Amerika absurd. Wie zwei geniale Brüder den Folk neu erfinden
Ein junges Paar stapft durch den dreckigen Schnee. Er macht auf James Dean. Trägt eine für den klirrend kalten New Yorker Winter viel zu dünne Wildlederjacke, hat bibbernd die Schultern hochgezogen, die Hände in den Taschen, den Blick gesenkt. Sie, im Zwiebellook mit seinem dicken Sweater unter dem grünen Mantel, hat sich bei ihm eingehakt, lächelt in die Kamera. Der Fotograf Don Hunstein hat diese Aufnahme im Februar 1963 für das Cover des zweiten Bob-Dylan-Albums „The Freewheelin‘ Bob Dylan“ gemacht. In Greenwich Village, New York, Ecke Jones Street und West 4th Street. Ein Porträt des Künstlers als junger Mann und ein Zeugnis dafür, wie früh Bob Dylan sich schon zu inszenieren wusste, sich selbst erschuf, einen Ort und eine Zeit definierte. Eine Ikone des Folk-Revivals und der Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre. Und das erste Bild einer modernen Heldengeschichte.
Joel und Ethan Coen haben das verliebte Paar für ihren neuen Film „Inside Llewyn Davis“ nun quasi eliminiert aus den winterlichen Straßen von Greenwich Village. Mit einem einfachen Trick: Die Brüder sind in den Winter 1960/61 zurückgegangen, die Woche, bevor Bob Dylan aus Minnesota an die Ostküste trampte. Für die Folk-Szene interessierte sich damals außerhalb des Village noch kaum jemand. Ja, es war schon problematisch, diese seltsame Ansammlung von Freaks mit komischen Bärten, die uralte Lieder sangen, in denen sie selbst nicht vorkamen, überhaupt eine Szene zu nennen. Denn auch untereinander waren die Musiker sich nicht grün. Die Zionisten mochten die Stalinisten nicht, und die Bluegrasser beäugten die Blues-und Balladensänger äußerst kritisch.
Ethan, der blasse, etwas kränklich aussehende der beiden Coens, lacht. „Dave Van Ronk erzählt, die Folkies hätten sich“ (er lacht noch immer) – „untereinander gehasst“, vervollständigt sein drei Jahre älterer, großer, gutaussehender Bruder, den Satz trocken. Man hat oft das Gefühl, man rede eigentlich mit einer Person, die sich auf zwei Körper aufgeteilt hat, wenn man den beiden ziemlich jugendlich wirkenden Endfünfzigern gegenübersitzt. Und manchmal wissen sie selbst nicht genau, wer bei einem ihrer Projekte für was verantwortlich war. „Inside Llewyn Davis“ entstand, nachdem sie (vermutlich zunächst Ethan) die Memoiren des 2001 verstorbenen Folk-Sängers Dave Van Ronk, „The Mayor of MacDougal Street“(dt. „Der König von Greenwich Village“), gelesen hatten, und einer von ihnen (allem Anschein nach Joel) sagte: „Stell dir vor, Van Ronk wird in einer dunklen Gasse hinter einem Folk-Club zusammengeschlagen.“
„Wir fanden, das wäre eine gute Anfangsszene für einen Film“, erklärt Ethan und Joel übernimmt: „Auch wenn wir keine Ahnung hatten, warum man ihn da verprügelt. Das wollten wir dann beim Schreiben des Drehbuchs herausfinden.“ Aber warum ausgerechnet Van Ronk? „Sein Buch hat uns einfach fasziniert“, sagt Ethan. „Es ist Dave ja gelungen, einen Großteil seiner Erinnerungen zu schreiben, als er schon tot war. (lacht) Sein Freund Elijah Wald hat das Buch für ihn anhand von Interviews vollendet. Es ist einfach das komischste Dokument aus dieser Zeit, bevor Dylan alles auf den Kopf stellte.“ Joel nickt. „Dave hatte mit einigem zeitlichen Abstand einen sehr humorvollen Blick auf diese Szene entwickelt, der uns gefiel. Wir haben einige Passagen und Ansichten aus dem Text übernommen. Unsere Titelfigur ist allerdings dann ein ganz anderer Typ, als er es war.“
Llewyn Davis stammt zwar wie Van Ronk aus einer Arbeiterklassefamilie in Brooklyn und hat schon mal bei der Handelsmarine angeheuert, um zu Geld zu kommen, doch während der reale Folk-Sänger eine mächtige, charismatische Erscheinung war, ein Mann mit Haltung und Humor, ist die Coen-Figur ein kleiner, sehr ernster, mit sich hadernder Typ mit sanfter Stimme und Beatnik-Bärtchen. Oscar Isaac, Sohn eines Kubaners und einer Guatemaltekin und bisher eher in Nebenrollen („Drive“,“Robin Hood“) zu sehen, spielt ihn als Waliser mit italienischer Mutter.
