Amazon-Doku mit Nationalmannschaft: Wer will diese Tristesse sehen?
„All Or Nothing: Die Nationalmannschaft in Katar“ ist die Chronik eines Scheiterns. Die Doku-Reihe gibt intime Einblicke in die Kabine. Aber warum wird das gerade jetzt gezeigt, wenn die DFB-Elf immer noch in der Krise scheint?
Manchmal geht es um den berühmten Augenblick. Im Sport trennt er oft Sieger und Verlierer. Man kann ihn vom Glück oder vom Unglück getrieben nennen, manche rufen auch den Zufall als Auslöser herbei. Ehemalige Fußballer, die es leider viel zu früh nach Karriereende an die Mikrophone schaffen, sprechen dann gerne vom Momentum. Und das, dafür braucht man keinen Dietmar Hamann, um es zu verstehen, ist derzeit nicht auf der Seite der deutschen Nationalmannschaft.
Seit dem Ausscheiden bei der WM 2018 in Russland hakt es, damals noch unter Trainer Jogi Löw, der dann noch eine lust- und sinnlose Ehrenrunde drehte, inzwischen auch bei seinem ehemaligen Assistenten Hansi Flick, der immerhin mit dem FC Bayern jede Trophäe gewann, die man einsammeln konnte. Doch was heißt das schon, wenn man für einen Pannenverband arbeitet, der von einer Affäre in die nächste stapft, notorisch klamm anmutet und sich von den Sommermärchen-Gerüchten, das Turnier in Deutschland 2006 sei gekauft worden, eigentlich nie so recht erholt hat.
Die Nationalmannschaft und der Zeitgeist
Flick wollte immer, aber es ging nicht viel. Die WM in Katar wurde, wie weithin bekannt ist, vollkommen verbaselt. Aus in der Vorrunde, und das in einer der leichtesten Gruppen. Danach folgte ein gruseliger Auftritt nach dem nächsten, so dass der Coach nun schon unter Zugzwang steht, „gute Stimmung“ für die Heim-Europameisterschaft im nächsten Jahr zu erzwingen. Dafür geht es in Testspielen gegen Japan (die Deutschland bei der WM im Grunde mit einem Lauf von 20 Minuten bereits nachhause schickten) und Frankreich.
Doch zuvor erscheint am Freitag (08. September) eine Doku-Reihe bei Amazon Prime Video, die während der Ereignisse in Katar gedreht wurde. Eigentlich sollte sie den stolzen Mannschaftsgeist der DFB-Adler zeigen, wie sich ein bunter Mix aus vor allem jungen Kämpfern auf dem Platz beweist, gegen den Zeitgeist (Stichwort: Regenbogen-Armbinde) ankämpft und nicht den Mund verbieten lässt. Es kam alles anders, so dass die Doku nun – man kann es bereits im ersten Trailer sehen, das bedröppelte Gekeife zwischen Kimmich und Süle macht inzwischen die Viralrunde – eine Art Trauerspiel in vier Akten ist.
Nun muss man dazu sagen, dass „All Or Nothing“ eine reichlich unterhaltsame Angelegenheit ist. Amazon begann das Format mit Footballteams in den USA, inzwischen sind zahlreiche Sportarten dabei. Der erzählerische Rundbogen gelingt aus sportlichen Gründen nicht immer (schließlich kann niemand voraussehen, wo es in der Saison hingeht), aber wichtig ist für die Show eh, was neben dem Platz passiert. So geben andere Teile der Sendung Einblicke in den Spind des FC Bayerns, Borussia Dortmunds, Arsenal Londons und so weiter. Jeder soll sehen, wie die Gladiatoren privat drauf sind, was im Training wichtig ist und wie Trainer ihre Mannschaften motivieren.
Man kennt das ja noch vom „Sommermärchen“-Film von Sönke Wortmann. Schweinsteiger/Podolski in Unterhose auf dem Hotelbett mit der Chipstüte in der Hand. Trainer Jürgen Klinsmann, der sein Team gegen Polen einpeitscht. Nun kommen zu diesen lichtdurchfluteten Bildern des anarchischen Fußballkindergeburtstags solche hinzu, bei denen fast jeder dumm aus der Wäsche guckt. Griesgrämig schaut Oliver Bierhoff, wahrscheinlich weil er ahnt, dass das Ausscheiden nicht nur sportliche Gründe hat. Und, wie der Trailer zeigt, sieht man Hans Flick, wie er vergeblich versucht, gegen die schlechte Stimmung anzukämpfen. Natürlich wird das nur ein Teil sein, die ersten Minuten der Show zeigen auch andere Dinge. Menschen, die sich redlich bemühen und vom Schicksal überrollt werden.
Es kann nur besser werden – oder?
Was ist aber, wenn man in dieser Dokumentation den Eindruck bekommt, dass diese Gruppe von Fußballern eben einfach gar nicht hungrig nach Titeln ist, wenn ihr Trainer zwar psychologisch bewandert erscheint und sensibler gegenüber seinen Schützlingen auftritt, aber nach Lage der Bilder in „All Or Nothing“ vielleicht nicht die richtigen Worte findet, um Mut zu machen oder gar das Ruder rumzureißen? Dann sehen Millionen im Stream, warum es sich gerade überhaupt nicht lohnt, dem DFB-Team die Daumen zu drücken, dann könnte ein Remis im Test gegen Japan und eine knappe Niederlage gegen Frankreich im darauf folgenden Matchklassiker schon deshalb nach einem künftigen Scheitern im eigenen Land bei der EM 2024 riechen, noch bevor der Ball rollt. Weil die Bilder aus Katar mit einiger Verzögerung noch mehr in die kollektive Seele gedrückt werden.
Wie es heißt, sind noch 10.000 Karten für das Spiel gegen Frankreich verfügbar. Es gab schon einmal mehr Interesse an der deutschen Nationalmannschaft.
Immerhin: Ursprünglich waren sechs Folgen geplant, nun gibt es nur vier Episoden zu sehen. Sie werden auf den letzten Metern, jede Wette, Mut machen wollen. Wie ja auch viele Worte des DFB-Präsidiums, wie auch die Analyse des Bundestrainers in den letzten Monaten.
Nach „All Or Nothing“ auf Amazon, das vom DFB autorisiert wurde und für das man augenscheinlich gekämpft hat, damit es als Projekt Wirklichkeit wird, will man eventuell von diesem Team dennoch lieber nicht mehr so viel mitbekommen. Das Risiko hätte der Verband nicht eingehen müssen, der Zeitpunkt der Veröffentlichung so kurz vor zwei wichtigen Länderspielen mit Verweischarakter ist auf merkwürdige Art unglücklich, ja geradezu dumm. Die Frage, die sich viele stellen werden, ist eben: Warum muss ich mir das antun? Und da wäre er wieder, der berühmte Augenblick, der über Sieg und Niederlage entscheiden kann.