Alles Lüge
Wir sind dagegen: eine kleine Geschichte des Anarcho-Rock in der Bundesrepublik und anderswo im deutschen Sprachraum.
Der Anarchismus als Theorie? Für praktizierende Künstler völlig uninteressant. Er ist die Domäne blutleerer Karteikarten-Schreiber und Bahnsteig-Karten-Abzwick-Revoluzzer. Was Kunst betrifft, lässt sich Anarchie in wenigen Worten definieren: „Die Leute fragen manchmal, unter welcher Regierungsform der Künstler am besten lebe. Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Die Regierungsform, die für den Künstler am geeignetsten ist, ist: überhaupt keine Regierung“ (Oscar Wilde). Auf die Musik und die Musiker bezogen heißt das: Als Anarcho-Rocker qualifiziert waren und sind alle antiautoritären Individuen, die in nicht-hierarchischen Zusammenhängen leben und Musik machen, die nicht starren Regeln folgt, sondern ein Ergebnis kommunikativen Handelns darstellt, das oft spontan und improvisiert ist.
Antiautoritäre Rocker gab es in der BRD seit Anfang der bundesrepublikanischen Zeitrechnung. Protest und Rebellion verbanden sich von Anfang an mit dem Rock’n’Roll und wurden diesem von den Medien auch sofort zugeschrieben. Ein paar zertrümmerte Stuhlreihen genügten schon, dazu kam Abweichlertum in Jeans und Lederjacken. Während die Jung-Bourgeoisie mit Peter Kraus und Conny Froboess ersatzbefriedigt wurde, vermittelte schon ein Ted Herold (unbewusst?) einen Hauch von rebellischer Sehnsucht, wenn er auch nur den Mond ansang. Es ging aber auch damals schon etwas härter zu. Der Cover-Künstler, Musiker und Autor Helmut Wenske erinnert sich in „Scheiß drauf!“ (2003) an seine Anfänge in Hanau: „Endlich hatte ich die verdammte Schule hinter mir, da ist aus den Staaten gerade zur rechten Zeit der Rock’n’Roll übern großen Teich geschwappt. Bald begannen die Käseblätter mit ihren Stories von Aufruhr und Rebellion der Halbstarken die Spießer zu erschrecken, und je heißer die Presse ihr Süppchen kochte, desto mehr entsprachen wir dem Bild von der kriminellen Jugend, das wie eine drohende Wolke überm Wirtschaftswunderland hing.“
Egal ob Hanau oder München, die Befindlichkeit war ziemlich gleich. Richard Winter alias Richard Rigan schreibt in seinen Memoiren: „Statt uns etwas Vernünftiges beizubringen, erzählten uns die Lehrer, dass die GIs zu faul seien, sich zu bücken und deshalb im Jahre 1948 die Bäume in ein Meter fünfzig Höhe abgesägt hätten. Aber dass wir, die wir 1945 geboren waren, Milch bekamen, die zu neun Zehntel aus Wasser bestand, erzählten sie uns nicht und schon gar nicht, dass es der Hilfe der GIs zu verdanken war, dass wir überlebt hatten. Die Schule griff damit meine Musik an, und Hass entwickelte sich und staute sich auf. Gegenseitig. Ich wollte mich nicht unterdrücken lassen. Damals nicht und heute nicht. Mein Punks und extravaganten Elektronik-Avantgardisten“ (Der Spiegel) wurde angetrieben von „überschäumender, manch-Zeugnis war natürlich die reine Katastrophe. Ein gewisser Hobelsberger, er gab Deutsch und Geschichte, ergötzte sich richtig, wenn er meine Noten bekannt gab. Mit den Worten ‚Winter, Sechs!‘ schien er zu ejakulieren, und sein Gesicht verklärte sich, schien zu einer Fratze zu werden. ‚Ich muss hier weg‘, dachte ich, ‚und zum Militär gehe ich auch nicht‘. So ein Wichser wollte ich nicht werden. Dienen? ‚Wie kann man für irgendeinen Scheiß-Sold dienen?‘, dachte ich. Was lernst du da, beim so genannten Bund? Rauchen, Saufen, Töten, Wichsen – vielleicht noch die Freude auf die Vergewaltigung, falls man bei den Siegern ist? Für meinen Vater musste ich oft die Kriegsversehrtenrente von der Post abholen. Dreißig Mark für einen Lungensteckschuss, halb erfroren und fast verhungert, kurz vor Moskau. Nicht mit mir. Kein weiterer Kommentar.“
Konservative Soziologen machten schnell die (Rocker-) Gang als gesellschaftliches Format dieser ersten Jugend-Subkulturen nach dem Krieg aus, Parallelen zu den USA waren offensichtlich. Rock’n’Roll war der ideale Soundtrack für Rummelplatz-Schlägereien oder fürs Ficken im Freien – sobald es die ersten tragbaren Batterie-Plattenspieler gab. Hart waren die Winter, da immer noch ein so genannter Kuppelei-Paragraph existierte, der es Unverheirateten verbot, miteinander zu schlafen. Das Ergebnis übers Jahr waren hervorragende Schmuddelkinder, die später dann den Religionsunterricht schwänzten und antiautoritäte Kindergärten auseinander nahmen.