Sie hätten lange nach der perfekten Besetzung für die Rolle gesucht, so Joel. „Erst haben wir nach Musikern geschaut, die schauspielern können. Aber die Rolle ist nicht ganz einfach zu spielen, weil Llewyn sehr verschlossen ist. Wir brauchten jemanden, der ein Gespür für diese Subtilität hat, und zugleich die Songs live vor der Kamera performen kann.“ Isaac, der in seiner Jugend in Ska-und Hardcore-Bands spielte, aber auch an der akustischen Gitarre so versiert ist, dass Soundtrack-Produzent T Bone Burnett schon bei seinem Demo in Verzückung geriet, war schließlich so was wie eine Idealbesetzung. Für die Rolle eignete er sich sogar die nach dem Country-Songwriter Merle Travis benannte und von Van Ronk praktizierte Technik des Travis-Picking an.
„Das hat mir ein älterer Mann beigebracht, den ich zufällig traf, weil er bei einem meiner letzten Filme als Statist gearbeitet hat“, berichtet der 33-Jährige. „Ich erzählte ihm, dass der Film auf den Erinnerungen von Dave Van Ronk basiert.,Kennst du den?‘ ,Klar‘, sagte er, ,ich habe viel mit ihm gespielt.'“ Nicht nur das, Erik Frandsen, so der Name des Mannes, begleitete sogar schon Bob Dylan (auf dem „Desire“-Outtake „Catfish“ ist er zu hören).“Er fragte mich:,Wie lange spielst du schon Gitarre?‘ Und sich sagte: ,Seit 20 Jahren.‘ Er schaute mir zu, wie ich spielte und meinte nur:,Du besitzt die Gitarre seit 20 Jahren, aber du spielst sie erst seit drei Monaten.'“ Isaac strahlt, wenn er erzählt, wie er zum Folk-Sänger wurde (mittlerweile spielt er regelmäßig Konzerte im Caffe Vivaldi im Greenwich Village) und so die Rolle seines Lebens bekam. „Schon als Kind hing in meinem Zimmer neben einem Nine-Inch-Nails-Poster das Filmplakat zu (dem Coen-Film),Miller’s Crossing‘. Ich verehre die beiden. Sie haben einen sehr eigenen Ton -und das, wie ich jetzt feststellte, obwohl sie beim Dreh nichts vorgeben. Sie sprechen nicht über irgendwelche intellektuellen Ideen oder irgendeinen Symbolismus, sondern nur über Sachen, die sie mögen -Musik und Geschichten aus ihrer Vergangenheit. So entsteht ganz organisch ein Umfeld, in dem man unmerklich von ihnen kontrolliert wird.“
Die meiste Arbeit am Coen-typischen Sound und Look sei bei Drehbeginn allerdings schon längst getan, erklärt Ethan. „Wir versuchen, das Drehbuch so genau wie möglich zu formulieren und die Rollen dann passgenau zu casten.“ Llewyns besten Freund Jim etwa besetzten die Brüder mit Justin Timberlake. Und schon allein aus der Differenz zwischen dem Megastar und seiner Rolle als naiver Folk-Sänger entsteht der Coen-eigene Witz. „Ich würde nicht sagen, dass es eine ironische Brechung ist“, wägt Ethan ab, „aber es ist in jedem Fall reizvoll zuzusehen, wie Justin diese einfachen Folk-Songs singt, die so gar nichts mit seinem Popstar-Image zu tun haben.““Er hatte von Anfang an Lust, dabei zu sein“, ergänzt Joel, „und war die ganze Zeit dabei, als wir mit T Bone, Marcus Mumford und den Punch Brothers an den Arrangements für die Songs gearbeitet haben.“
