„Out Of Time“ von R.E.M. wird 30: Plötzlich Superstars
R.E.M. beschäftigten sich auf „Out Of Time“ mit der Vergänglichkeit der Zeit, der überlebensnotwendigen Wichtigkeit der Erinnerung und mit den Wirrnissen der Liebe. Eine Welteroberungsplatte voller leiser Zweifel.
Im Anschluss an die Veröffentlichung von „Green“ im Jahr 1988 gingen R.E.M., die seit ihrer Gründung im Jahr 1980 eigentlich pausenlos unterwegs waren, auf ihre bis dahin größte Tournee und spielten weltweit insgesamt 130 Konzerte (eindringlich festgehalten auf ihrem „Tourfilm“). Auf der Bühne bewies die Band aus Athens, dass sie ihren politischen und zugleich poetischen Liedern längst auch in großen Sporthallen genügend Seele verleihen konnten, um nicht von der inzwischen erkämpften Größenordnung geschluckt zu werden.
Doch diese Entwicklung, die viele als notwendigen Weg in Richtung einer konventionellen Rock-’n‘-roll-Band identifizierten, hatte ihren Preis: Michael Stipe, Peter Buck, Mike Mills und Bill Berry klagten deutlich über den Verschleiß, den diese körperliche Belastung mit sich brachte und beschlossen gemeinschaftlich, mit einer weiteren Platte nicht auf Tour zu gehen und stattdessen nur einige Akustik- und Radio-Sessions zu spielen.
Diese im Nachhinein weise Entscheidung prägte die Karriere von R.E.M. wie wohl keine andere (nimmt man Berrys Ausstieg als Schlagzeuger 1997 einmal aus) und öffnete die Tür für eine musikalische Entwicklung, die möglicherweise für jede andere Gruppe einen kommerziellen Rückschritt dargestellt hätte, für R.E.M. aber den Sprung in die erste Liga der Rockmusik bedeutete.
„Out Of Time“, am 11. März 1991 veröffentlicht und zu großen Teilen im Sommer 1990 eingespielt, markierte die Hinwendung der Amerikaner zur melancholischen, von Mandoline und Streichern angetriebenen Popmusik. Auch wenn der Mythos um die besondere, nur der eigenen Kunstfertigkeit verpflichtete attitude ihrer Mitglieder den Schluss nahelegt, dass Stipe und Co. eigentlich nur zufällig eine von den Massen ins Herz geschlossene LP einspielten, ist dieses Album im Rückblick gesehen ihr wohl kalkuliertestes. Auch weil die Musiker sich genau im richtigen Alter dafür befanden.
R.E.M. nahmen sich Zeit für „Out Of Time“
R.E.M. agierten im Studio aus einer bis zu diesem Zeitpunkt ungekannten und auch danach nie mehr zurückeroberten Souveränität heraus, die es ihnen ermöglichte, aus dem Vollen zu schöpfen. Diese Überzeugungskraft lieferte ihnen der Erfolg von „Green“ (mit seinen starken Singles „Stand“ und „Orange Crush“). „Durch den Erfolg von „Green“ konnten wir uns im wahrsten Sinne des Wortes leisten, uns nicht abzuhetzen und uns Zeit zu nehmen. Wenn etwas nicht geklappt hat, haben wir noch einmal von vorne angefangen“, sagte Drummer Bill Berry zu der Entstehung von „Out Of Time“ in einem Interview.
Michael Stipe ging sogar noch mehr in die Offensive, wenn auch mit einer großen Portion Humor: „Wenn ich jetzt sage, dass diese Platte den Lauf der Popgeschichte ändern wird, dann sage ich es ziemlich ironisch und mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen, aber ich glaube für 1991 ist es wirklich eine ziemlich besondere Platte.“
„Out Of Time“ bedeutete künstlerisch einen großen Schritt vorwärts. Dies gelang vor allem dadurch, dass man im Grunde jede Erwartung, die an die eigene Musik gestellt wurde, geschickt ins Gegenteil verkehrte. Statt scheppernder Gitarren dominierte eine nicht selten auf Zeitlosigkeit getrimmte Barockmusik, die funkige Orgelklänge, Rap-Gesang, Folk-Country-Duette und Streichereinlagen so gekonnt miteinander vermischte, dass überhaupt nicht auffiel, wie sehr sich die Band vom Sound ihrer ersten, bei IRS herausgebrachten Alben entfernt hatte.
