
Arne Willander schaut fern: Das schönste Kino der Welt
„Jeanne Dielman“, „Annas Begegnungen“: In der Mediathek von Arte sind die Filme der großen Chantal Akerman zu entdecken.

Es gibt einen drolligen Eintrag bei Wikipedia zu dem Film „Jeanne Dielman“: „Seit den 2010er-Jahren wird der Film zunehmend als sehr bedeutsam wahrgenommen.“ Seit einer Umfrage des British Film Institute 2022 gilt er als bester Film aller Zeiten. Die Umfrage findet alle zehn Jahre statt; früher führten „Citizen Kane“ und „Vertigo“ die Liste an.
Chantal Akerman, die Regisseurin von „Jeanne Dielman“, hat das nicht mehr erlebt. Sie brachte sich im Jahr 2015 um. Sie drehte den Film 1974 in einer Wohnung in Brüssel mit Delphine Seyrig, einer Grande Dame des französischen Kinos. Dreieinhalb Stunden zeigt der Film in langen Einstellungen, wie Jeanne Dielman mit ihrem Sohn in ihrer Wohnung lebt. Manchmal kommt ein Mann zu Besuch, mit dem sie ins Schlafzimmer geht. Sie kauft ein, sie kocht, sie wäscht ab, sie macht das Bett, sie spricht mit ihrem Sohn. Man sieht den Wohnzimmertisch. Eine Terrine steht darauf.
Bevor der Film zunehmend als bedeutsam wahrgenommen wurde, bekam er 1975 einen Preis beim Filmfestival von Fårö, Ingmar Bergmans Insel. Sogar Bergmans Filme wirken wie Spektakel neben Chantal Akermans laut- und schmucklosen Beobachtungen. Ihren ersten Film drehte sie 1968 in derselben Küche, in der sie ihren letzten machte, „No Home Movie“, über ihre Mutter.
Akerman drehte Dokumentarfilme und schuf Installationen, und alles, was sie erfand, war radikal, wie man so sagt. Alles war einfach. 1978 machte sie „Annas Begegnungen“ mit Aurore Clément, einer ihrer Lieblingsschauspielerinnen. Anna ist Filmregisseurin, die zu einem Festival nach Essen kommt. Sie begegnet Helmut Griem im Hotel. In Bottrop steht er vor seinem Haus und erzählt Anna seine Lebensgeschichte wie auf einer Theaterbühne.
Im nächtlichen Zug von Köln nach Brüssel trifft sie Hanns Zischler, der ihr im Gang vor dem Abteil seine Lebensgeschichte erzählt. Am Bahnhof in Brüssel wartet Annas Mutter. In Paris wartet ein Mann, Daniel, mit dem sie in ein Hotelzimmer geht. Das ist der ganze Film.
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Wie sonst nur bei Wim Wenders und Aki Kaurismäki gibt es keine Hast und keine Tricks im Kino von Chantal Akerman, nur Schauen. Bei Arte gibt es sechs Filme von ihr zu sehen, auch „Jeanne Dielman“ und „Annas Begegnungen“. Es sind die schönsten Filme der Welt darunter.