Die Lieder – viele von ihnen befanden sich tatsächlich im Repertoire von Dave Van Ronk – sind in „Inside Llewyn Davis“ mindestens so wichtig wie die Handlung. Sie verzieren und reflektieren, sind Archiv und Prophezeiung zugleich. Zu Beginn sieht man etwa Llewyn, wie er im legendären Gaslight Café das Traditional „Hang Me, Oh Hang Me“ singt: „Got so damn hungry I could hide behind a straw/Poor boy, I been all around this world“. Und Llewyn ist in der Tat ein poor boy – oder sagen wir: Er sieht sich gerne so. Vor Jahren hat er eine Duettplatte mit seinem Freund Mike gemacht, der sich dann aber das Leben nahm. Sein erstes Soloalbum „Inside Llewyn Davis“ liegt wie Blei in den Regalen. Der ältliche Chef seines Labels, Mel Novikoff (Jerry Grayson), bietet ihm fürsorglich einen warmen Mantel für den Winter an, Tantiemen will er aber keine zahlen. Llewyn schläft auf den Couches von Bekannten, Kollegen und Gönnern. Niemand scheint ihn wirklich zu mögen. Da ist nicht nur dieser mysteriöse Mann in der dunklen Gasse, der ihn zusammenschlägt. Jims Frau Jean (Carey Mulligan), mit der er eine Affäre hat und die ungewollt schwanger ist, prügelt verbal auf ihn ein und rät ihm, zum Wohle der Menschheit mehrere Kondome übereinander zu tragen (tatsächlich ist er beim Abtreibungsspezialisten Stammkunde), der große Folk-Impresario Bud Grossman (F. Murray Abraham) weist ihn zurück, und der großkotzige, nicht nur physisch verkrüppelte Jazzer Ronald Turner (John Goodman) hält ihn nicht mal für einen Musiker. Für seine kleinbürgerliche Schwester Joy (Jeanine Serralles) ist er einfach nur ein fauler Nichtsnutz. Sie rät ihm, bei der Handelsmarine anzuheuern, wie es früher sein Vater getan hat, der mittlerweile mit Demenz im Pflegeheim dahinsiecht und ihn längst vergessen hat.
Kurz: Llewyn Davis ist ein typischer Coen-Charakter. Ein Mann, der kaum da ist, dem es -im Gegensatz zu Bob Dylan – nicht gelingt, sich selbst zu erschaffen. Einer wie der unter Schreibblockade leidende Autor Barton Fink, der in einem schäbigen Hotel in Los Angeles am Drehbuch für ein B-Movie scheitert und vom Hollywoodsystem verschluckt wird, ein „Serious Man“ wie Larry Gopnik, der versucht, vor Gott und Welt ein rechtschaffenes Leben zu führen und dem das Schicksal eine lange Nase dreht. Einer, der versucht, etwas darzustellen und jemand zu sein, von seiner Umwelt aber ignoriert wird und letztlich an den Umständen und, wenn man so will, der Absurdität der menschlichen Existenz scheitert. Das Scheitern und die daraus resultierende existenzielle Verbitterung verbindet viele Coen-Figuren und erinnert an die Protagonisten aus den Geschichten ihrer Lieblingsautoren James M. Cain und Raymond Chandler. „Was die Charaktere der Coens so besonders macht, ist, dass jeder von ihnen glaubt, er sei die smarteste Person im Raum und alle anderen seien Arschlöcher“, sagt Oscar Isaac. „Deshalb hat jede ihrer Figuren eine gewisse Würde. Keine ist nur dazu da, die Handlung zu tragen, oder die Hauptrollen gut aussehen zu lassen. Jede ist an sich ein Universum.“
Niemand kann den Coens das Wasser reichen, wenn es um das Schreiben und Besetzen von Nebenund Kleinstrollen geht. Da sind die Archetypen, die immer wieder auftauchen – Liftboys, ältliche Sekretärinnen, tumbe Südstaatler, kompromisslose Machtmenschen hinter großen Schreibtischen – und einzigartige Figuren, die man nie mehr vergisst, wie Mike Yanagita (Steve Park), der armselige, bei seinen Eltern lebende Ex-Schulfreund der Polizistin Marge Gunderson (Frances McDormand) aus „Fargo“, oder der Bowling-Gott und Ex-Päderast Jesus (John Turturro) aus „The Big Lebowski“.
