Arcade Fire live in Berlin: Wenn Songs mal nicht so swingen – Pullover schwingen
Auch 2017 beherrschen Arcade Fire das wohlorganisierte Chaos. Live überzeugen die neuen Songs jedoch noch nicht.
Arcade Fire machen live noch immer vieles richtig. Die Musiker, ehemals zwölf, nun runtergetrimmt auf neun, spielen weiterhin ihre verschiedene Rollen: Mal sind sie der Zirkus, der in die Stadt kommt („Wake Up“), was heißt, dass sie gut drauf sind. Dann verkörpern sie die New-Orleans-Prozession, die über die Bühne zieht („Intervention“), was heißt, dass sie nicht so gut drauf sind.
Selbst ihre als impulsiv wahrgenommene, aber bei dieser Ensemble-Größe – keiner darf schließlich den anderen über den Haufen rennen – eingespielte Choreografie ist wohl vertraut. Will Butler, der Oskar Matzerath von Arcade Fire, springt auf den Frontmonitor und haut die Trommel. Richard Reed Perry trägt die weiße Mallorca-Jeans, sieht aber noch immer so furchteinflößend aus wie Malachai aus der Stephen-King-Verfilmung „Kinder des Zorns“.
Régine Chassagne macht den Tanz mit den Bändern der rhythmischen Tanz-Gymnastik. Und wenn die Songs mal nicht so swingen, und alle anderen Musiker, nur nicht sie gerade ein Instrument zur Verfügung haben, dann schwingt Chassagne, wann hat man so etwas das letzte Mal auf der Bühne gesehen, vielleicht bei Tina Turner, im Takt ihren Pullover über den Kopf.
Richtig neu ist das Bühnenbild. Im Hintergrund steht eine Art Aquarium ohne Wasser; ein überdimensionales Schaufenster, in das sich die Musiker beizeiten begeben und als Schatten bewundern lassen. Am Ende schreitet auch Régine Chassagne hinein und tanzt unter dem animierten Symbol der „Neon Bible“, das auch heute noch, zehn Jahre später, eines der schönsten und rätselhaftesten Album-Art-Symbole darstellt.
Reise nach Jerusalem
2004 wurden Arcade Fire mit ihrem Debüt „Funeral“ aus dem Stand zu einer der wichtigsten Bands des neuen Jahrtausends. Mittzwanziger, die über den Tod singen, gibt es zwar zuhauf. Aber dies waren Mittzwanziger, die über die Last von Beerdigungen sangen. Über Familienbürden, Erinnerungen, vergilbte Fotoalben, Rituale. Die nächste Stufe wurde gezündet, als Arcade Fire mit diesem Material erstmals auf Tour gingen. Den Bigband-Rocksound übertrugen sie in eine noch flammendere Live-Darbietung mit allerhöchstem Schauwert. In den seltensten Fällen spielte jeder mehr als zwei Songs lang dasselbe Instrument, was bei einem Dutzend Mitgliedern für maximale Bewegung auf der Bühne sorgte, Reise nach Jerusalem allein an Drums und Keyboards.
So zählen Arcade Fire zu jenen Gruppen, die aus sehr guten Studiosongs noch bessere Live-Songs machen können. Wenn eben die Songs sehr gut sind. Wie wird das Ende Juli erscheinende, fünfte Album „Everything Now“? In diesem Jahr veröffentlichte die Band bereits vier Singles, sie hinterließen Ratlosigkeit. Disco- und Electro-Clash-Stücke, bei denen es 8-Bit-artig brazzt, und in denen der Chorus darin besteht, dass der Songtitel einfach ausgerufen wird („Everything Now“, „I Give You Power“). Das können Arcade Fire eigentlich besser. Es sind Lieder, die nicht mehr so klingen, als hätten zwölf Musiker die Köpfe zusammengesteckt. Sondern so, als hätte das Ehepaar Win Butler/Régine Chassagne sich als Duo versucht und die anderen sieben etwas drumherum arrangieren lassen.
Live schlagen sich diese neuen Arrangements entsprechend nieder. Die Wald-und-Wiesen-Romantik von „Neon Bible“ muss man nicht mögen, den Dachboden-Klang von „Funeral“ könnte man für angestaubt halten – aber da hatten noch alle auch auf der Bühne ihren kreativen Part. Der Neo-Soul von „Signs Of Life“ klingt nun auch in der Bühnenfassung so leblos, als würde man nachts auf dem Parkplatz in einem Auto sitzen, und im Radio läuft Leon Ware aus einem schlechten Kassettenplayer.
Abba, Abba, Abba
Das Titelstück „Everything Now“ wurde von jüngeren Hörern bereits mit dem „Abba ist Kult“-Gütesiegel bedacht, die Facebook-Timelines sind voll von Vergleichen mit den genialen Schweden. Die Vergleiche demonstrieren aber auch, was Abba besser gemacht hatten. „If It Wasn’t For The Night“ oder „Dancing Queen“ waren so reich an Kurswechseln, an Melodien, als bestünden sie aus lauter Refrains – „Everything Now“ von Arcade Fire aber wiederholt sich nach bereits einer Minute (und wer unbedingt den „Dancing Queen“-Vergleich anstrengen will, der hätte auch zu „Antichrist Television Blues“ von 2007 greifen können).
Was will man lieber hören, die alten Arcade Fire oder die neuen Arcade Fire? Schifferklavier von „No Cars Go“ oder der Mirroball von „Everything Now“? Gerade die Amerikaner lieben ja den Dancefloor-Kurs, den die Band seit dem Album „Reflektor“ von 2013 einschlägt. Die US-Kollegen vom ROLLING STONE bezeichneten die Platte als „Achtung Baby“ der Neuzeit. Ob Arcade Fire mit ihrem Schlager-Disco eine gute Figur machen, kann diskutiert werden.
Sie zelebrieren weiterhin die ständige Bewegung, die Fans lieben es. Es führt aber auch zu früher Atemlosigkeit. Vielleicht kommen Arcade Fire auch deshalb, selbst mit nun fünf Platten im Repertoire, selten über 16-Song-Setlists hinaus.
Gevatter Tod
Der Tod schwingt bekanntermaßen immer mit in ihren Liedern, das macht vieles dennoch so schön, so melancholisch. „The Suburbs“ widmet Win Butler auf der Bühne dem verstorbenen David Bowie und in „Reflektor“, bei dem Bowie im Background zu hören war, übernimmt der Arcade-Fire-Frontmann gar den Gesangspart seines Idols. „Creature Comfort“ dreht sich um Teenager-Selbstmorde, Jugendliche, die Schönheitsideale nicht erfüllen – und beinhaltet mit „God, If You Can’t Make Me Famous/ Just Make It Painless“ eine Zeile für die Ewigkeit.
Win Butler selbst ist gerade mal 37, doch in seinen Songs geht es seit den „Suburbs“ von 2010 zunehmend um die „Kids“, die um Selbstbestimmung kämpfen. Die Kinder sollen später alles besser machen. Der Schluss des Konzerts bietet einen Moment, in dem klar wird, für wen Butler Partei ergreift. Im Ausklang von „Wake Up“ wirft er einen Schellenkranz ins Publikum, in Richtung eines Kindes, das auf den Schultern seines Vaters sitzt. Das Ding fängt natürlich ein anderer Fan, ein Großer. Der Song ist vorbei, die Musiker wollen den Schauplatz verlassen. Aber nicht Butler. „Sir, please“, sagt der Sänger insistierend, mehrmals.
So lange, bis der Schellenkranz an den Kleinen weiter gereicht wird. Erst dann verlässt Butler die Bühne.