Arroganz, Ade! Der Schnösel ist ein Auslaufmodell
Das Bürgertum brachte eine seltsame Spezies hervor: den elitären Typus. 200 Jahre lang beherrschte er Kultur und Wissenschaft. Damit ist es nun vorbei. Eine Grabrede auf den kultivierten Schnösel.Von Tilman Krause
Hin und wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken an den Kollegen S. Wie es ihm wohl gehen mag in diesen Zeiten? Ich sage „ertappe“, denn ich fühle mich ihm gar nicht besonders verbunden. Nein, im Grunde war er mir immer ziemlich unsympathisch.
Austausch auf Augenhöhe unmöglich
Er war für mich schon vor fünfundzwanzig Jahren der Inbegriff des arroganten Arschlochs. Denn er war auf uncharmante Weise überheblich und spielte gnadenlos seine Bildung aus. Konnte jemand nicht auf seine Anspielungen reagieren, ließ er ihn ungerührt stehen.
Überhaupt hatte er eine provozierende Art, Leute, mit denen zu sprechen er für unter seiner Würde fand, überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. Oder, fast noch unverschämter, er hielt ihnen weitschweifige Vorträge, dozierte stundenlang, womit jeder Austausch auf Augenhöhe unmöglich wurde.
Der hochnäsige Mensch stirbt aus
Das Merkwürdige war nur: Anstatt mit seinem autoritativen Gestus Unmut hervorzurufen, bewunderten ihn viele, vor allem seine Vorgesetzten. Es fehlte nicht viel, und die seit langen Jahren fest in ihren Sätteln sitzenden Ressortleiter und Chefredakteure hätten ihn mit „Eminenz“ angeredet.
Und ich frage mich heute, wie es ihm wohl gehen mag, weil S. und seinesgleichen inzwischen von der Bildfläche verschwunden sind. Nicht nur im Feuilleton-Journalismus. Auch bei den Geisteswissenschaftlern an der Universität, in Forschungskommissionen, Expertenrunden, Kulturstiftungen findet man diese Leute nicht mehr.
Ein sozialer Typus, der noch vor circa zehn Jahren erheblichen Distinktionsgewinn erziehen konnte, ist ausgestorben. Mehr noch: Würde er sich heute noch genauso hochmögend und herablassend artikulieren wie zu seiner großen Zeit, er würde noch nicht einmal mehr Anstoß erregen.
Er würde schlicht und ergreifend nicht mehr verstanden werden. (Oder, ganz im Gegenteil, arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen sich provozieren, denn so ein Verhalten lässt sich heute keiner mehr bieten.)
Mit der Hochkultur im Bunde
Was war das für ein Typus? Wer ist an seine Stelle getreten? Beginnen wir mit Ersterem und fragen: Wo kam er her, und wie wurde er sozialisiert? Nun, er war vor allem eines: mit der Hochkultur im Bunde.
Selbstverständlich hatte er kein Modefach wie Kulturmanagement studiert, sondern sich in mehreren altehrwürdigen Disziplinen der philosophischen Fakultät getummelt und seine Ausbildung mit dem Dr. phil. abgeschlossen.
Im Zweifel war das eher in München, Köln oder Bonn als in Berlin geschehen. Und ganz sicherlich nicht an einer ehemaligen Pädagogischen oder Technischen Hochschule. Sodann: Während seines Studiums hatte dieser Typus seine musikalischen Vorlieben weiter gepflegt, vielleicht in einem Streichquartett gespielt, in jedem Fall war er aber regelmäßig in die Oper und ins Konzert gegangen.
Was war man gebildet!
In den Semesterferien unternahm er allein oder mit ausgewählten Kommilitonen Bildungsreisen in jene Länder, die er mit seinen Eltern als Kind noch nicht besucht hatte, denn natürlich hatten sie den Keim für seine kulturellen Interessen gelegt, die der hier beschriebene Typus später am humanistischen Gymnasium vertieft hatte.
Da er meistens über das Büchergeld verfügte, das die Studienstiftung des Deutschen Volkes ihren Zöglingen großzügig gewährt, sah sich unser Typus auch früh in der Lage, eine Bibliothek aufzubauen, wobei er vorsichtig zu Werke ging, denn es galt die Gebiete auszusparen, die er später ohnedies aus Familienbeständen erben würde.