Die denkwürdigsten Performances im Coen-Universum stammen allerdings von John Goodman, der bereits in sechs Filmen für manchmal nur wenige Szenen die Aufmerksamkeit mit voller Wucht auf sich zog. „Ich habe keine Ahnung, warum das mit uns so gut funktioniert“, sagt der massige Mann, als er sich langsam aufs Hotelsofa fallen lässt.“Vielleicht, weil wir alle drei aus dem Mittleren Westen stammen und etwa gleich alt sind. Ich habe einfach Glück gehabt. Wenn sie eine Rolle haben, die passen könnte, rufen sie mich an.“ In „Inside Llewyn Davis“ spielt Goodman den monologisierenden Jazzmusiker Roland Turner, mit dem Llewyn eine denkwürdige, an Kerouacs „On The Road“ erinnernde Autofahrt nach Chicago verbringt. „Ich musste nicht viel machen, das meiste stand schon im Drehbuch“, erklärt der 61-Jährige. „Das kommt mir entgegen, denn ich bin eigentlich ziemlich faul. Joel und Ethan hatten schon eine ziemlich genaue Vorstellung von der Figur. Vorbild war der berühmte Songwriter Doc Pomus, der an Kinderlähmung litt. Ich hatte dann die Idee, ihm eine Frisur zu verpassen, wie sie der Saxofonist Gerry Mulligan trug. Wir haben es ausprobiert und es hat funktioniert – sieht aus wie eine Perücke.“ Da denkt er wie seine Lieblingsregisseure – alberne Frisuren haben bei den Coens Tradition, oft sind sie Kainsmale böser Männer wie des von Javier Bardem verkörperten Auftragskillers Anton Chigurh aus „No Country For Old Men“. Turner ist auch so einer. Mit seinen grausamen – und sehr komischen – Wortkaskaden eliminiert er Llewyns Selbstbild bis auf den letzten Pixel. Von Folk hält er nichts, den religiösen Eifer der jungen Adepten findet er lachhaft und die von ihnen eingeforderte Authentizität absurd – Llewyn ist in seinen Augen ein Betrüger, ein Fake.
Dave Van Ronk beschreibt in seinen Memoiren, wie viele Immigranten der ersten und zweiten Generation, oft jüdischer Herkunft, die Folk Music nutzten, um amerikanische Wurzeln zu schlagen. Man wird zum Amerikaner, indem man sich die Tradition aneignet. So wie Elliott Charles Adnopoz aus Brooklyn, der sich einen Cowboyhut aufsetzte und Ramblin‘ Jack Elliott nannte. Oder der Kaufmannssohn Robert Zimmerman aus Hibbing, Minnesota, der zum Hobo Bob Dylan wurde. Auch die entflohene Chain Gang aus „O Brother Where Art Thou“, die ihre Sträflingskleidung ablegte und zum (manche Zuhörer schworen: schwarzen) Folk-Trio The Soggy Bottom Boys wurde, spielt mit ihrer Identität. Die Coens inszenierten ihre Geschichte als ironisch mehrfach gebrochenen Mythos der Odyssee. „Amerikaner zu sein“, hat der US-Kulturwissenschaftler Leslie Fiedler geschrieben, „heißt genau genommen, sich ein Schicksal vorzustellen, anstatt eines zu erben; denn wir sind immer, sofern wir überhaupt Amerikaner sind, eher die Bewohner des Mythos denn der Geschichte gewesen.“ Hollywood hat im 20. Jahrhundert eine entscheidende Rolle gespielt bei der Produktion und Reproduktion des Amerikanischen Traums (des Traums, den Amerika von sich hat). Federführend waren auch hier großenteils jüdische Emigranten aus Osteuropa, die als Produzenten und Regisseure das Hollywood-Studiosystem prägten. Auch die Coens, unweit von Dylan in einem Vorort von Minneapolis aufgewachsen, sind jüdischer Herkunft und haben sich in ihren Werken die US-Tradition angeeignet, detailverliebt die amerikanischsten aller Genres – Film Noir, Screwball Comedy und Western – bedient. „Unser Ausgangspunkt ist natürlich ein anderer“, sagt Ethan. „Wir sind ja völlig assimiliert. Wir haben zwar eine ethnische jüdische Identität, aber die ist sehr amerikanisch. Das galt für alle Kinder, mit denen wir damals aufgewachsen sind. Einige ihrer Eltern waren allerdings Immigranten, die haben wir natürlich schon beobachtet.“
