ALTER BART, JUNGES HERZ
Der Knabenchor in der Kathedrale von Durham hat ein Durchschnittsalter von mindestens 70 Jahren. Kaum habe ich die riesige, uralte Kirche betreten, beginnen die würdevollen, weißhaarigen „Boys“ auch schon mit einem getragenen Choral. Sehr erhebend klingt das in den heiligen Hallen. Irgendwo unter mir lagern seit 1000 Jahren die vor den Wikingern geretteten Gebeine des alten Saint Cuthbert, sonst wäre hier keine Kirche; das mächtige Gebäude ist inzwischen aber auch weltbekannt als einer der Drehorte von „Harry Potter“.
Das angrenzende Städtchen, das um die Kathedrale gewachsen ist, sieht entsprechend pittoresk aus: wir sind hier in ye olde England, schon fast in Schottland, die Gegend war mal hart umkämpft. Hier regiert Kopfstein-Gässchen-Romantik mit Cupcake-Lädchen und Lindisfarne-Bookshops, dazwischen tummeln sich jede Menge chinesische Studenten und Touristen und manchmal auch ein König des Rock’n’Roll.
Wenig später sitze ich ihm gegenüber, noch einem alten Boy, dem hier weit und breit imposantesten. Mit seinen inzwischen schlohweißen halblangen Haaren und dem dazu passenden, prächtigen Bart sieht Paddy McAloon aus wie eine Kreuzung aus Karl Marx, Lieber Gott, Leon Russell und Harry Rowohlt. Treffpunkt ist die Hotelbar des Durham Royal County. Er selbst wohnt etwas außerhalb in einem Landhaus mit seiner Familie und seinem Studio. Termine nimmt er aber am liebsten in diesem Hotel wahr. Hier fällt er kaum auf, schon gar nicht durch seine seniorenhafte Erscheinung -die meisten anderen Gäste dürften wesentlich älter sein, nur nicht auf so eine stilvoll-spektakuläre Art, und sie lachen auch nicht so laut. Tatsächlich ist Paddy McAloon erst 56 Jahre alt, sieht aber älter aus als Paul Mc-Cartney; optisch wäre er durchaus eine Zierde für den Chor der alten Knaben. Aus der Tasche seines weiten, weißen Sakkos zieht er immer wieder eine große, altmodische Lupe hervor, die er sich vor die Brille hält, wenn er zum Beispiel etwas Lesen will. Es fehlt nur noch ein Hörrohr.
Der Anblick dauert einen. Dieser große Mann wurde schwer gebeutelt vom gesundheitlichen Schicksal. Zuerst kam Ende der 90er-Jahre eine Hornhautablösung, wegen der er beinahe erblindet wäre und die ihre Schäden hinterlassen hat. Dann folgte schwerer Tinnitus, wegen dem er heute keinen Bass mehr hört, nur noch fühlt. Gut möglich, dass der Popstar-Stress irgendwann zu viel für ihn wurde. Erst Mitte der 90er-Jahre hatte seine Band Prefab Sprout den Zenit ihrer Bekanntheit erreicht und war nun halbwegs ein Haushalts-Begriff auch in den USA -zu einem Zeitpunkt, als man in Europa schon längst auf Techno abfuhr und die Band bei Kritik und Publikum kaum noch auf dem Radar war. 1977 gegründet, basiert nach Kennermeinung der eigentliche Ruhm von Prefab Sprout auf ihren ersten beiden Alben „Swoon“ (1984) und vor allem dem Meisterwerk „Steve McQueen“(1985). Gefeiert als Genie, standen Paddy McAloon nach diesen großen Würfen nun alle Möglichkeiten offen, wurden aber auch maßlose Erwartungen auf ihn gerichtet, wie sie das Musikgeschäft in diesen goldenen Marktjahren vor der großen Krise auch für zarteste Künstler in petto hatte. Also eine Menge Druck, sehr viel Stress, bis es irgendwann zu viel für ihn war. Nach dem wie stets gefeierten Album „Andromeda Heights“ (1997) begannen die Gesundheitskrisen. An ständige Tourneen war nicht mehr zu denken. Für die Band Prefab Sprout endete damit die Zeit als Kollektiv. Nach einer letzten Tour im Jahr 2000 blieb Paddy McAloon als einziges Mitglied übrig, so ist es bis heute geblieben, und so war es ja auch ganz am Anfang in den frühen 70er-Jahren, als die Band und der Name nur Fantasien in seinem Jungs-Kopf waren.
