Arcade Fire im Interview: Win Butler über Corona, Ukraine und Trump
Fünf Jahre haben Arcade Fire sich mit ihrem neuen Album Zeit gelassen. Für „We“, das sie mit dem Radiohead-Produzenten Nigel Godrich aufnahmen, holten sie sich Inspiration bei Beat-Dichtern und russischen Revolutionären.
Aus der Reihe: Das Beste aus 30 Jahren ROLLING STONE – der Text erschien ursprünglich im März 2022
Ende März 2022, Arcade Fire spielen vier Konzerte im New Yorker Bowery Ballroom. David Byrne betritt die Bühne, sie singen gemeinsam John Lennons „Give Peace a Chance“, Schauspieler Mike Myers ruft: „Wenn die Demokratie im Land verloren ist, seid ihr geliefert. Es ist an der Zeit, aufzuwachen. Wake Up!“ – eine Anspielung an den größten Band-Hit, der daraufhin intoniert wird. In den Vorverkauf gingen die Tickets mit „Pay what you can“-Aufforderung. Am Ende werden mehr als 100.000 Dollar eingenommen. Alles geht an einen Ukraine-Hilfsfond. Es scheint, als sei Arcade Fire der Ausdruck einer politischen Haltung wichtiger denn je.
„Wichtiger denn je?“, entgegnet Win Butler, drei Tage nach den Auftritten. „Jeder handelt politisch, immer, und das muss so sein. Politik fängt damit an, aus dem Bett zu steigen, den Tag zu beginnen – und das Richtige zu tun.“ Seine Helden der Kindheit, sagt der Sänger von Arcade Fire, waren The Clash. „Meine Leuchtsterne. Sie zeigten mir, dass Musik und Politik zusammengehören.“ Als Arcade Fire vor eineinhalb Jahren den Song „Generation A“ vorstellten, enthielt der alles, was drin zu sein hatte: brennende kalifornische Wälder, Klimakrise und die Unzufriedenheit mit der amerikanischen Corona-Politik, die hunderttausende Tote verantwortete.
Mit „We“ veröffentlichen Arcade Fire nun ihr sechstes Album, eines, das Butler nicht „unser politisches“ nennt, aber ihr politisches ist, selbst wenn „Generation A“ es nicht aufs fertige Werk geschafft hat. Seit ihrem Debütalbum „Funeral“ von 2004 hat sich das amerikanisch-kanadische Kollektiv untypisch entwickelt. Während viele Alternative-Rock-Bands – und Arcade Fire galten in den Nullerjahren neben Radiohead und den Strokes als größte Alternative-Rock-Band – bei zunehmendem Erfolg den so genannten „Rückzug ins Private“ wählen und politische Statements meiden, gingen sie den anderen Weg. Sie wurden öffentlicher. Absehbar war das für lange Zeit nicht: „Funeral“, „Neon Bible“ (2007) und „The Suburbs“ (2010) erzählten noch, mit herrlich pompösem Gestus, von intimen, aber cineastischen Dramen. Arcade Fire besangen die Bestattungen von Familienmitgliedern, aber auch den von Eltern unterdrückten Wunsch nach Selbstverwirklichung; schließlich die Sehnsucht nach Rückkehr in die Kindheit, als es für jedes Problem eine Lösung zu geben schien. Sie spielten Steel Drum, Banjo, Geige, Windmaschine und Kirchenorgel, alles innerhalb eines Songs. „Neon Bible“ wurde sogar in einer Kirche aufgenommen. Kern der Band bildeten die Eheleute Regine Chassagne und Win Butler, sowie dessen – jetzt ausgestiegener – Bruder Will, was die Familienoperette noch greifbarer macht.
„Könnte ich meinen Sohn nicht auf Tour nehmen, hätte ich ein Problem“
Gründungsmitglied Will Butler vermeldete seinen Abgang zwei Monate vor dem „We“-Veröffentlichungstermin, was für ein Beben unter den Anhängern sorgte, die über die Gründe spekulierten. Es spricht für die Klasse einer sechsköpfigen Gruppe, dass bereits der Ausstieg der Nummer drei in der Hierarchie zur Sorge führt, dass die Musik nie mehr dieselbe sein würde. Die Aufnahmen von „We“ allerdings hat er noch beendet. „Ich liebe ihn über alles“, sagt Win Butler, mit 42 Jahren zwei Jahre älter als Will. „20 Jahre mit einem Bruder in einer Band zu spielen – Ist das nichts? Trauen Sie sich das etwa zu? Nicht viele können von sich behaupten, so etwas geschafft zu haben.“ Die Gründe für den Ausstieg des kleinen Bruders sind bislang nicht bekannt. Auch Win Butler benennt sie nicht konkret: „Will hat drei Kinder. Tourneen sind anstrengend. Könnte ich meinen Sohn nicht auf Tour nehmen, hätte ich ein Problem.“
Als Arcade Fire 2013 mit „Reflektor“ zu Superstars wurden, standen Familienthemen nicht mehr auf der Agenda. Sondern der Umgang mit einer neuen Rolle. „What if the camera / really do / take your soul?“, fragte Butler, unsicher, ob er im Blitzlichtgewitter noch er selbst bleiben könnte. Das Vorgänger-Album von „We“, „Everything Now“ (2017), ging einen Schritt weiter, die Band nutzte für ihre Songs nun Slogans, die in Medien verbreiteten Unsinn karikieren sollten. „Wir wollten die durch Social Media verbreiteten Desinformationen entlarven“, sagt Butler. „Mit Trump wurden die Fake News noch schlimmer.“ Arcade Fire hielten eine ironische Lobpreisung auf „Infinite Content“, also auf unendlich viele Inhalte, die auf uns einprasseln, und die wir kaum noch auf Wahrheitsgehalt überprüfen können.
