Grund zum Feiern?
Geburtstage bedeuten mir nichts. Keine große Party. Warum auch? Ja klar, habe überlebt. Bin immer noch hier. Aber innerlich immer noch derselbe.
Das ist doch schon ein Grund.
Stimmt. Ich bin wohl zu bescheiden. Ja, ich sollte feiern.