Die Beobachtung von Assimilierungsstrategien scheint in ihrem Werk jedenfalls ziemlich tiefe Spuren hinterlassen zu haben. Viele Coen-Charaktere scheitern gerade deshalb so absurd tragikomisch, weil sie es übertreiben mit der Anpassung, sich zu viel Mühe geben, Amerikaner, Gangster, Detektiv, Westernheld oder eben Folk-Sänger zu sein. Gerade die Übererfüllung der nötigen Regeln und Codes macht sie zu ewigen Außenseitern. Llewyn muss scheitern, weil er zu dogmatisch der reinen Lehre folgt und nicht erkennt, dass das mythische Amerika eben gerade nicht nach den Regeln der Authentizität funktioniert (er ahnt es allerdings, als er gegen Ende eine „echte“ Hillbilly-Sängerin auf der Bühne des Gaslight Cafés sieht).
Man kann in „Inside Llewyn Davis“ ein Gegenstück zu „O Brother, Where Art Thou“ sehen. Während die Coens in ihrem Epos von 2000 die verklärte Künstlichkeit in wie auf alten Postkarten ausgeblichenen Farben ausstellten, setzen sie jetzt auf Realismus. „Auf stilisierende Ornamente haben wir bewusst verzichtet“, sagt Ethan „Wir haben sogar anfänglich überlegt, das Ganze im Stil des cinema verité zu drehen. Davon ist allerdings nur eine Handkamera-Sequenz zu Beginn geblieben. Ansonsten haben wir uns tatsächlich am grauen, matschigen New York des ,The Freewheelin‘ Bob Dylan‘-Covers orientiert.“
Natürlich verbindet der Schnee den Film auch mit „Fargo“, dieser angeblich auf einer wahren Begebenheit basierenden Räuberpistole von 1996, die die Coens im winterlichen North Dakota inszenierten. Einer Landschaft, die der ihrer Kindheit so sehr gleicht und die unter der weißen Decke so undefiniert und konturlos erscheint wie Llewyn Davis und Greenwich Village, Anfang der Sechziger. Nachdem Llewyn „Hang Me, Oh, Hang Me“ im Film zum (scheinbar) zweiten Mal gesungen hat, betritt ein struppiger Junge aus Minnesota die Bühne und stimmt „Farewell“ an, sein Lebewohl an die alten Zeiten. Die Kamera verlässt den Club. Denn dieser Mann ist kein Held für einen Coen-Film.
Der Club der ernsten Männer
Die zehn irrsten Coen-Antihelden
DER DETEKTIV
Blood Simple
Loren Visser (M. Emmet Walch) ist eine Perversion des Chandler-Antihelden. Ein schmieriger Detektiv, der den Auftrag erhält, eine untreue Ehefrau und ihren Liebhaber umzulegen. Stattdessen tötet er seinen Auftraggeber, doch für einen Detektiv stellt er sich reichlich dämlich an und hinterlässt mehr Spuren, als er beseitigt.
DER GANOVE
Raising Arizona
Der Kleinkriminelle und Großschwätzer Herbert I. „Hi“ Mc-Dunnough (Nicolas Cage) ist einer der Coen-Helden, die sich strafbar machen müssen, um in die amerikanische „Normalität“ zu finden. Er heiratet die Polizistin, die die Fahndungsfotos von ihm schießt. Zum Traum von der Kleinfamilie fehlt da nur noch der Nachwuchs. Und Kindesentführung, so denkt zumindest Hi, könnte da der richtige Weg sein.