Wörter wie „delete“, „algorithm“ oder „unsubscribe“, zu Vokabeln des Alltags geworden, sind auch auf der neuen Platte zu hören, aber auch die Public-Enemy-Parole „Don’t believe the hype“ von 1988. Die sieben Songs von „We“ knüpfen an die Frage an, ob sich die Wahrheit hinter Fake News entdecken, und wie sich der Aufstand gegen Regierungspropaganda bewerkstelligen lässt. Beeinflusst wurde das Album von zwei historischen Persönlichkeiten – sowie einem Himmelskörper. Der Albumtitel bezieht sich auf Jewgeni Samjatins dystopischem Roman „Wir“ aus dem Jahr 1920, dem ersten in der Sowjetunion verbotenen Buch, ein Vorläufer von Orwells „1984“. Es behandelt eine Diktatur, die durch einen Mann ins Wanken gerät, der sich unerlaubterweise verliebt. Als Individualist zu leben, wird nicht geduldet. „Samjatin musste nach Erscheinen des Romans untertauchen. Er nahm das in Kauf. Es beweist die Größe eines Künstlers, dass er sich nicht auf Linie bringen lässt, Missstände anspricht und dafür Konsequenzen in Kauf nimmt.“
Der zweite für das Album einflussreiche Mann war der Beatnik Lawrence Ferlinghetti, den Butler im Alter von 15 Jahren bei einer Lesung hörte; mit atemberaubender Nebensächlichkeit erwähnt er, dass er als Teenager sogar bei einer Lesung von dessen Freund anwesend war – Allen Ginsberg, der aus seinem legendären Gedicht „Howl“ vortrug. Das Eröffnungsstück „Age of Anxiety I“ ist eine Referenz an Ferlinghettis Poem „I am waiting“ von 1958. Das beklagt eine USA, deren „Amerikanischer Traum“ vom „Streben nach Glück“ sich für die meisten eben nicht erfüllt. Butlers Songtitel entstammt einer Zeile aus dem Gedicht. „Ich fühle mich der Beat-Generation nahe“, sagt er. „Die Beatniks stellten fundamental in Frage, was es heißt, Amerikaner zu sein. In den 1950er-Jahren weird zu sein? Der erste Hipster? Das bedeutete, sein Leben zu riskieren!“ Butler sagt, er habe geweint, als er das Gedicht nach 20 Jahren wiederentdeckte. Er zog Ferlinghettis Poesieband „Coney Island of the Mind“ aus dem Regal und schlug die richtige Seite auf. „Dies ist das Wunderbare an der Verknüpfung zwischen Dichtung und der künstlerischen Verarbeitung dessen Klangs. Jemand sagt Worte, sie finden ihren Weg in meine Gedanken. Sie wandern von dort in mein Unbewusstes. Mein Unbewusstes bringt mich dazu, mich Jahrzehnte später auf die Suche nach diesen Worten zu begeben. Und sie finden ihren Ausdruck in meiner Musik.“
Der russische Schriftsteller Samjatin war also eine Inspiration, dazu Ferlinghetti – und dann noch Sagittarius A. Kein Mann, sondern jenes zwar längst entdeckte, jüngst auch erstmals fotografierte, aber unmöglich zu erforschende, supermassereiche Schwarze Loch. Nach Sagittarius A haben Arcade Fire das Segment „IV“ ihrer vierteiligen Suite „End of the Empire“ benannt, und sie bilden das Schwarze Loch, verschmolzen mit der Aufnahme eines menschlichen Auges, auf ihrem Album-Cover ab. „Augen sind wie Schwarze Löcher“, befindet Butler. „Sie absorbieren Licht. Aber wir brauchen sie. Durch sie sehen wir die Welt. Durch sie lieben wir jemanden, vertrauen wir jemandem.