Natürlich las dieser Typus die Feuilletons und hielt sich auf dem Laufenden, was Neuerscheinungen anging. Aber sein Hauptaugenmerk galt ohne Frage den Klassikern.
„Seinen“ Goethe, Schiller, Heine kennen
War er noch dazu Germanist, so hielt er es für selbstverständlich, dass er „seinen“ Goethe, Schiller, Heine, Fontane, Thomas Mann, Kafka, Benn zu kennen und nicht nur zu kennen habe, sondern dass er sich diese Autoren auch innerlich so aneignete, dass er bei Bedarf mit passenden Zitaten punkten konnte, wenn diejenigen Kommilitonen, die nur die Sekundärliteratur lasen, wieder mal eine Torheit von sich gaben.
Er konnte dann auf das Lob seines Professors rechnen, denn wer vor dreißig Jahren an deutschen Hochschulen studiert hat, durfte sicher sein, dass er neben den Neutönern, die der Kulturbruch von 1968 ff. an die Unis gespült hatte, auch immer noch jene bildungsbürgerlich Geprägten fand, mit denen unser Typus es hauptsächlich hielt.
„Wer wäre noch so dämlich, seine Zeit auf die Lektüre französischer Zyklenromane zu verschwenden, wo er sich ihre Trivialisierung anhand von amerikanischen Fernsehserien reinziehen kann?“
Was gelegentliche Ausflüge an die reformuniversitären Diskursschmieden übrigens nicht ausschloss: Ein Sommersemester in Konstanz, Gasthören in Bielefeld, für die Romanisten ein Paris-Stipendium, um Foucault zu erleben, das durfte schon mal sein.
Das Profanum Vulgus hörte Popmusik
So vergingen die Jahre. Und unser arrogantes Arschloch, das vielleicht noch gar nicht so wahnsinnig arrogant und auch noch kein regelrechtes Arschloch war, sondern einfach nur ein Exponent jener alten Eliten, die in Deutschland seit Jahrhunderten so aufgewachsen waren wie er, unser Traditionalist, wie wir daher versuchsweise sagen wollen, er bildete also völlig unangefochten seine Fertigkeiten aus. Er traf ja schließlich überall auf Gleichgesinnte, die mal mehr, mal weniger Arschloch waren und arrogant nur insofern, als sie sich dem profanum vulgus überlegen fühlten.
Denn selbstredend gab es das vulgus auch vor 20, 30 Jahren schon. Das hörte Popmusik, schaute Fußball, bedröhnte und bekiffte sich. Und vestimentär war es auch leicht zu erkennen, nämlich am Einheitslook aus Jeans, T-Shirt, Sneakers, die damals noch Turnschuhe hießen.
Irgendwann hatte der Traditionalist dann zu publizieren angefangen. Man war auf ihn aufmerksam geworden. Seine Mitarbeit bei Zeitungen verstetigte sich, aber die Professoren machten ihm auch Avancen.
Das einzige Mal, dass der Traditionalist in seinem Leben in Entscheidungsnöte geriet, war wahrscheinlich der Moment, wo er sich fragen musste: Gehe ich nun lieber in den Journalismus, oder bleibe ich bei der Wissenschaft?
Die Geburt des Bildbungsbürger-Arschlochs
Wie immer er sich entschied, mit der Berufstätigkeit fing sein Leiden an. Denn das vulgus war auch nicht faul gewesen. Mit dem Ehrgeiz des Aufsteigers hatte es sich ebenfalls für die Zeitungen und die Unis qualifiziert.
Aber es hatte seine Angewohnheiten, seine Stillosigkeit, vor allem aber seine Ressentiments gegenüber denjenigen, die schon von Haus aus das eine oder andere mitbekommen hatten, in den Beruf eingebracht und machte nun dem Traditionalisten gehörig das Leben mehr als schwer.
Vielleicht meinte es das vulgus gar nicht mal immer böse, aber allein wie es sich in seiner ungeschliffenen Art ausdrückte, das war neben vielem anderen doch eine solche Anfechtung für den Traditionalisten, dass sich dessen Wesen verhärtete.
