Anoushka Shankar über ihren Vater Ravi Shankar
Kurz vor Ravi Shankars 92. Geburtstag in diesem Jahr sprach unser Autor Lars Friedrich mit dessen Tochter Anoushka Shankar über ihren berühmten Vater. Lesen Sie hier das Protokoll ihrer Ausführungen.
„Es ist fast so, als würde er wachsen, während er spielt“, sagt Anoushka Shankar, „man glaubt, er würde jünger, stärker werden.“ Anoushka ist Ravis Tochter und ebenfalls Sitarspielerin. Mit ihr führten wir nicht nur ein ausführliches Interview, sondern unterhielten uns auch über ihren Vater, der zugleich ihr musikalischer Lehrer war. Wie bereits gestern gemeldet, ist Ravi Shankar am Dienstag gestorben. Lesen Sie hier noch einmal das Protokoll ihrer Ausführungen über ihren Vater:
„Ravi hat mich als Musikerin sehr geformt. Im 20. Jahrhundert war er definitiv der berühmteste Sitar-Spieler. Selbst wenn ich ihn nicht gekannt hätte, wäre er also wahrscheinlich ein starker Einfluss gewesen. Ravis Stil ist sehr eigen: Auch an den sehr aufregenden und schnellen Stellen weicht er nie vom Kern der Ragas (indische Melodieformen) ab. Er findet immer einen Weg, um eindrucksvolle Sachen zu tun, aber dabei trotzdem stets dem Charakter des Ragas treu zu bleiben. Das zählt zu seinen großen Stärken und hat mir immer viel bedeutet. Aber was mich mehr als alles andere gepackt hat, war Ravis Liebe zur Musik. Neben den Konzerten habe ich ihm natürlich auch jeden Tag beim Üben zugeschaut. Mich hat sehr angezogen, dass ihn die Musik so tief mit etwas erfüllte, das offenbar so magisch war, dass ich es in seinem Gesicht sehen konnte, während er spielte. Die Beziehung, die er zu seinem Instrument hatte – ich spürte, dass dies etwas war, das ich für mich auch haben wollte.
Rückblickend kann ich sagen, dass Musik spielen für mich bedeutete, eine Art spirituellen Pfad zu beschreiten. Vielleicht wusste ich es damals noch nicht, aber wenn man spielt, transportiert einen das sehr tief. Man verliert sich in gewisser Weise und bewegt sich jenseits von Raum und Zeit – vielleicht, aufgrund des Fokus’, den man in diesem Moment haben muss, diesen Grad der Konzentration, der einen auf eine Art aus dem eigenen Kopf befördert. Als ich erwachsen wurde, erkannte ich, dass das sehr dem Yoga-Unterricht oder Meditation ähnelt. Als ich spirituelle Bücher las, erkannte ich die Erklärungen darin als etwas, dass ich in meiner Musik fühlte. Das half mir wiederum, zu erkennen, wonach ich bei spirituellen Praktiken suchen musste. Weil ich durch meine Musik bereits dorthin gekommen war. Für mich war Musik wirklich die Tür zu dieser Art von Erfahrung, die vielleicht der wichtigste Teil an der ganzen Sache ist. Man geht über sich selbst hinaus. Außerdem habe ich so ganz klassisch gelernt, dass Disziplin, Übung und all diese Dinge sehr wichtig sind. Ich glaube, ich hätte das nicht so sehr in meiner Persönlichkeit gehabt, aber mit meinem Vater zu lernen, diese Musik zu spielen und sich etwas so zu widmen und hinzugeben, war eine gute Lektion.
Mein Vater ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Vorbild. Das war besonders wichtig in den Momenten, in denen ich aufgeben wollte. Je älter ich werde, desto distanzierter kann ich ihn betrachten; er ist nicht mehr nur das Idol. Andererseits ist es genau andersherum: Ich kann jetzt besser verstehen, wie groß er ist. Ich vergöttere ihn nicht, sondern vieles ist einfach wahr. Er ist wirklich eine sehr außergewöhnliche, einzigartige Figur. Er wird jetzt 92 und tourt noch immer. Das ist unglaublich, weil es eigentlich keinen Sinn ergibt. Es ist nicht so, dass er einfach Glück gehabt hätte und immer noch völlig gesund wäre. Ist er nicht! Er hat Millionen gesundheitlicher Probleme und trotzdem sehe ich, wie er in der Lage ist, sie zu transzendieren, wenn er Musik spielt. Weil er sie so liebt und sich ihr so hingibt, vergisst er alles andere. Der Schmerz verschwindet. Es ist fast so, als würde er wachsen, während er spielt; man glaubt, er würde jünger, stärker werden. Das ist wie eine Verwandlung. Ich habe oft von Leuten aus dem Publikum gehört, dass sie sich in dem Moment, wo er auf die Bühne kommt, fast Sorgen um ihn machen. Er braucht Hilfe beim Laufen. Und dann sehen sie, wie er sich durch die Musik transformiert. Am Ende – nach zwei erstaunlichen Stunden, während denen er einfach fliegt und spielt –, hat man ein völlig anderes Bild von ihm. Man sieht, was die Musik jemandem geben kann. Das ist ein unglaubliches Erlebnis.
Ich finde seine Aufrichtigkeit und Hingabe wirklich inspirierend. Es gibt nie eine Show, die er für weniger wichtig hält als eine andere, ganz egal, wie viele tausend er schon gespielt hat. Auf einer langen Tour gibt es manchmal Tage, an denen man einfach müde ist und es ruhig angehen lassen will. Aber ich tue das nicht, weil ich von ihm diese Hingabe gelernt habe. Ich habe Ravi an keinem Punkt, Tag oder Moment seines Lebens erlebt, an dem er alles als selbstverständlich hingenommen und sich einfach zurückgelehnt hätte. Er hat nie gedacht, er hätte genug getan – und er hat mehr getan als jeder andere indische Musiker oder jeder andere Weltmusiker oder 92-jährige Mann. Er hat nie diese Einstellung: ,Ich bin so cool, und ihr Glückspilze seid hier, um mich zu sehen.’ Nie! Es ist eher, als würde er einen Dienst leisten, wenn er Musik spielt.
Ich schätze, Musik war immer das Wichtigste für ihn. Wahrscheinlich besteht die Gefahr, dass andere Dinge im Leben nicht mehr so wichtig sind, wenn man sein Leben so sehr der Musik widmet. Erst jetzt, in diesen sehr späten Jahren seines Lebens, werden ihm plötzlich Familie, häusliche Angelegenheiten und solche Sachen genauso wichtig. Früher waren sie ihm auch wichtig, aber sie hatten nicht denselben Stellenwert. Gewissermaßen muss es wohl so sein. Wenn man diese Höhen erklimmen will, kann man das wahrscheinlich auf keine andere Art, als sich so einzubringen.“