Die Nächte verbrachte man in jugendgefährdenden Beat-Clubs, in Party-Kellern oder an verborgenen Lagerfeuern an Flussufern. Da kam es dann schon einmal vor, dass ein durchreisender Tramp Rimbaud zitierte oder Villon; oder dass Künstler der älteren Generation Wohlwollen signalisierten und ihren Töchtern nächtelangen Ausgang erlaubten. Wie gesagt, der theoretische Karteikarten-Archiv-Anarchismus hat kein Verhältnis zur Musik. Umgekehrt aber behaupten nicht wenige Musiker, im Grunde ihres Sänger- oder Musikantenherzens Anarchisten zu sein. Ob das im Einzelfall stimmt, soll und kann hier nicht untersucht werden, das werden die Rock-Kommissare schon anhand der Wiki-Listen erledigen. Dass Musik der Auslöser veritablen anarchischen Verhaltens sein kann, bewiesen 1962 ausgerechnet im braven München die so genannten „Schwabinger Krawalle“. Bereits 1961 hatte die avantgardistische Künstlergruppe „Spur“, die zeitweise der Situationistischen Internationale (SI) nahe stand, in ihrem Gaudi-Manifest „allen Ernstes die Gaudi“ gefordert. Ein Jahr später war es dann soweit. „Am 21. Juni spielen um Mitternacht fünf junge Männer Gitarre. Etwa einhundertfünfzig Menschen singen tanzen auf dem Wedekindplatz. Der eintreffenden Polizei schallen Rufe wie ‚Vopo, Nazistaat, Polizeistaat‘ entgegen. Noch kann die Polizei, nachdem Verstärkung herbeigerufen wurde, den Platz räumen. Die Münchner Stadtpolizei liefert sich nun in den folgenden fünf Nächten heftige Auseinandersetzungen mit mehreren tausend (die Polizei nennt die Zahl 30.000) Jugendlichen und Studenten. Einhundertneunundzwanzig Menschen werden festgenommen, unter ihnen auch Andreas Baader.“ (Gustav Gans, Schwabinger Gaudiblatt, Juli 2008)
Auch nicht praktizierende Musiker sind betroffen, etwa der Liedermacher Julius Schittenhelm: „Etwa um zehn Uhr erschien ein mit Lametta geschmückter Polizei-Offizier vor der Türe (des Schwabinger Lokals ,Nest‘ Anm. d. Verf.) und wurde eingelassen. Er sprach: ‚Meine Damen und Herren, wir müssen jetzt die Lokale an der Leopoldstraße räumen. Sie haben freien Abzug. Gehen Sie bitte im Gänsemarsch aus dem Lokal nach rechts und verlassen Sie durch die Trautenwolfstraße den Bereich der Leopoldstraße.‘ Was blieb uns übrig? Schätzungsweise 30 Gäste verließen also, einer hinter dem anderen, das ,Nest‘ in die angegebene Richtung. Als wir in die Seitenstraße einbogen, erwarteten uns dort an die zwanzig Bullen, die eine Gasse bildeten und, während wir hindurch liefen, wie die Irren mit Knüppeln auf uns einschlugen. Ich ging zu Boden, meine Hose war zerrissen, und Doktor Francke stellte am nächsten Tag zehn Blutergüsse an Kopf und Schultern fest. Eine Dienstaufsichts-Beschwerde blieb trotz Einschalten eines Anwalts ohne Wirkung. Dieses Ereignis ließ mich nicht kalt, wie man sich vorstellen kann. Es war eine Demonstration des Obrigkeitsstaates, den ich überwunden glaubte, und ich vermutete folgerichtig, dass ein Großteil der Polizei nach wie vor faschistoid sei. Ich wurde sozusagen schlagartig politisiert und verlor jedes Vertrauen in Politik und Staat.“ (Julius Schittenhelm: „Ich bin kein Volk“)
Ein veritabler Generationenkonflikt