„Aber Prefab Sprout war trotzdem keine Ein-Mann-Band“, sagt McAloon. „Ja, ich habe die Songs geschrieben und gesungen, aber es fühlte sich nicht so an, als wenn es nur ich gewesen wäre. Ich mochte die Zeiten, als man genügend Geld zur Verfügung hatte, ob man gerade Platten machte oder nicht. Es war einfach gesellig, und wir hatten einen reichen Klang. Aber man kann eine Band nicht unterhalten wie ein stehendes Heer. Um weitermachen zu können, hätten wir endlos touren müssen.
Und das konnte ich einfach nicht. Dann hätte ich all diese Songs nie geschrieben und mir wäre irgendwann einfach nur total langweilig geworden als menschliche Jukebox. Ich meine, die meisten Bands machen das, und es mag ja okay für sie sein. Aber für mich wäre das nichts.“
Stattdessen hat er sich entschieden abgegrenzt gegen alles, wozu er keine Lust hat, was ihn zusätzlich belasten könnte und führt nun das zurückgezogene, häusliche Leben eines kauzigen, aber fleißigen Songschreiber-Sonderlings. Das ist sein Handwerk, das ist das täglich Brot dieses Autodidakten. „Das großartige an Pop ist seine Niedrigschwelligkeit. Du musst fast gar nichts können, um mitzumachen. Meine ersten zwei, drei Akkorde öffneten ein ganzes Universum für mich. Aber ich wurde nie unterrichtet. Bis ich fünfzig war, also vor noch gar nicht so langer Zeit, hatte ich keine Ahnung davon, wie irgendetwas funktionierte, ich hatte keinerlei Musiktheorie. Wir haben ganze Platten mit Thomas Dolby gemacht, bei denen er versucht hat, mir zu erklären, wann ich mit der Gitarre einsetzen soll, dass ich auf die ,und‘ einsetzen muss -und ich wusste überhaupt nicht, was er meinte. Ich war sehr naiv in all diesen Dingen, das änderte sich erst mit dem Atari.“
Eine ziemlich überraschende Information, bedenkt man die harmonische Raffinesse und rhythmische Vertracktheit so mancher seiner Songs. In gewisser Weise kommt auch Paddy McAloon vom Punk -in der frühesten Version der Band hat er noch gerne gebrüllt. Und mit beschränkten Möglichkeiten ein Maximum an Schönheit zu erreichen, das treibt ihn immer noch an. „Generell versuche ich stets, mindestens einen Song in der Mache zu haben. Aber ich nehme nichts auf, solange ich nicht absolut muss – was eine Schwäche von mir ist und große Probleme für diese Platte bedeutete. Ich hatte eine Million Songs geschrieben, ein Album nach dem anderen konzipiert, die Reihenfolge der Songs, alles fertig in meinem Kopf, aber nichts war wirklich aufgenommen.“
Denn obwohl die Lieder von dem neuen Album „Crimson/Red“, wie auch die Lieder anderer Alben, oft aus den verschiedensten Phasen und Jahren stammen -in diesem Fall zwischen 1997 und 2012 -handelt es sich dabei dennoch keineswegs um alte Aufnahmen. Zwar komponiert McAloon in seinem Heimstudio ähnlich wie ein zeitgenössischer Elektronikproduzent mit Hilfe eines Computers -ultramodern ist sein Ansatz allerdings nicht gerade. Denn vermutlich ist er einer der letzten Menschen auf dem Planeten, die einen Atari mit dem Programm Emagic C-Lab verwenden, das in der Technoszene spätestens um 1992 aus der Mode kam. Für ihn ist es aber wohlvertraut und daher gerade richtig, um seine stetig sprudelnden Ideen zu fixieren, bis es Zeit ist, sie mit seinem Toningenieur-Kumpel Calum Malcolm amtlich aufzunehmen. So geht das alle paar Jahre. Das ist der Grund, warum die Platten von Prefab Sprout praktisch immer exzellent sind: Weil McAloon so unwahrscheinlich viele Songs schreibt. Dadurch hat er immer eine Riesenauswahl, die sich qualitativ, aber auch thematisch gut zu Alben filtern und kompilieren lässt.
Beim letzten Prefab-Sprout-Album „Let’s Change The World With Music“ (2009) war das in erster Linie Religiosität und Gospel. Der ambivalente Katholik McAloon -Spross irischer Bergarbeiter – hatte sich damit im glaubensskeptischen England einiges an Kritik gefallen lassen müssen, wurde gar mit Cliff Richard verglichen. „Das war ein bisschen gemein, so kindlich ist mein Glaube nicht. Es war schon ein bisschen tiefgründiger gemeint. Um ehrlich zu sein, kann ich gar nicht wirklich sagen, was ich glaube. Aber reine Vernunft erscheint mir wie ein geschlossenes System. Sie kann nicht wirklich etwas außerhalb ihrer selbst erklären.“ Die gebrochene, zweifelnde Euphorie von Stücken wie „Sweet Gospel Music“ oder „Ride“ rührte jedenfalls auch erklärte Ungläubige zu Tränen. Auf „Crimson/Red“ nun geht es weltlicher und allgemeiner zu. Bei großer musikalischer Geschlossenheit vereint die Lieder vor allem eins: es sind Geschichten.
