Amerikas linker Liebling
WIEDER EINMAL sind die Investmentbanker schuld. Es muss für Brit Marling schon ein wahnwitziger und zugleich stinklangweiliger Sommerjob gewesen sein, damals im Jahr 2003, lange vor der großen Krise: „Wie die allermeisten braven Georgetown Studenten habe ich ein Sommerpraktikum bei einer New Yorker Bank gemacht, bei Goldman Sachs“, erzählt die 31-Jährige und lacht ihr Lachen, das sehr selbstironisch und ein bisschen fassungslos wirkt, und das in dieser Kombination selbstredend bezaubernd ist. „Irgendwann hatte ich wieder mal so eine Woche, in der man am liebsten wollte, dass ich gleich unter dem Schreibtisch übernachte, um zwei Firmenanalysen parallel fertigzustellen.“
Vielleicht lag es ja nur am Schlafmangel, jedenfalls hatte Marling, die gerade Wirtschaftswissenschaft studierte, so etwas, was man früher, in gläubigeren Zeiten, eine Vision genannt hätte: „Ich stellte mir mein Leben als eine Aneinanderreihung Tausender von Plastikkaffeelöffeln vor“, sagt sie. „Ich wusste, was ich in zwei Jahren tun würde, in fünf Jahren und in zehn.“ Diese Vorstellung muss so furchterregend gewesen sein, dass Marling nach Kuba flüchtete, um dort einen Film zu drehen. Zwei Studienfreunde, die die Dokumentarfilmklasse besuchten, hatten sie mit ihrer Leidenschaft fürs Kino angesteckt. „So oder so bin ich vom Wesen her ein Workaholic. Am liebsten aber für etwas, was mir Spaß macht“, meint Marling, der die finanzielle Unsicherheit offenbar wirklich egal war. „Keine Armut könnte schlimmer sein, als mit 40 oder 50 in einem Leben aufzuwachen, das nicht meines war.“
Heute ist die junge Frau der neue Darling des linksliberalen Amerikas – und der Filmindustrie. Das hat sicher damit zu tun, dass sie ziemlich klug ist, und bisher immer die richtigen Entscheidungen traf. Möglicherweise spielt es eine Rolle, dass sie neben ihrer Intelligenz auch noch über andere Schlüsselreize verfügt – lange blonde Haare, sprühenden Charme, eine Stimme, die selbst Eisberge zum Schmelzen bringt. Vermutlich kommt hier einfach alles zusammen, und Marling hat zudem offenbar das Glück gepachtet.
Der Film, der damals auf Kuba entstand und den schönen Titel „Boxers And Ballerinas“ trägt, bekam mehrere Preise, und ist die bisher einzige Regiearbeit Marlings, die man vor allem als Schauspielerin kennt. Weniger bekannt ist, dass sie auch Drehbücher schreibt, von denen immerhin bereits vier verfilmt wurden. „Another Earth“, ein unkonventioneller Science-Fiction-Film, in dem neben unserem Planeten plötzlich eine Parallelerde auftaucht, gewann sogar Preise beim Sundance-Festival und in Locarno.
Marlings neueste Arbeit kam im Sommer ins Kino, und ist gerade auf DVD erschienen: „The East“ ist ein in die Form des Thrillers gekleideter politischer Essay. Es geht um einen Kampf zwischen den Extremen, zwischen dem Amoralismus heutiger Unternehmen und dem Moralismus vieler radikaler Protestbewegungen. Marlings Studienkollege Zal Batmanglij führte Regie, Marling selbst spielte die Hauptrolle einer Frau, die sich im Dienst einer privaten Sicherheitsfirma bei einer Anarchistengruppe einschleicht, und sich dieser allmählich auch innerlich annähert.
Der Weg ist in diesem ausgezeichneten Film viel interessanter als sein Ziel; der klare Blick, mit dem „The East“ die Amoral der Wirtschaft ebenso freilegt wie die Selbstgerechtigkeit der Widerständler, ist ergiebiger als das erwartbare Ende der Reise dieser Hauptfigur. Angeblich lebten Marling und Batmanglij für Recherchezwecke selbst monatelang auf der Straße – das fällt aber nicht weiter ins Gewicht und ist nicht mehr als eine Anekdote fürs Marketing. Jenseits davon ist „The East“ ein beklemmendes Werk über schillernde moralische Identitäten. Und mit einer Hauptfigur, die nicht zwischen zwei Prinzipien steht, sondern zwischen dem postmodernen Abschied vom Prinzipiellen, den die Sicherheitsfirma ebenso verkörpert wie jeder andere Teil der Welt der Industrie, und dem klassisch-modernen Konzept des Handelns nach Prinzipien.
Damit reiht sich „The East“ ein in eine inzwischen schon längere Reihe von neuen US-Filmen mit „revisionistischer“ Agenda. Etwa Robert Redfords „The Company You Keep“ (auch gerade auf DVD erschienen), der kaum zufällig fast zeitgleich ins Kino kam, und in dem gleichfalls Marling eine Hauptrolle spielt. Auch hier geht es – allerdings in Form eines bilanzierenden Rückblicks – um eine radikale linke Untergrundbewegung innerhalb der Vereinigten Staaten (den berüchtigten und militanten „Weathermen“), und die Folgen, die es zwangsläufig hat, wenn man sich in die Abhängigkeit einer Gruppe begibt und Geheimnisse teilt. Doch schon „World War Z“ mit seiner Staatskritik, Tarantinos „Django Unchained“ mit seinem überraschend ungeschönten Blick auf die Sklavenwirtschaft der Südstaaten und Gore Verbinskis „Lone Ranger“, in dem das Böse in Form eines Bündnisses aus Gesetz, Mördern und dem militärisch-industriellen Komplex des Wilden Westens – Eisenbahn und US-Kavallerie – auftrat, fügen sich zum Gesamtbild einer erstaunlich expliziten und kompromisslosen Kritik an den politischen Mythen Amerikas.
Brit Marling hat sich mit ihren Filmen als eine der unkonventionellsten und interessantesten Film-Persönlichkeiten der letzten Jahre etabliert, als Autorin überdurchschnittlicher Filmscripts und Schauspielerin, die man nicht nur gern anschaut. Ein Glück, dass Banken so langweilig sind.