Ab 1964 überrollt erstmalig die Beat-Welle den „Blauen Bock“ und andere TV-Gartenzwerg-Spektakel, die später im „Musikantenstadel“ kulminieren sollten. Die Langhaarigen, deren Haare schon weit in die Stirn und zentimeterlang über den Kragen fallen und die ganz, ganz schlimmen Gammler treiben es unverschämt laut und vor allem „Bild“ viel zu weit. Pogromstimmung kommt auf, die dann 1968 zu Mord und Totschlag führen wird. Als dann ruchbar wird, dass diese „Negermusik“ praktizierenden Typen sich nicht nur wie anständige Steuerzahler sinnlos besaufen, sondern zu „bewusstseinserweiternden Drogen“ wie dem teuflischen Hasch und dem noch schlimmeren LSD greifen und auch noch Lieder davon singen, ist der Ofen völlig aus – bei den Alten. Ein veritabler Generationskonflikt bricht aus, der die strenge Nachfrage der Jugendlichen provoziert: „Was hast du, Vater, im Dritten Reich getan?“ Die häufigste Antwort: verkniffenes Schweigen. Die häufigste Reaktion: Nichts wie raus aus dem Mief! Alles gilt: Gammeln, Studieren (eine etwas edlere Variante des Gammeins), Trampen, Anschaffen, Dealen – es bildet sich eine jugendliche Subkultur heraus, die einen gemeinsamen Soundtrack sucht. Sie findet ihn schnell bei den bösen Buben der aufkommenden Pop-Kultur: den Stones, den Fugs, den Mothers Of Invention, Velvet Underground, Hendrix, Joplin. Vor allem Musiker machen die Ohren auf. Es gibt neue Sounds zu kreieren. Es gibt neue Spielweisen, neue Instrumente wie die Exoten Sitar und Shenai, es gibt neue Effekte wie Wah-Wah und Fuzz. Sobald das Zeug in den Läden ist, geht es auch hierzulande heftig los.
Grüß Gott mit hellem Klang!
Unter den ersten, die es checken, sind der findige Journalist Rolf-Ulrich Kaiser und Tom Schröder, Herausgeber der Zeitschrift „Song“. Sie erfinden die Essener Songtage, eine wüste Mischung aus Liedermachern, Rockbands und Subkulturisten. Neben harmlosen Folkies, Protestsängern wie Degenhardt und Jazzern wie Peter Brötzmann traten auch einige durchaus anarchisch organisierte Gruppen auf, allen voran die Fugs und David Peel. Aus Deutschland kam die spätere creme de la creme des Underground: Amon Düül, Guru Guru, Soul Caravan (später Xhol Caravan) sowie die Einzelkämpfer Bernd Witthüser und Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter, später Verfasser einer „Theorie der Subkultur“ und Professor für Abweichlertum in Kassel. Amon Düül, die sich schon anlässlich dieses Umstands in I und II gespalten hatten, waren die prototypische Anarcho-Band. Anfänglich als radikale Kommune zusammen lebend und konsequent kollektiv improvisierend, erspielten sie sich bei den Songtagen einen Ruf als originellste deutsche „Sauerkrautband“. Ästhetisch war das Ergebnis freilich nicht allzu weit von den Kiffer-Trommlern entfernt, die den Münchner Monopteros im Englischen Garten langjährig besetzt hielten. Amon Düül II war die musikalisch ambitionierte Fraktion, Lautstärke war ihr Credo, dazu kamen wilde psychedelische Light-Shows wie bei den kalifornischen Acid-Rockern. Auch vom Eigenbild und Selbstverständnis her waren sie Anarchos. Nachzulesen in Ingeborg Schobers Darstellung „Tanz der Lemminge“.