„Diese langen, fast folkigen Balladen, wie Dylan sie schreibt, mit vielen Versen und einer großen Story, das war einer meiner Schlüsselgedanken. Die meisten Lieder habe ich absichtlich auf der Gitarre geschrieben, weil ich wollte, dass sie von einem einzelnen Mann gesungen werden können.“ Liedern wie „The Best Jewel Thief In The World“, „The Story Of Danny Galway“ oder „The Old Magician“, die immer auch ein wenig von ihm handeln, merkt man das schon im Titel an. „Oft ist es der Titel, der zuerst da ist, eine einzige Zeile. Oder eine Schlagzeile in der Zeitung wie zum Beispiel ,The Worst Jewel Thief In The World‘, wo ich dachte: und wenn man sich nun den besten Juwelendieb vorstellen würde?“, sagt McAloon. „Ich empfinde mich jedoch als langsamen Arbeiter, ich bin alles andere als ein Whizzkid. Aber ich kann mir gut Welten vorstellen, darin bin ich stark seit meiner Kindheit. Das ist mein Thrill, etwas zusammenzusetzen, eine Welt, von der ich vielleicht nicht mal wirklich weiß, was sie bedeutet, oder vor der ich warten muss, bis sie mir von selbst sagt, was sie bedeutet. Der Song an sich ist für mich eine mystische Erfahrung. Ich muss nicht wissen, was er genau sagt, solange er sich richtig anfühlt. Deshalb arbeite ich gerne alleine. Mir gefällt es, niemandes Meinung einholen zu müssen. Ich weiß, das klingt selbstsüchtig, aber ich mag es nun mal. Du machst einfach, was du willst, und wenn es falsch ist, kannst du es immer noch jemandem vorspielen, der dann sagt, es ist zu lang. Was immer du machst, an irgendeinem Punkt musst du dich sowieso entscheiden. Dass dies nun der Song ist, dass dieser Vers nun so und so geht. Ich mag unendliche Möglichkeiten, aber ich weiß auch, dass sie auf die Straße des Wahnsinns führen.“
Paddy McAloon weiß, von welchem Wahnsinn er spricht. Er musste eine Menge Entscheidungen treffen, härter noch: Konsequenzen ziehen aus seinem Gesundheitszustand, die ihn letztlich zu einer Lebensweise geführt haben, mit der er langfristig klarkommen kann. „Wir haben damals mit Thomas Dolby eine Menge Aufnahmen in Los Angeles gemacht, was mir heute total komisch vorkommt, denn mein Studio ist jetzt bloß eine Ecke im Wohnzimmer meines Hauses.“
Das teilt er sich mit seiner Frau und drei Töchtern von 10,14 und 15 Jahren -das muss man sich mal bitte vorstellen, dieses komplizierte Privatgenie, tagtäglich umgeben von nichts als aufgedrehter Jugendlichkeit. „Ich bin wie König Lear, ich habe drei Töchter. Aber ich will keine Dynastie gründen“, lacht er. „Manchmal fragt mich eine, ob sie mir helfen kann, aber ich weiß dann nie richtig, wie. Es ist so sehr ein Mann und sein Atari. Ich könnte ihnen nur zeigen, wie ich es eben mache. Meistens bin ich nur der alte Zausel, der bei Schulveranstaltungen im Hintergrund herumsteht oder eine ziemlich gefährliche Tomatensoße kocht. Nur einige ihrer Lehrer und ein paar andere Eltern interessieren sich wirklich für mich.“
McAloon mag früh gealtert sein und ein wenig hinfällig wirken, im Gespräch ist er agil und kregel. Ob ich „ein Stockhausen kinda guy“ bin, will er wissen, weil ich doch aus Köln komme. Aktuelles Musikgeschehen verfolgt er praktisch nicht, die einzigen Künstlernamen, die er neben dem Kölner Elektronikpionier droppt, sind Iggy Strawinsky, Igor Pop -und natürlich The Beatles. Wenn man es sich recht überlegt, braucht man im Grunde auch nicht viel mehr, um einigermaßen durch das Leben zu kommen. Außer vielleicht alle paar Jahre ein paar neue Lieder dieses größten Sohnes einer kleinen nordenglischen Stadt. Möge er noch recht viele davon schreiben.
Dann wird es Zeit für den Aufbruch. Ein wichtiger Termin wartet noch auf Paddy McAloon: die Geburtstagsparty seiner zweiten Tochter. Für die Musik sind dort zwar andere zuständig -nicht aber für die scharfe Soße.