Arcade Fire: Alle Alben im ROLLING-STONE-Check
Arcade Fire sind längst die größte Indie-Band unserer Zeit. Seit ihrem Debüt „Funeral“ hat die kanadische Band eine erstaunliche Entwicklung hingelegt. Aber welches ist ihr bestes Album?
5. „Everything Now“
Eine Geisterstimme intoniert die ersten Zeilen: „I’m in the black again/ Can’t make it back again.“ Es ist David-Bowie-Territorium, der Meister scheint vom „Blackstar“ zu grüßen. Doch dann: „We can just pretend/ We’ll make it home again.“ Eine Schlagermelodie bricht los. Der Glockenklang von Roy Bittans Piano. Die Coolwerdung der Panflöte. Ein Chor hebt an zum kolossalen „Lalalalalalalala“. „Everything Now“ ist die Hymne, die eigentlich keiner mehr schreibt, ein unwahrscheinliches Stück Pop: süßlich, eingängig, unwiderstehlich. Konsumkritik für Konsumenten konsumkritischer Tanzmusik. Und eine clevere Finte. Denn die anderen Stücke des fünften Arcade-Fire-Albums verlegen den Ton weg vom Stadion in schwüle Discotheken, in die Hitze der Nacht, in die verzweifelten Sehnsüchte und Schattenseiten der Seele.
„Signs Of Life“ ist Funkadelic-Groove plus Isaac-Hayes-Grandezza plus Talking-Heads-Irrsinn. Win Butler besingt menschliche Wesen auf der Suche nach Erleichterung, wenn schon keine Erlösung in Sicht ist. „God, make me famous/ If you can’t, just make it painless“, heißt es in „Creature Comfort“. Dazu hämmert der Sound von Düsseldorf, circa 1980, eine Synth-Bassriff wie in DAFs „Der Mussolini“. „Peter Pan“ schaltet Jahrmarktdudelei mit Videogame-Scores gleich, „Chemistry“ testet die Grenzen des Repetitiven mit etwas, das wohl ein HipHop-Beat sein soll, und rockt dann stumpf. „Infinite Content“ gleitet von rasantem Punk direkt in einen Country-Schunkler. Im Elektropop von „Electric Blue“ singt Régine Chassagne wie Prince in „Kiss“, nur ohne Sex. Thomas Bangalter (Daft Punk), Geoff Barrow (Portishead) und Steve Mackey (Pulp) verdichten diesen Referenzbogen zum produktionstechnischen Overkill.
Bröckelnde Harmonien, erschöpfte Fantasien
„Good God Damn“ leitet das Finale ein. Streicher künden Unheil. Butler hat den Blues und den Soul und eine Selbstmordahnung: „Put your favorite record on/ Fill the bathtub up/ You could say goodbye to your so-called friends … Maybe there’s a good God, damn.“ Dann ein ABBA-Chorus, „Put Your Money On Me“. Doch die Harmonie bröckelt. Der Versuch, eine Liebe zu retten: „If you think I’m losing you, you must be crazy.“ Schließlich eine Art fröhlicher Finsternis. „We Don’t Deserve Love“: Ein Paar. Ein Highway, möglicherweise. Sie reden nicht, sie berühren sich nicht, sie fahren dem Zuhause entgegen, das es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat.
Arcade Fire zelebrieren die faden Fantasien und erschöpften Illusionen des modernen Lebens, wie wir es kennen. In der Umkehrung von Hohlheit und Hedonismus liegt die Utopie von „Everything Now“.
Max Gösche
4. Reflektor
Arcade Fire sind Überwältigungskünstler. Schon die erste Single ihres vierten Albums war über sieben Minuten lang, hatte David Bowie als Gast und ein Google-unterstütztes interaktives Video als Beigabe. Dazu die Nachricht: „Reflektor“ wird ein Doppelalbum. Die Songs tragen Titel wie „We Exist“, „Porno“ und „Afterlife“ – es geht also tatsächlich um ALLES. Win Butler und Régine Chassagne sind dabei übrigens in den Rollen von Orpheus und Euridyke zu hören. Gegen so viel bedeutungsvolles Pathos ist selbst „Joshua Tree“ Bubblegum.
„Reflektor“ beginnt mit dem Titelstück. Ein mittelmäßiger Song, aber ein Wahnsinnstrack. Dahinter steckt wohl der Produzent James Murphy (Ex-LCD Soundsystem), der der Band gezeigt hat, wie man Spannung aufbaut, indem man einen Track langsam zum Höhepunkt treibt, statt – wie auf dem gefeierten Vorgänger „The Suburbs“ – gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Auf „Reflektor. Vol. 1“ funktionieren alle Stücke nach diesem Prinzip. „We Exist“ schraubt sich an einem „Billy Jean“-Groove in die Höhe, „Flashbulb Eyes“ beginnt als vernebelter Lee-Scratch-Perry-Dub, „Normal Person“ als „ This Notes For You“-Bar-Blues, „You Already Know“ als Smiths-Jingle-Jangle – und am Ende hat sich jeder dieser epischen Tracks in eine Arcade-Fire-Hymne verwandelt. Das überragende „Here Comes The Night Time“ klingt wie Vampire Weekend, die mit einem ABBA-Klavier den alten Them-Hit spielen, „Joan Of Arc“ führt von indischem Getute über Garagenrock zu 80s-Pop.
