Andrea Nahles über die Frage: Was ist heute links?
Für unsere aktuelle Titelgeschichte wollten wir von zehn Gastautoren wissen: Was ist heute links? In ihrem Beitrag stellt die Generalsekretärin der SPD, Andrea Nahles, fest: Links sein muss Freiheit bedeuten.
Es gibt sie noch, linke Musik. Zum Beispiel vom Kölner Künstler PeterLicht. In seinem Lied „Das ist das Ende vom Kapitalismus“ heißt es in charmanter Leichtigkeit: „Der Kapitalismus, der alte Schlawiner, ist uns lange genug auf der Tasche gelegen.“ Wie wahr: Kapitalismus in seiner jetzigen Form kommt unsere Gesellschaften teuer zu stehen. Wenige bereichern sich auf Kosten der Mehrheit. Nicht nur die Griechen können ein Lied davon singen. Aber die Zeiten sind vorbei, als Pop- und Rockmusik weltweit für einen Aufstand der jungen Generation stand. Stattdessen laufen heute selbst Songs von John Lennon zur Berieselung im Supermarkt. Der Markt hat den Protest vereinnahmt.
Es gibt sie noch, linke Politik. Auch wenn sie auf dem Rückzug zu sein schien. Vor zehn Jahren waren die meisten Regierungen in Europa sozialdemokratisch. Heute sind die meisten konservativ. Wobei „sozialdemokratische Regierung“ nicht unbedingt gleichbedeutend war mit „linker Politik“. Der Kapitalismus hat sich teilweise durch die linke Programmatik gefressen. Auch die deutsche Sozialdemokratie war davor nicht immer gefeit. Allerdings, und das ist der große Unterschied zu den Konservativen: Die Sozialdemokraten haben nie ihren Anspruch aufgegeben, das Leben für alle besser zu machen. Sie haben nicht ihre „linken“ Prinzipien aufgegeben. Sie haben nur geglaubt, dass sie es mit „rechten“ Rezepten erreichen können. Das war ein Trugschluss, wie nicht zuletzt die jüngste Weltwirtschaftskrise gezeigt hat. Aber das lässt sich mit der richtigen Einstellung korrigieren. Linker Politik geht und ging es immer um die Befreiung von Bevormundung. Dass nicht der eine Herr ist und der andere Knecht. Dass Geld nicht die Macht bedeutet, die Regeln für alle in der Gesellschaft zu bestimmen. Oder wie es die SPD seit fast 150 Jahren formuliert: um Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Sind wir denn nicht frei? Werden wir denn noch bevormundet? In der Tat sind die gesellschaftlichen Freiheiten rapide gestiegen. Während früher schon Langhaarige suspekt waren, dürfen heute sogar Polizisten Ohrringe tragen. Aber Millionen von Menschen in unserem Land und erst recht in vielen anderen Ländern sind dennoch nicht frei. Dazu sind sie schlichtweg zu arm, dazu können sie sich zu wenig leisten, dazu hängen sie zu sehr in Beschäftigungsverhältnissen fest, in denen sie der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgeliefert sind. Das Mantra der Konservativen – „Wenn Du dich nur genug anstrengst, wirst Du es schaffen“ – ist so nicht wahr. Denn regellose Märk-te können Freiheit nicht gerecht verteilen. In der globalisierten Welt bekommen wir es daher auch in Deutschland immer weniger hin, für gleiche Chancen zu sorgen. Das liegt auch daran, dass die Fronten nicht mehr so klar sind. Früher ging es bei linker Politik um Klassenkampf. Um den Gegensatz zwischen Arbeitern und Arbeitgebern. Der Gegner stand fest – und er war greifbar. Heute ist der Gegner die Logik des finanzmarktgetriebenen Turbokapitalismus. Der nur Profite maximiert, ohne reale Produkte zu produzieren. Der für eine Abwärtsspirale bei Löhnen und Arbeitsbedingungen sorgt. Oder wie es Bob Dylan sagt, in „Workingman’s Blues #2“: „They say low wages are a reality if we want to compete abroad“.
Diese Logik wollen wir Linke sprengen. Und das müssen wir über die Grenzen unserer Länder hinweg tun. In diesem Sinne haben der britische Parlamentarier Jon Cruddas und ich ein Konzept für eine „gute Gesellschaft“ entworfen, das soeben in dem Buch „The Future Of European Social Democracy“ erschienen ist. Es geht um den linken Kerngedanken, dass Menschen das größtmögliche Maß an Kontrolle über ihr eigenes Leben haben. Dafür muss die Politik den Märkten übergeordnet sein. Dafür müssen öffentliche Dienstleistungen wie Energie- und Wasserversorgung im Sinne aller reguliert werden. Dafür brauchen wir internationale Zusammenarbeit, um den Unterbietungswettlauf bei Löhnen, Arbeitsbedingungen und Umweltstandards zu bekämpfen. Lebensqualität und Sicherheit von vielen müssen wieder wichtiger werden als der Profit von wenigen. Wir wollen faire Löhne und Gehälter, bessere Startchancen für die junge Generation, finanzielle Sicherheit im Alter und mehr demokratische Mitsprache.
„Are you taking over – or are you taking orders?“, fragten The Clash 1977 in „White Riot“. Heute stellt sich diese Frage neu: Beugen wir uns weiter der fatalen Logik der Finanzmärkte oder sorgen wir endlich dafür, dass das Interesse der Menschen wieder die Überhand gewinnt?
Wir haben es in der Hand.
Andrea Nahles, 41, ist Generalsekretärin der SPD. Nachdem sie 1995 bereits zur Bundesvorsitzenden der Jusos gewählt worden war, war sie von 2007 bis 2009 stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD. „Frau, gläubig, links: Was mir wichtig ist“ heißt ihr aktuelles Buch.
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