Musikalisch gerade noch mithalten konnten mit ihnen die stark auf die Stones fixierten Ton Steine Scherben, die es textlich, politisch und ideologisch allerdings besser drauf hatten. Noch wilder und noch lauter trieben es dann nur noch Checkpoint Charlie, die ebenfalls als Kommune lebten und deren erste Eigenproduktion „Grüß Gott mit hellem Klang“ verboten wurde, und das wohl nicht nur wegen des provokant blasphemischen Covers. Die Revolution war nicht mehr aufzuhalten, scheint’s. 1967/68/69 war es dann soweit – oder jedenfalls knapp davor, wenn man der bürgerlichen Presse glauben wollte oder der eigenen, viel zu optimistischen Einschätzung hinsichtlich einer weltweiten Jugendrevolte. Musik wurde trotzdem immer noch gemacht.
„In einer kleinen Fabrikhalle sitzen am 29. September 1968 einige Menschen im Kreis herum. In der Mitte Rolf Schwendter. Mit Hilfe einer Kindertrommel singt er Lieder, die ein handelsübliches Tonbandgerät aufnimmt. Der dünne, aber begeisterte Applaus belegt die Zufriedenheit der Anwesenden mit dem ‚Werbelied für die Konsumgesellschaft‘ und der Rolling-Stones-Nummer ,Ich bin noch immer unbefriedigt‘. Die Schallplatte dieser Aufnahme verkauft sich schlecht, wird aber oft geklaut.“ (Gustav Gans)
Festival-Verbot und eine Sau namens Franz Josef
Die Plattenindustrie hat erstmal nicht das geringste Interesse an revolutionärer anarchischer Rockmusik. „Liedermacher“, wie die Chansonniers jetzt heißen, also Wader, Biermann, Degenhardt JA; Polit- und Anarcho-Rock à la Ton Steine Scherben oder Checkpoint Charlie NEIN. Diese beiden Gruppen ziehen als erste die Konsequenzen, produzieren und vertreiben ihre Platten selbst, ein Weg, den auch die avantgardistische Combo Can geht. Der Rest – mit Ausnahme der Düül – unterschreibt anfangs bei R. U. Kaisers Label „Ohr“, später „Kosmische Kuriere“, und bei „Brain“. Hiife leisten einige engagierte Plattenläden und Journalisten, vor allem in SOUNDS, dem führenden Musikblatt. Die Szenen der Headshops, der Stadtzeitschriften, allen voran „Blatt“ aus München, die Comix, die Underground-Blätter von „Der grüne Zweig“ bis „Gasolin“ tragen auch die Musiker. Organisationsformen entstehen, vom Underground Press Syndicate bis Schneeball-Records.
Erste Festivals finden regen Zulauf. Viel läuft nach angloamerikanischem Vorbild an den Kunstakademien und Universitäten. 1972 verfügt der Freistaat Bayern ein totales Festival-Verbot. Das provoziert Widerstand, wie so ziemlich alles, was der CSU taugt. Checkpoint Charlie treiben die Sau „Franz Josef durch die Festivals. Der Spaß wird teuer, ist es aber wert. Checkpoint Charlie, Embryo, Amon Düül experimentieren nicht nur musikalisch. Sie leben in Kommunen und Wohngemeinschaften, die aus dem Beton der Städte sprießen. Für die jüngeren Nachrücker wie Munju oder Sparifankal ist das dann alles schon selbstverständlich: keine Macht für Niemand, nix Musik-Business, kein Abwasch-Plan, acht Leute in vier Zimmern, kaum noch Privatleben und -eigentum, spontane Beziehungen, die sich manchmal zu festen entwickeln. Man lebt am Existenz-Minimum, um Zeit für Wichtiges zu haben: reden, lesen, lernen, reisen, Filme anschauen, Platten hören, Konzerte besuchen.