Erholung nach dem Schleudertrauma
Nach sieben Stücken hat man ein Schleudertrauma, und Arcade Fire schalten für „Reflektor. Vol. 2“ ein paar Gänge runter. Die zweite Platte ist geradezu minimalistisch: Brian-Eno-Ambient, Peter-Gabriel-Ethno und „Fear Of Music“-Talking-Heads hört man hier heraus. Wenn da nicht der ein oder andere Heilsarmee-Chor wäre und die Stimme von Win Butler, die bei jedem Song wie ein Granitblock im Zentrum steht, würde man wohl von einer Neuerfindung sprechen. Erst der Gospel-Funk „Afterlife“ ist kurz vor Schluss wieder Arcade Fire in Reinform. Im meditativen „Supersymmetry“ geben Win und Régine schließlich das durch den Tod getrennte Liebespaar und gegen Ende klingt der Synthesizer wie eine Kirchenorgel. Arcade Fire sind durch den Spiegel gegangen. Auf der anderen Seite haben sie sich selbst gefunden.
Maik Brüggemeyer
3. Funeral
Funeral? Moritaten? Klingt eigentlich eher nach Wiederausgraben, was The Arcade Fire hier machen. Talking Heads, David Bowie, Joy Division, The Cure, Roxy Music und ganz viel Echo & The Bunnymen – nein, wir haben es hier nicht mit Interpol zu tun. Wo diese in ihren länglichen Songs stoisch im Retro-Düstersound stochern, fransen Arcade-Fire-Stücke aus, umspielen Keyboards die Gitarrenwände, brechen sie auf, lassen Streicher, französischen Chanson, Motown-Versatzstücke, Folksongs und Avantpop hinein. Wenn die Stimmen des Ehepaars Win Butler / Regine Chassagne disharmonieren, klingt das, als sängen David Byrne und Björk im Duett – und das liest sich auf dem Papier weniger schön, als es sich unter Kopfhörern anhört.
The Arcade Fire erzählen auf „Funeral“ von einem jugendlichen Ausreißer, der mit 15 seine Familie in Texas verläßt und sechs Jahre später weit entfernt an einem neuen Zuhause ankommt. Es ist auch die Geschichte von Songs, die ausbüchsen und den Erwartungen und Hörgewohnheiten immer wieder entkommen. Denn Arcade Fire nähern sich dem Altbewährten von den Rändern. Von Montreal statt von New York. In anderen Sprachen, in anderen Spielarten das Herz dieser Songs umschmeichelnd. Und wie ihr Protagonist kommen die Songs am Ende irgendwo an – meilenweit entfernt von ihrem Ursprung, aber glücklich. Angst vor Stilbrüchen? Nie! „Fear Of Music“ Sicher!
„Ich weiß, dass es an der Spitze der Charts Bands gibt, die als Retter des Rock’n’Roll verehrt werden und so – aber das sind Amateure. Sie wissen nicht, wo die Musik herkommt“, äußerte Bob Dylan kürzlich in seinem US-Tourprogramm. Hätte er „Funeral“ gehört, könnte er seine Totenwache für den Rock’n’Roll noch ein bisschen verschieben.
Maik Brüggemeyer
2. Neon Bible
Der erste Grundsatz für Rezensenten: Schreibe niemals, eine Platte sei überschätzt. Wirkt immer wie Nachtreten. Denn im Moment des Erscheinens lässt sich selten behaupten, eine Platte werde bereits überschätzt. „Funeral“ von Arcade Fire wurde 2004 überschätzt. Von David Bowie. Von David Byrne. Von allen. Bevor die Platte in Deutschland überhaupt veröffentlicht wurde, eilte ihr der Ruf aus Amerika voraus. Caiman machte ein tolles Geschäft: Das Album der kanadischen Wundergruppe gab es längst als Schnäppchen, bevor sich die Promotion-Maschinerie quietschend in Bewegung setzte. Die Stücke mit „Neighbourhood“ im Titel waren seltsam und verführerisch, die anderen Songs nur seltsam.
