Alle für einen

Die einzigartige Dokumentation „Springsteen And I“ lässt Fans zu Wort kommen – und der Boss selbst darf ausnahmsweise schweigen

Im september vorigen jahres wurde Baillie Walsh eine Ehre zu Teil, die er sich eigentlich nicht verdient hat: Er bekam eine Karte für eine bereits seit Monaten ausverkaufte Show von Bruce Springsteen in East Rutherford, New Jersey und durfte sogar hinter der Bühne mit dem Star sprechen – und das, obwohl er nicht eine Platte des „rich man in a poor man’s shirt“ besitzt und ihn zuvor noch nie live gesehen hatte. Denn der Filmemacher, der unter anderem den Daniel-Craig-Streifen „Flashbacks Of A Fool“ und Dokumentationen über INXS und Oasis drehte, führt bei einem bisher einzigartigen Projekt der Popgeschichte Regie: „Springsteen & I“.

Im November 2012 wurden alle Anhänger des Bosses eingeladen, ihre persönlichen Reminiszenzen, Geschichten und Erfahrungen auf Video aufzunehmen und für einen Crowdsourcing-Film einzureichen. Walshs Aufgabe besteht darin, das Material für einen rund 90-minütigen Film zu strukturieren und zu verdichten. „Gerade weil ich kein Anhänger war – auch wenn ich seine Musik immer geschätzt habe – kann ich objektiver, ohne vorgefertigte Meinung an die Sache gehen, und das ist wichtig“, so der Regisseur. Bislang hat er rund 3 000 Clips bekommen, vornehmlich aus den USA, sucht aber weiterhin nach Material. „Die Resonanz in Europa war leider ein bisschen enttäuschend. Ich hoffe sehr, dass da noch etwas nachkommt.“ Dafür ist Walsh sogar bereit, die ursprünglich angekündigte Deadline für die Abgabe vom 1. Januar 2013 auszusetzen und auch während des Schnitts noch weiteres Material zu sichten.

„Springsteen & I“ ist nicht die erste Dokumentation dieser Art. 2011 feierte „Life In A Day“ Premiere, für das 80 000 Menschen auf der ganzen Welt die Erlebnisse ihres Tages festgehalten hatten. Produziert wurde der Film von Ridley Scotts Firma Scott Free. Seither suchte man dort nach dem Sujet für das nächste Schwarm-Projekt – und stieß auf Springsteen. Ob der dreifach oscarnominierte Scott, der als ausführender Produzent fungiert, den Songwriter mag, ist nicht bekannt. Auch nicht, warum er sich keine Band wie die Rolling Stones aussuchte.

Für Walsh, der im Laufe seiner Arbeit zum Springsteen-Verehrer wurde, ist die Antwort eindeutig: „Bruce‘ Karriere währt immerhin schon 40 Jahre, und im Gegensatz zu den Stones produziert er auch heute noch Musik, die unglaublich relevant ist und die Menschen berührt. Für mich ist ‚Wrecking Ball‘ eines seiner besten Alben. Er ist ein hochintelligenter Erzähler, der auch andere Menschen zu Geschichten inspiriert. Er ist für dieses Projekt ideal geeignet.“

Obwohl „Springsteen & I“ als ein Film „von den Fans für die Fans“ konzipiert ist, soll er nicht nur die Hardcore-Anhänger erreichen. „Er handelt in erster Linie davon, wie Musik Leben verändern kann, und Springsteen ist der Schlüssel dazu“, so Walsh. „Selbst Leute mit anderen Vorlieben dürften sich davon angesprochen fühlen. Sie hören die Geschichten der Fans und denken sich dabei: ‚Ich habe mit David Bowie oder den Stones das Gleiche erlebt.'“

Kurz erwog man, auch prominente Springsteen-Jünger einzubeziehen. Allein in der Filmbranche gehören unter anderem Tom Hanks, Mickey Rourke, Edward Norton oder Javier Bardem zur Gemeinde. Aber Walsh möchte keinen Film über „Prominente, die einem anderen Prominenten gratulieren“. Wenn, dann müssten sie einfach als Fans unter Fans zu erkennen sein. „Ich will einen Film mit den Fans, die normalerweise nie zu hören sind – außer wenn sie im Stadion mitsingen.“

Springsteen selbst gab dem Projekt bei dem Termin in New Jersey seinen Segen. Der war auch notwendig, da die Dokumentation zwangsläufig seine Songs und Konzertaufnahmen benötigt. „Ich glaube, er ist davon angetan, dass seine Fans eine Stimme bekommen“, meint Walsh.

Noch ist nicht ganz klar, welche Form der Film annehmen wird. Mitte Dezember war der Regisseur noch weit davon entfernt, die eingereichten Clips zusammenzuschneiden. „Ich habe noch keine Struktur, aber ich würde mir auch Sorgen machen, wenn ich sie schon hätte. Momentan muss ich noch ganz offen sein. Die Fans werden mir diktieren, wie dieser Film auszusehen hat.“

Immerhin hat er schon einen ersten Eindruck: „Die besten Geschichten sind die persönlichsten. Und viele davon erinnern sehr stark an Springsteens Songs.“ Er plant, den Film bis Mai, Juni fertigzustellen, will sich aber keinem übertriebenen Zeitdruck unterwerfen. Danach soll „Springsteen & I“ auf Festivals gezeigt werden und auch ins Kino kommen.

Eine Sorge ist Walsh freilich geblieben: Wird das eingereichte Material überhaupt ausreichen? „Natürlich zerbreche ich mir deshalb den Kopf. Aber das ist bei allen Dokumentationen so, auch bei denen, die du selbst drehst. Du weißt nie, was du bekommst. Was du brauchst ist ein Sprung des Glaubens. Es geht nicht anders.“ RÜDIGER STURM

Crowdsourcing

Der Begriff Crowdsourcing wurde erstmals 2006 im amerikanischen Technologie-Magazin „Wired“ verwendet und ist eine Abwandlung des betriebswirtschaftlichen Outsourcing. Doch während dieses eine Auslagerung bestimmter Unternehmensbereiche an spezifische Drittunternehmen bezeichnet, wird beim Crowdsourcing die jeweilige Aufgabe an eine nicht spezifizierte Menge von Internetusern übertragen. Der Input kann sowohl kreativer als auch finanzieller – das so genannte Crowdfunding – Natur sein.

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