Die eigene Musik entsteht durch nachhaltige Improvisationen. Die Texte sind wahlweise englisch, hochdeutsch oder im jeweiligen Dialekt. Hauptsache, es wird nicht von der linken Kanzel gepredigt. Nach der Niederschlagung der 68er-Revolte geht das Projekt der Graswurzel-Revolution von unten weiter, kleinteiliger, aber auch konkreter. Es beginnt der Kampf um selbstverwaltete Jugendzentren, erste ökologische Themen tauchen auf, die Frauen melden sich zu Wort, auch musikalisch, leerstehende Häuser werden besetzt. In Berlin erobern die „Unbeugsamen vom Tempelhof“ das alte UFA-Gelände. Immer und überall spielen die einschlägigen Bands, fast immer umsonst. Das gilt später auch für St. Marx in Wien und sowieso, wenn Züri brännt. Man organisiert sich, wo es nur geht, nach dem Vorbild der Amsterdamer Provos und des Kopenhagener Freistaats Kristiania. Die Anti-Atom-Bewegung erhält durch Wyhl neue Impulse. Radio Dreyecksland sendet Musik von Walter Mossmann, Tommi, Witthüser & Westrupp oder dem unermüdlich lebhaften Straßengeiger Klaus aus Köln.
Viel davon erscheint bei „Unsere Stimme“, dem musikalischen Ableger des linksradikalen Trikont-Verlags. Dort erscheinen nicht nur die EAV und Geier Sturzflug, sondern auch Sigurd kämpft, Dullijöh, das linksradikale Blasorchester und Schroeder Roadshow. Die Polit-Rocker Panther produzieren eine LP in Eigenregie, Sperrmüll leben als Kommune, Lok Kreuzberg machen soliden Polit-Rock, Franz K. und die Gebrüder Engel desgleichen – Anarchie in Germoney?
Die unangefochten großen, wichtigen und wegweisenden Polit-Rocker sind und bleiben Ton Steine Scherben, die inzwischen auch als Landkommune im hohen Norden Frieslands leben und noch zwei andere Musikprojekte alimentieren: die Frauenband Carambolage und das Album der lustigen Schwulen-Theatertruppe Brühwarm.
Egal, ob gute, gut gemeinte, banale Texte oder gar keine, die Anarcho-Krauts lieferten den Soundtrack zu fast allen Formen außerparlamentarischer Opposition. Zudem wurden neue Großformen erprobt, wie etwa auf der Abart-Tournee der Schneeball-Musiker 1981, wo jeweils ein oder zwei Mitglieder aus allen Gruppen zusammen neue spontane Bands bildeten, Szenen aufführten und durch Deutschlands Städte zogen. Geprobt hatte man davor in der UFA-Fabrik, wo die „Unbeugsamen vom Tempelhof“ hausten und ein Konglomerat mehrerer alternativer Betriebe sich als Gegenökonomie versuchte. Ein anderes Modell war „Hundertfleck“, eine lose Gruppierung von Musikern, Schauspielern und Artisten, die ab 1976 fast drei Jahrzehnte lang aktiv war. Musik spielt auch beim Grips-Theater eine nicht unbedeutende Rolle, desgleichen im Umfeld des Zelttheaters Fliegende Bauten. Die Schweiz hatte Urban Gwerders „Poetenz-Show“, die Österreicher hatten und haben Drahdiwaberl als Hüter des grotesk schlechten Geschmacks und der totalen Anarchie.
Schon bald wird das Festival-Verbot in Bayern wieder aufgehoben. Die Schneeball-Musiker interessiert das nicht, denn sie haben längst die preiswerte Alternative erfunden: „Umsonst und Draußen“. Und in München läuft dank Jürgen Birr seit Anfang der siebziger Jahre jeden Sommer einen Monat lang das freie Festival am Theatron im Olympia-Gelände. Als der „Spiegel“ und der „Stern“ anfangen, vom „deutschen Woodstock“ zu faseln und für 1980 mindestens eine Viertelmillion Besucher für „Umsonst und Draußen“ in Vlotho voraussagen, ziehen die verantwortungsbewussten Schneeball-Musiker die Notbremse. Das Festival wird dezentralisiert und existiert in dieser Form bis heute.