Jetzt erst ging er ganz in der Rolle des arroganten Arschlochs auf, pochte unablässig auf seine Bildung und merkte insgeheim doch mit der Zeit, dass diese Bildung immer mehr angezweifelt wurde. Denn das vulgus, innerlich unsicher und darum bestrebt, so zahlreich zu werden, dass seine Defizite niemandem mehr auffielen, führte jetzt einen anderen Bildungsbegriff ein.
Erinnert sich noch jemand an den Kulturkanon?
Die griechischen, lateinischen, ja sogar die deutschen Klassiker galten irgendwann nichts mehr. Der Betrieb trat an die Stelle des Kanons. Und apropos Kanon: Von Jahr zu Jahr stand er mehr im Zeichen eines erweiterten Kulturbegriffs.
Das Fernsehen, später dann die social media, das ganze selbstreferenzielle System des Kulturbetriebs, das vor allem Rainald Goetz so wunderbar staunend erst und dann hassend, wiewohl noch immer tief fasziniert beschrieben, dekonstruiert und letztlich doch kräftig mitmystifiziert hat: Es schob sich, schiebt sich weiter und weiter nach vorn.
Das hat Konsequenzen auch für die Umgangsformen. Die Arbeit am Auftritt erfordert jetzt nicht mehr das Exklusive, Kennerhafte, Unbeeindruckbare. Nicht mehr die systematisch erworbenen Kenntnisse zählen, sie könnten ja nur die steilen Thesen kaputt machen. Das sporadisch Aufgeschnappte, überhaupt die okkasionelle Intelligenz, die sich mal hier, mal da an etwas Grellem, Buntem, Verrücktem entzündet, macht Furore.
Heute? Hauptsache Aufregung und Remmidemmi
Gefragt ist seit etwa zehn, fünfzehn Jahren ein dauerndes Auf-dem-Sprung-Sein, eine latente Begeisterungsfähigkeit, die nur auf den Anlass lauert, um sich dann in Kampagnen-Kapriolen förmlich zu überschlagen. Dass der jeweils neue Kaiser, den man wortstark ausruft, meistens nackt ist, stört niemanden, Hauptsache, es herrscht Aufregung und Remmidemmi. Wer da skeptisch bleibt, ja stoisch darüberstehen, gar sich heraushalten wollte, ist aus dem Rennen.
„Verweissysteme sind längst nicht mehr die Verfertiger der Hochkultur, sondern Pop oder besser noch Trash“
Verweissysteme sind längst nicht mehr die etablierten Verfertiger der Hochkultur, sondern Pop oder besser noch Trash. Niemand kommt heute noch mit einem Goethe-Zitat um die Ecke. Zu altbacken! Aber wer sich mit dem YouTuber LeFloid auskennt, der hat schon mal ganz gute Karten.
Haben wir Schiller und all das zu Ende gedacht?
Wer wäre heute noch so dämlich, seine kostbare Zeit auf die langwierige und mitunter ja auch mühsame Lektüre der französischen Zyklenromane von Balzac, Zola, Proust zu verschwenden, wo er sich die Trivialisierung ihrer narrativen Prinzipien doch viel schneller anhand von amerikanischen Fernsehserien reinziehen kann?
Aber wehe, man bezieht sich da auf etwas, was die Hipster von Friedrichshain oder Prenzlauer Berg gerade uncool finden, dann ist es mit dem Renommee aber ganz schnell wieder vorbei.
Wer nicht witzig ist, kann einpacken
Und dann natürlich: Lustigsein ist Trumpf. Wer nicht witzig ist, kann gleich einpacken. Gravitas, die manchem Thema ja möglicherweise noch immer angemessen ist, Melancholie, die vielleicht beim einen oder anderen noch zum Persönlichkeitsprofil gehört: Sie passen nicht mehr in die Zeit. Was macht man da als altgedientes arrogantes Arschloch?
Vielleicht schlägt man ein allerletztes Mal bei Schiller nach. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, hatte der in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ geschrieben.
Das kennen arrogante Arschlöcher natürlich. Aber haben sie, ich könnte auch schreiben: Haben wir, die Arroganten und Traditionalisten, Schiller auch zu Ende gedacht? Jetzt können wir es nachholen. Es bleibt uns auch nichts anderes übrig als das Spiel. Und die gute Miene dazu, sei das Spiel nun böse oder gut.
Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung der Kollegen von Welt.de