“ Butler ist vom Weltraum fasziniert, er hofft, dass die Geheimnisse von Sagittarius A ergründet werden. Doch es macht ihn wütend, dass wir ins All hinauswollen, um Planeten zu besiedeln. Butler erregt sich derart, dass er seinen Laptop während des Zoom-Gesprächs vom Tisch hebt und an sich heranzieht, auf den Schoß: „Milliardäre fantasieren von Mars-Reisen! Motherfuckers!“. Er klingt wie ein Vertreter der Gegenkultur, wie ein Lawrence Ferlinghetti, der 1968 gegen das milliardenschwere Apollo-Programm protestierte, während die Armut auf den Straßen zunahm, Rassenmorde Amerika erschütterten und in Vietnam Menschen starben. „Fuck Mars! Unsere Polkappen schmelzen. Bringt erstmal unseren Planeten in Ordnung!“
Das Schwarze Loch Sagittarius A definiert auch den – Entschuldigung für das Wortspiel – Ereignishorizont des neunminütigen „End of the Empire“, in dem es um den Untergang Amerikas als Weltmacht geht. Es referenziert Lennons „Imagine“ und schwingt sich zu einer dynamischen Fanfare auf, die es mit dem „Abbey Road“-Medley der Beatles aufnehmen möchte. Butler spielt mit der Realität, postuliert ein drastisches Lebensende („Suicide mission /Baby by my side“) und verkündet dann doch nur den Ausbruch eines Streaming-Junkies aus der Bingewatching-Tristesse: „I unsubscribe / Fuck season five.“
Die Aufnahmen entstanden ab 2020 zum Großteil im texanischen El Paso, einer Stadt, die Butler als „damaliges Epizentrum von Covid“ bezeichnet. „Es starben derart viele Menschen, dass Häftlinge aus den Gefängnissen geholt werden mussten, um die Leichen zu transportieren. Es gab nicht mehr genug Fahrer, aber es fehlte auch an Krankenschwestern und Ärzten.“ Die Band arbeitete im Studio während eines Lockdowns. Aber sie bekamen genug mit. Auch die Präsidentschaftswahl erlebten sie in El Paso. „Die Stimmung im Bundesstaat Texas war aufgeheizt“, erinnert sich Butler, der seit 2019 die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, sich nun auch Kanadier nennen darf.
„We“ ist mehr Electro-Pop als Big Band
„We“ wird polarisieren, vermutlich so sehr wie „Everything Now“, dessen spitze Betrachtung von Netz-Phänomenen etliche Rezipienten vielmehr für schulmeisterlich hielten. Fünf Jahre später nun dieses Album, mit nur sieben Songs in knapp 40 Minuten, sechs davon unterteilt in jene Arcade-Fire-typischen Kapitelmarken wie „I-IV“, die Kritikern erneut die Gelegenheit geben, der Band einen bemüht literarischen Anspruch zu unterstellen. Dabei ist die Platte eine schlanke Angelegenheit, gerade im erstmals von Radiohead-Produzent Nigel Godrich eingerichteten Arrangement. Der Orchester-Kawumms frühere Tage, das deutete schon „Everything Now“ an, ist passé. „We“ ist mehr Electro-Pop als Big Band, sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass Butler und Chassagne während des Lockdowns Mühe hatten, die bis zu zwölf Musiker starke Formation zusammenzubringen. Diese Regel gilt wohl für alle, die komponieren: je mehr Electro, desto weniger Band.
