Arne Willander schaut fern: Ernie, Bert und der Schokoladenkuchen
Die anarchische Gasse: Vor 50 Jahren wurde in der ARD die „Sesamstraße“ mit Jim Hensons drolligen Puppen eingeführt.
Meine liebste Geschichte von Ernie und Bert geht so: Ernie sitzt vor einem Teller und macht einen zufriedenen Eindruck. Neben ihm steht ein zweiter Teller mit einem großen Stück Schokoladenkuchen. Jetzt kommt Bert dazu und fragt mit seiner Bürokratenstimme, wo denn das andere Stück Schokoladenkuchen geblieben ist. Ernie sagt, er wisse nicht, wovon die Rede sei. Na, das andere Stück Schokoladenkuchen, sagt Bert.
Ich weiß nicht, was du meinst, sagt Ernie. Dann schaut Bert auf den Teller vor Ernie und sagt, dass Schokoladenkrümel darauf liegen. Ernie sagt: Das stimmt, das sind Schokoladenkrümel. Bert fragt, wie sie da hingekommen sind. Ernie sagt: Ich weiß es nicht, aber möglicherweise kam ein Monster und hat den Schokoladenkuchen aufgegessen. Möglicherweise, sagt Bert und geht weg. Jetzt kommt das Krümelmonster, isst das zweite Stück Schokoladenkuchen und verschwindet. Ernie sagt in die Kamera: Oh Mann, das glaubt mir ja keiner! Bert kehrt zurück. Ernie sagt, dass ein Krümelmonster das Stück Schokoladenkuchen gefuttert hat. Bert glaubt ihm nicht und geht ab.
Die erste „Sesamstraße“ in der ARD wurde im Januar 1973 gezeigt. Die Kinder sahen eine Straße, die wahrscheinlich in einem weniger wohlhabenden Stadtteil von New York City liegen soll, aber aussieht wie eine Gasse in Neapel. Hier leben die Fabelwesen Oscar, Bibo und Grobi und menschliche Aufsichtspersonen wie Gordon, die offenbar kein Zuhause haben. Man steht in Hauseingängen, sitzt auf Treppen oder in Mülltonnen und fährt auf Rollern – ein Idyll also, wie es sich jedes deutsche Kind ersehnte.
Die deutsche „Sesamstraße“ traute der Anarchie des Originals nicht
In unvergesslichen Schwänken traten Graf Zahl, Virginia Virginia, Bennett Snerf und Lefty, The Salesman (in der deutschen Fassung: Schlemihl) auf, lauter Figuren aus Jim Hensons Puppenmanufaktur. Es gab auch schon den Frosch Kermit und eine Figur namens Muppet.
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Die deutsche Fassung wurde bald von zwei Erziehungsberechtigten geleitet, Lilo Pulver und Henning Venske, die den Zottelbären Samson und die nervige Tiffy beaufsichtigten und sympathisch waren, aber niemals den Zauber des amerikanischen Fantasiereichs erreichten.
Und warum war das so? Weil die deutsche „Sesamstraße“ didaktisch sein wollte. Statt die Anarchie der Kinder zu verdoppeln wie „Sesame Street“