Das lag vor allem daran, dass Stipe – der hier trotz aller sonischen Fortentwicklung oftmals in den Murmel-Modus zurückkehrte – seinen großen Themen treu blieb. Hatte der Sänger und Texter zuvor stolz verbreiten lassen, dass er eigentlich an Lovesongs niemals so recht Interesse hatte (mit „One I Love“ schrieb er sogar einen der konzisesten Anti-Lovesongs aller Zeiten), wurde die Liebe auf „Out Of Time“ zum alles beherrschenden Thema – auch wenn es sich der Dichter wie in „Low“ keineswegs leicht machte mit den Herzensergießungen („I Skipped The Part About Love“ heißt es dort trotzig). Der von Kritikern viel diskutierte Eklektizismus in den Lyrics von R.E.M. mag eben vor allem auch dem dialektischen Umgang mit den großen Emotionen geschuldet sein.
Die politische Liedkunst dieser Band, die auf „Green“ zwar nicht ihren intellektuellen oder gar sensitiven Höhepunkt erreichte, aber trotzdem so dringlich wie nie zuvor das Publikum in der richtigen Gemütslage abholte, wich auf „Out Of Time“ einer stimmungsvollen Introspektion der alttäglichen kleinen Katastrophen, die trotz frühlingshaften und von den Beach Boys ermutigten Melodien („Near Wild Heaven“) nie die Komplexität des Lebens herunter brach, sondern stattdessen eine Schwermut entblätterte, zu der R.E.M. in ihrem Jugendalter wohl noch nicht vorstoßen konnten. Eine Stimmung, die die Songs der Band danach, selbst wenn sie wieder so schepperten wie einst in Athens, wie ein Schleier umhüllte.
Dabei bereitet der etwas alberne „Radio Song“, der mit den Zeilen „The World Is Collapsing/Around Our Ears/I Turned Up The Radio/But I Can’t Hear It“ Gil Scott-Herons vordergründig medienkritisches Diktum „The Revolution Will Not Be Televised“ variiert und dazu die etwas aufgeblasene Rap-Kakophonie von KRS-One anfügt, als Opener nicht auf das vor, was mit „Losing My Religion“ direkt im Anschluss folgt.
„Every Breath You Take“ reloaded
Natürlich ist „Losing My Religion“ mit seinem mehrdeutigen Text, seinem verträumten Video und all den Assoziationen, die der Song auch nach 25 Jahren und geradezu obszöner Radiospielzeit immer noch weckt, das Zentralgestirn von „Out Of Time“, weil es den Sound der Platte vorgibt und eine so vorzügliche Fortsetzung von „World Leader Pretend“ darstellte, dem wohl persönlichsten Song, den Stipe zuvor ersponnen hatte.
Der Sänger gab einmal in einem Interview zu erkennen, dass er eigentlich nur eine neue Version von „Every Breath You Take“ schreiben wollte (so wie „Everybody Hurts“ auch nur eine Neufassung von „Bridge Over Troubled Water“ darstellen sollte) – was wohl gelungen ist, wenn man bedenkt, dass der Track neben „Man On The Moon“ wohl zu den großen, unvergesslichen Hymnen von R.E.M. zählt.
Die ursprüngliche Idee für den Song hatte der Legende nach Gitarrist Peter Buck, als er Baseball sah, Bier trank und dabei an seiner Mandoline zupfte. Zunächst spielte Berry bei den Aufnahmen den Bass, dann wurde getauscht, so dass es doch ein Bandarrangement mit Drum, Bass und Mandoline wurde. Warner wollte das Lied ursprünglich nicht als Single herausbringen, sah darin kein großes Potenzial. Aber die Band setzte sich einmal mehr durch – und erreichte plötzlich Hörer, die bei ihrer Gründung gerade einmal ein Jahr alt gewesen sein dürften.
„Der albernste Song der Popgeschichte“
Auch wenn „Losing My Religion“ (der Titel bezog sich, das ist inzwischen allgemein bekannt, natürlich nicht auf jemanden, der vom Glauben abfällt, sondern verweist auf einen Südstaatenspruch, der in etwa übersetzt werden kann mit „am Ende sein“ oder „ratlos“) der bekannteste Song von „Out Of Time“ wurde, so ist er im Vergleich zu der in vielerlei Hinsicht bitter-traurigen zweiten Seite nicht der spannendste Track auf der LP. Bevor aber Mike Mills mit einem seiner seltenen Mikrofongastspiele auf „Texarkana“ von „40 000 Tears In My Eyes“ singt und „Catch Me If I Fall“ fleht, schnappt sich „Shiny Happy People“ ungeniert den Titel des wohl albernsten Songs der Popgeschichte.
Gemeinsam mit Kate Pierson von den B-52s – ebenfalls aus Athens – stimmt die Band mit voller Absicht einen entsetzlich fröhlichen Gassenhauer an, der laut Stipe schon deshalb zum Grinsen anregt, weil so viele i-Laute enthalten sind. David Fricke schrieb zur Veröffentlichung von „Out Of Time“ in der US-Ausgabe des ROLLING STONE, dass das optimistische „Stand“ dagegen wie ein Trauermarsch geklungen habe.