Aber auch im Kämmerlein ging der Blick nach draußen. Die Einflüsse auf „We“ sind vielfältig. „Age of Anxiety I“ erinnert an Kate Bushs „Running Up That Hill“, „Age of Anxiety II (Rabbit Hole)“ an Fatboy Slims Flanger-Klangsphären seiner Interpretation von Jim Morrisons „Bird of Prey“, „The Lightning I, II“ ist eine Springsteen-Hommage wie aus der „Neon Bible“-Ära, und „Unconditional II (Race and Religion)“ eine Verneigung vor dem Worldbeat des vierten „Peter Gabriel“-Albums; noch bevor der Gedanke verarbeitet wird, ertönt Peter Gabriel tatsächlich, im Chor mit Chassagne. Arcade Fire lieben ihn, engagierten Gabriel für seine erste Song-Aufnahme seit 2016. Ihre Kooperationen mit Vorbildern werden stets dezent umgesetzt, nie als Duette – und sind dadurch umso wirkmächtiger. Gabriel doppelt den Lead-Gesang Chassagnes im Echo, und in der Vergangenheit unterstützten David Byrne („Speaking in Tongues“) und David Bowie („Reflektor“) deren Stücke mit hereinbrechenden, kurzen Gastauftritten. „Manchmal“, sagt Butler, „bemerken wir bei den Aufnahmen: Wir brauchen noch eine zusätzliche, dritte Stimme, eine, die nicht unsere ist. Einen Greek Chorus, der uns verstärkt.“ Die für ihre Band-Entwicklung wichtige Bedeutung der „zwei David B.s“, Bowie und Byrne, wurde ihnen bei den Charity-Konzerten in New York erneut bewusst. „Als Byrne mit uns ‚Give Peace a Chance‘ sang, erinnerte ich mich daran, dass er unserem ersten Headliner-Auftritt mit dem ‚Funeral‘-Album beiwohnte – er fand in der Bowery statt. Und auch Bowie sah uns dort das erste Mal.“
Der herausragende Song auf „We“ mutet während der Strophe wie eine Folk-Fassung von „Stayin‘ Alive“ der Bee Gees an und macht im Refrain ein Angebot zum Mitklatschen, das sich am Lagerfeuer-Schlager von Mumford & Sons orientiert: „Unconditional I (Lookout Kid)“, ein Liebeslied an den achtjährigen Sohn von Butler und Chassagne. „Er ist die Generation A, die Generation Alpha“, sagt Butler. „Ich hoffe, er wird nicht so wie die Menschen meiner Generation. Wir starren stundenlang aufs Handy – mein Junge muss denken, die Erwachsenen sind furchtbar langweilig. Seine Generation muss die Gegenkultur werden. Meinem Sohn stehen alle Informationen offen. Was wusste ich schon, als ich in seinem Alter war? Ich hörte eine Nachricht wie ‚der Sänger von Queen soll schwul sein‘, fand das toll, konnte es aber nicht recherchieren.“ Das unterscheidet die Generation A auch von dem ähnlich klingenden „Kid A“ von Radiohead – die Generation der Kinder ist nun da, und sie hat die Macht; der Kid A war noch alleine, überfordert.
„Wir müssen von unseren Kindern lernen, nicht sie von uns“, urteilt Butler. Vergangenes Weihnachten hatte er die Gelegenheit dazu. „Mein Sohn schlug vor, Pizzen zu kaufen – und sie zu verteilen. Wir gingen zu einer Obdachlosen-Zeltstadt unter den Autobahnbrücken von New Orleans.“ Butler legt eine Denkpause ein. „Schauen Sie, ich war schon in Brasilien. Ich war auf Haiti, wo meine Frau Regine ihre Wurzeln hat. Aber ich war noch nie in so einem Zelt im Downtown America. Zu sehen, wie diese Menschen leben? Das ist eine sehr intime Angelegenheit. Ich spürte Ehrfurcht vor diesen Obdachlosen, die aus Gründen in die Armut gerutscht sind, die wir nicht erahnen. Ich wäre nie in diese Zelte gegangen und hätte Essen verschenkt, wenn mein Sohn nicht die Idee dazu gehabt hätte.“ Der Filius, sagt Butler, ist immer bei der Band, im Studio und auf Tournee; er ist ein inoffizielles neues Mitglied von Arcade Fire.
„Wenn es mir gelingt, auch nur ein einziges gutes Lied zu schreiben, kann es von einer kommenden Generation entdeckt werden“
Seit 2016, so scheint es, schlittert die Menschheit von einer Krise in die nächste. Trump, Klimawandel, Corona, nun der Ukrainekrieg. Die Pausen zwischen Arcade-Fire-Alben hingegen sind stets lang, betragen mindestens drei Jahre. Hat Butler keine Angst, dass sich die Themen, die ihn beschäftigen, stauen? Wie verarbeitet er seine Sorgen um die Welt, wenn er über weite Strecken keine Musik veröffentlicht? „Ach“, wehrt Butler ab. „Die Songs, die ich als Jugendlicher hörte, stammen von Bands, die zum damaligen Zeitpunkt schon seit 20 Jahren nicht mehr aktiv waren. Wenn es mir gelingt, auch nur ein einziges gutes Lied zu schreiben, kann es von einer kommenden Generation entdeckt werden.“ Oder neu gedeutet. Er erinnert an ein Konzert der Trump-Ära, in dem Radiohead ihren Klassiker „No Surprises“ aufführten. „Das Stück ist völlig unpolitisch, enthält aber die Zeile ‚Bring down the government‘. Die Leute in der Halle brüllten besonders diese Worte aus vollem Halse mit, sie drehten durch.“
Win Butler sagt, er habe im Lockdown Material für drei Alben komponiert. Gut möglich, dass bald schon weitere Songs das Licht der Welt erblicken, er das alte Muster langer Pausen bricht. Das „Ende“ eines „Empire“ sei da. Aber es markiert den Beginn einer neuen Schaffensphase von Arcade Fire. Das Album schließt mit den Worten: „When everything ends, can we do it again?“