DER MORALIST
Miller’s Crossing
So paradox das klingt: Der Gangster Johnny Caspar (Jon Polito) will mit lauteren Mitteln nach oben kommen. Er sieht sich als rechtschaffener Geschäftsmann und kann es nicht leiden, dass sich der kleine Ganove Bernie Bernbaum in sein durch manipulierte Boxkämpfe florierendes Wettgeschäft einmischt. Darum bittet er Gangsterboss Leo, den Störenfried umlegen zu dürfen. Doch der turtelt mit Bernbaums Schwester.
DER KÜNSTLER
Barton Fink
Künstler haben es nicht leicht bei den Coens. Barton Fink (John Turturro) ist zwar daheim an der Ostküste ein aufstrebender Theaterautor, aber beim Weg gen Westen, ins gelobte Land Hollywood, stehen seine Ambition und sein Dünkel ihm im Weg. Serienmörder und schmierige Businessmänner sind hier weit erfolgreicher.
DER LIFTBOY
Hudsucker
Der größte Kenner des Amerikanischen Traums muss wohl der Liftboy sein. Buzz (Jim True-Frost) beobachtet in „Hudsucker“ im wahrsten Sinne des Wortes den Aufstieg und Fall von Norville Barnes und ist sich auch für geschmacklose Witze nicht zu schade. Etwa über seinen zu Tode gestürzten Boss: „Say, buddy, who’s the most liquid businessman on the street? Waring Hudsucker!“
DER ENTFÜHRER
Fargo
Eigentlich soll es nur eine kleine Entführung werden. Doch sein Auftraggeber, der hasenfüßige Jerry Lundegaard, hält sich an keine Abmachung, und sein skandinavischer Komplize Gaear Grimsrud sagt kein Wort. Carl Showalter (Steve Buscemi, l.) hält sich – wie so viele der besten Coen-Charaktere – für den einzig normalen Menschen auf der Welt. Am Ende ist allerdings nur noch ein Fuß von ihm übrig, der Rest steckt im Holzhäcksler.
DER VETERAN
The Big Lebowski
Wenn Walter Sobchak (John Goodman) etwas macht, dann richtig. Er ist Patriot und war (sagt er jedenfalls) in Vietnam, seine Ex-Frau war Jüdin, und er ist daraufhin Zionist geworden. Beim Bowlen setzt er die Regeln zur Not mit Waffengewalt durch. Aber irgendwie führt sein Hang zur Übererfüllung ihn und seine Freunde von einer misslichen Lage in die nächste.
DER BRAVE SCHURKE
The Man Who Wasn’t There
Ed Crane (Billy Bob Thornton) wird zum Schurken, weil er Teil des Amerikanischen Traums von der Selbstverwirklichung werden will. Er arbeitet als Friseur wider Willen im Salon seines Schwagers. Aber eigentlich wäre er lieber stiller Teilhaber einer Trockenreinigung. Schließlich nimmt er sein Schicksal selbst in die Hand. Er wagt alles und verliert alles. Er war ein Nichts und geht ins Nichts.
DER KILLER
No Country For Old Men
Schon sein bescheuerter Haar-Helm deutet darauf hin, dass irgendwas mit Anton Chigurh (Javier Bardem) nicht stimmt. Mechanisch und kompromisslos wie der Terminator verfolgt er sein Ziel. Mit Vorliebe bringt der Auftragskiller seine Opfer mit einem pneumatisch betriebenen Bolzenschussgerät um die Ecke. Manchmal lässt er den Zufall entscheiden, wer dran glauben muss und wer nicht. Er ist launisch wie das Schicksal – und ebenso leise.
DER MODERNE HIOB
A Serious Man
Lawrence „Larry“ Gopnik (Michael Stuhlbarg) ist ein moderner Hiob.
Während sein Vorfahre im Alten Testament mit Gott rang, hat er längst resigniert. Ein jüdischer Physikprofessor, der zugleich lebendig und schon tot ist wie die Katze in Erwin Schrödingers Gedankenexperiment zur Quantenmechanik, das er versucht, seinen Studenten zu erklären.