Die achtziger Jahre bescheren uns Punk und NDW und dergleichen. Bands wie Hans-A-Plast oder Bärchen und die Milchbubis stellen das Bindeglied zwischen der Generation Rock und der Generation Punk her. Hollow Skai gründet in Hannover mit No Fun ein weiteres Independent-Label, sein Kollege Alfred Hilsberg in Hamburg komplettiert das Angebot mit ZickZack. Die Gewichtung verschiebt sich für längere Zeit in den Norden Deutschlands.
Dass es Anarcho-Punk à la Crass auch im Süden gab, dokumentiert erst Jahrzehnte später ein Film, „Mia San Dageng! Punk in München“. Schnittstelle hier sind die Proteste gegen die Wiederaufbereitungs-Anlage in Wackersdorf, die allerdings von der Plattenindustrie zur Werbe-Plattform instrumentalisiert werden, und der Kampf gegen den Flughafen im Erdinger Moos, der von der Bevölkerung und einheimischen Musikern unterstützt wird. Am konsequentesten waren da vielleicht die Musiker der reisenden Chaos-Truppe Phosphor, die ohne eigene Instrumente zu besitzen, diverse Bühnen piratenmäßig enterten und den verdutzten Teilnehmer eins draufpunkten. Aber das ist alles schon gemachte Geschichte.
Denn danach kam MTV, die Rebellion verkam zur inszenierten Attitüde. Nichts gegen Die Ärzte, Nina Hagen oder Die Toten Hosen, aber wer TV glotzt oder selbst die Maschine füttert, bewegt nichts mehr, weil alles Konserve und damit zensierbar ist. Live war damals, als Nina den Österreicherinnen das Masturbieren zeigte (vermutlich überflüssig, denn Jahre zuvor hatte Rolf Schwendter schon gedichtet und getrommelt: „Die meisten Maturantinnen sind meistens Masturbantinnen…“) und als Nikel Pallat mit der Axt den Moderatoren-Tisch spaltete. Jetzt ist Fernsehen nur noch lustig, wenn ein Nachrichtensprecher einen Freudschen ablässt oder das Satelliten-Telefon aus Burkina Faso ausfällt.
„Am Wochenende sauf ich mich voll“
kleinteiliger, aber auch konkreter. Es beginnt der Kampf um selbstverwaltete Jugendzentren, erste ökologische Themen Wer heute noch irgendwen zu irgendwas provozieren will, möchte manchmal schier verzweifeln, wie Christoph Weiherer nach manchem Auftritt. Immerhin, er gibt sich noch Mühe, wie seine Freundinnen und Freunde auch. Sie nennen das, was sie tun, „Liedermaching“ und scheuen die Konfrontation mit einem konsumgeilen Publikum mitnichten. Götz Widmann etwa, Dany Dziuk, Strom und Wasser alias Heinz Ratz und Pensen, an guten Tagen auch Bernd Begemann und Stoppok tragen durchaus einen Hauch von Verunsicherung in die selbstzufriedene und übersättigte Folk-Szene, der jede Lust zur Qualitäts-Debatte und zur ästhetischen Diskussion abhanden gekommen ist vor lauter globalisierter multimedialer Weltmusikalität, die sich so wunderbar zum Eskapismus eignet. Aber da seien die oben Genannten und auch die wunderbar clownesk-zappelige Anti-Folk-Muse Johanna Zeul („Am Wochenende sauf ich mich voll, weil der Erlös nach Afrika gehen soll.“) und ihr erfreulicher Freund und Krawallier Martingo alias Martin Goldenbaum vor.
Will sagen: Anarchie ist eine nachhaltige Angelegenheit und auch Anarchos wachsen immer wieder nach, um gegen die anstehenden Sauereien anzuschreien. Es gibt immer nur eine Zwischenbilanz: Wackersdorf gewonnen, Flughafen verloren, Autobahn durchs Isental vorläufig unentschieden. Schwarz-Gelb im Anzug. Atom-Lobby ante portas. Der Kampf geht weiter, die Musik auch.