Bei „Neon Bible“ wird Bowie wehmütig an seine größten Leistungen denken müssen – und wenn das die Platte vielleicht überschätzen heißt, so ist es doch die Wahrheit. „Black Mirror“ eröffnet mit sanftem Grusel, Weihnachtsgefühlen und Rummelplatz-Getöse; „Keep The Car Running“ verbindet das Kaffeehaus-Ambiente des Penguin Cafe Orchestra mit R.E.M.-Mandolinen. „Neon Bible“ ist ein kleiner Andachtsraum mit gerauntem Gesang. Dann schwingt sich Win Butler zu dem orchestralen „Intervention“ auf- mit Streichern, Kirchenorgel, Glockenspiel und im Hintergrund jubilierenden Kinderchor: „I can taste your fear/ It’s gonna lift you up and take you out of here/And the bone shall never heal/ I care not if you kneel.“
Plüschiger Theaterdonner
Regine Chassagne singt „Black Wave“, das Kinderlied und Rondo Veneziano in einem hurtigen Aufgalopp vereint, bis Butler einfällt und das Stück zum donnernden Bombast-Spektakel führt. Auch „Ocean Of Noise“ und „The Well And The Lighthouse“ sind solche maritimen, überwältigenden Gebilde von der melodischen Grandezza und dem plüschigen Theaterdonner früher Tindersticks-Linder, Zwischen Kitsch und Erhabenheit. Der euphorisierende „Antichrist Television Blues“ (kein Blues!) klingt wie Bruce Springsteen zwischen „Born To Run“ und „Darkness“ mit verhallt-sehnsuchtsvollem Gesang und dunklem Rock’n’Roll: eine lustvolle Ketzerei.
„Windowsill“ ist noch einmal ein fiebriges Gebet ex negativo: „I don’t wanna live in my father’s house/ I don’t wanna live in America no more/ MTV, what have you done to me?“ Das den Weg bereitet für die zickige Hymne „No Cars Go“ mit Streichern und Akkordeon und „Hey!“-Rufen wie in einer irren Polka, die in hysterischer Auflösung mit orchestralem Rauschen und einem Kosakenchor endet. Am Ende erklingt feierlich der Gospel-Choral „My Body Is A Cage“ zur Kirchenorgel: „My body is a cage that keeps me from dancing with the one I love/ But my mind holds the key.“
„Neon Bible“ ist das, was die Rezensenten „Funeral“ zuschreiben wollten: eine barocke, todesselige Feier von Pomp und Folklore, Verdammnis und Verstörung. Nihilismus, Wollust und Wahnsinn. Das Electric Light Orchestra in einer Quäkergemeinde auf dem Land. Eine agnostische Bestie im Gewand eines Engels. Die schönste Versuchung seit Johannes dem Täufer.
Arne Willander
1. The Suburbs
Man kennt ja diese Stimmen aus der Vergangenheit nicht erst seit Facebook. Menschen, mit denen man die angeblich schönsten Jahre seines Lebens verbracht hat. Die ein anderes Leben gewählt haben – und sich nach Jahren wieder melden. Manchmal fährt man dann zurück in die kleine Stadt, um diese Menschen zu besuchen. Man stellt dann meist fest, dass einen nicht mehr viel verbindet. Denn auch in der kleinen Stadt ist die Zeit fortgeschritten. Ein wehmütiges Gefühl.
Dieser Gemengelage haben Arcade Fire nun ein sehnsuchtsvolles, tiefmelancholisches Werk über den Verlust der Jugend und das unerbittliche Fortschreiten der Zeit abgerungen. „When all of the houses they built in the 70s finally fall“, singt Win Butler im eröffnenden Titelsong – bei weitem nicht die einzige Metapher über die Vergänglichkeit auf diesem Album.
Die Kommune, der Mensch und seine Bezugsgruppe waren ja bereits früher typische Arcade-Fire-Themen gewesen. Seitdem hat sich nicht nur die inhaltliche Perspektive verändert. Auch musikalisch hat die Band ihr Vokabular so stark erweitert, dass man zunächst Probleme hat, sie wieder zu erkennen: „Ready To Start“, „Modern Man“ und „Rococo“ fügen neue Farben hinzu, „Month Of May“ ist gar Queens-Of-The-Stone-Age-Rock.
Diese Platte will erkämpft werden
So erschließen sich die mannigfaltigen Schattierungen zunächst langsam. Wo „Funeral“ ein Instant-Klassiker war, muss man sich diese Platte erobern. Der Geduldige wird indes reich beschenkt: Die Kanadier sind Meister des Arrangements, der perfekten Ergänzung von Form und Inhalt – und der ebenso unaufdringlichen wie hochmemorablen Melodien. Auf derart unprätentiöse Weise pompös zu sein beherrschen nur ganz wenige. Springsteen fällt einem ein, vielleicht noch U2.
Die Klasse von „The Suburbs“ zeigt sich vor allem in der zweiten Hälfte: „Suburban War“ steigert sich zu einem furiosen Finale mit der bitteren Erkenntnis: „All my old friends they don’t know me now.“ „The Sprawl“ ist dann die große, wehmütige Autofahrt zu den Plätzen von früher: „Took a drive into the sprawl to find the house were we used to stay.“ Wahlweise beschrieben als das „Automatic For The People“ oder „OK Computer“ dieser Band, ist „The Suburbs“ tatsächlich das vorläufige Meisterwerk von Arcade Fire.
Torsten Groß