Dass „Shiny Happy People“ mit seinem Rythmuswechsel im Mittelteil und den verschrobenen Walzeranteilen zu Beginn wohl kaum Hitparadenfutter war, fiel zunächst gar nicht auf. Aber möglicherweise liefert vor allem der Clip zum Lied Hinweise auf die Motivation für den Track: Darin tanzten die Musiker gemeinsam mit Pierson und einigen Schulkindern ausgelassen herum; Stipe hatte dazu einen goldenen Anzug mit einer falsch aufgesetzten Basecap an und sang (angeblich) zum ersten Mal in einem Video lippensynchron zum Playback, was die skurrile Darbietung nur noch witziger machte. Vielleicht steckte hinter der ansteckenden guten Laune doch ein gut versteckter Zynismus, auch wenn R.E.M. dies in Interviews kategorisch ausschlossen. Die britische Band Fatima Mansions machte sich jedenfalls einen eigenen Reim daraus und spielte „Shiny Happy People“ als harsches Punk-Stück ein.
R.E.M. beschäftigten sich auf „Out Of Time“ mit der Vergänglichkeit der Zeit, der überlebensnotwendigen Wichtigkeit der Erinnerung und, wie die Band eigentlich in jedem Gespräch damals erwähnte, mit den Wirrnissen der Liebe. Dabei gibt Stipe mit der Beschwörung der wohl traurigsten Dämmerung, die man je erleben wird, in „Half A World Away“, einem der schönsten Songs auf dem Album, auch das Signal für eine ganz und gar subtile Reflexion über depressive Verstimmung.
Mindestens die Gefühlslage eines an der Welt(-lage) zweifelnden, mit den eigenen Gefühlen und der verloren gegangenen Jugend hadernden, bittersüßen Skeptikers wird aufgerufen – und dazu passt, dass es in „Half A World Away“ um zwei Menschen geht, die glauben, einander zu lieben, aber es in Wahrheit gar nicht tun. Von außen betrachtet wohl das Tragischste, das passieren kann. Aber ist es das auch für die sich gegenseitig Anschwindelnden? Fast alle Lieder auf „Out Of Time“ sind, anders als auf früheren LPs, in der ersten Person geschrieben – und Stipe musste mehr als einmal erklären, dass es sich bei den Texten nicht um autobiographische Beschreibungen handelte.
Michael Stipe kotzte sich aus
Doch die Konzentration auf das mit Selbstzweifeln kämpfende Subjekt öffnete dem Sänger – auch mit seiner immer kraftvoller werdenden und zugleich weidwunder tönenden Stimme – neue Räume, die schließlich in der Pedal-Steel-Improvisation „Country Feedback“ münden. Wie von einem bösen Geist besessen, seziert Stipe hier einen Zustand des giftigsten Selbsthasses nach einer wohl gescheiterten Beziehung, säuselt zwischenzeitlich sogar resigniert „Fuck Off“, um sich an dem eigenen Leid geradezu zu berauschen. In nur 35 Minuten stand die Aufnahme, für deren Text der Sänger gerade einmal eine Zeichnung mit einem Indianerkopf und einem Pfeil zur Hand nahm. Live wuchs das „gezielte Auskotzen“ (Stipe) bei späteren Konzerten noch einmal um einige Stufen über sich hinaus, Buck zelebrierte seine schier endlos erscheinenden Gitarrensoli und der Sänger brach stets am Mikrofon zusammen.
„Me In Honey“ schlägt dann als Schlussakkord mit einem vergleichsweise simplen Gitarrenriff einen völlig anderen Ton an, windet sich aus der Elendsschlinge (wie es die oft versöhnlichen Abschlusslieder bei R.E.M. immer tun) und sinniert über die Gefühle eines werdenden Vaters, der sich in dem Dilemma befindet, einerseits beteiligt zu sein, etwas Großes zu fühlen, andererseits aber auch außen vorbleibt und das (hormonelle) Glück der Mutter überlassen muss. Thematisch wurde „Me In Honey“ von einem Lied von Stipes Freundin Natalie Merchant inspiriert („Eat For Two“ von den 10.000 Maniacs).
Mag der Song auch musikalisch eher schlicht sein – die Nachfolgeplatten boten ganz andere Kaliber als letzten Akt -, so steht sein einfühlsames Thema für den geradezu zeitlosen Zugang dieser Band zu viel zu oft in der Öffentlichkeit gar nicht in Worte gefassten Gedanken, die 1980 die Menschen schon genauso beschäftigten wie 2011, als sich die Band trennte.
Michael Stipes Poesie vermittelte sich immer schon über die zärtliche, niemals aufdringliche, nicht selten nur herbeigemurmelte Andeutung von Gefühlen. Ihre Stärke bezieht sie daraus, dass es kaum möglich ist, zu unterscheiden, ob diese Gefühle nun einfach oder kompliziert sind. Sie werden mit der gleichen Sorgfalt behandelt.
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