Air: Alle Alben im Ranking
Alle Air-Alben sowie Outtakes und Raritäten
Das französische Pop-Duo geht 2024 auf ausverkaufte „Moon Safari“- Tour. Eine Werkschau der Alben von Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel.
Essenziell
„Moon Safari, 1998“
Der Titel suggeriert, dass per Expedition etwas entdeckt wird, wo es das eigentlich nicht geben kann. Schnell wurde das phänomenale Debütalbum jedoch im Irdischen verortet: in der Clubmusik. Auf Techno, den Rausch der frühen 90er-Jahre, sollte Lounge folgen. Flokati, Luftballons, Chill-out nach dem Rave. Nicolas Godin und Jean- Benoît Dunckel – zwei DJs? Ein Missverständnis. Sie waren zwar mit Elektronikern wie Daft Punk und Étienne de Crécy befreundet, doch wurde erst bei ihrer Tournee allen klar: Air sind Retro-Romantiker, die live mit drei weiteren Musikern auf schweren alten Instrumenten spielen. Und mit Samples wollten sie auch nie mehr arbeiten. Ironischerweise waren die zwei prägnantes- ten Albumsounds Samples. Der karibische Rhythmus von „La femme d’argent“ stammte aus Edwin Starrs „Runnin’“, das kratzige Schlagzeug in „Remember“ aus dem Beach- Boys-Song „Do It Again“.
„The Virgin Suicides“, 2000
Nach dem Welterfolg von „Moon Safari“ widerstanden die Franzosen dem Druck, indem sie ein irreguläres Album vorlegten: die Soundtrack-Auftragsarbeit für Sofia Coppolas Regiedebüt. Der bis heute letzte große Score einer Pop-Band ausschließlich mit Neukompositionen. Eine Verneigung vor Fusion und Horror-Scores der 70er-Jahre; Pink Floyd, Beatles und die italienische Progressive-Band Goblin im Sinn. Orgeln und Sirenengesang, tiefrot, jazzig und samtig, passgenau für Coppolas Verfilmung von Jeffrey Eugenides’ Roman über Schwestern, die nach und nach Suizid begehen, ohne dass ihre Eltern verstehen könnten, wieso. Als erstes ihrer Alben führten Air dieses in voller Länge live auf, als einziges hat es später ein Boxset erhalten. „Playground Love“ singt Gordon Tracks – dahinter verbirgt sich Phoenix-Sänger Thomas Mars.
„10 000 Hz Legend“, 2001
Wie R.E.M. und Pink Floyd gehören Air zum Club der Drei-Großalben-in-Folge-Künstler. Nur ist bei Air in Vergessenheit geraten, wie aufregend ihre frühe Entwicklung war. Nach dem Lounge-Pop von „Moon Safari“ und dem Giallo-inspirierten „The Virgin Suicides“ nun dieses Album, das Kraftwerk-Minimalismus mit Voodoo, Space Rock und Country vereint. Manche bezeichnen „10 000 Hz Legend“ als Geburtsstunde des „New Prog“. Da es seit mehr als zwanzig Jahren aber kein ähnlich klingendes Album gibt, hat es keinen Nachfolger und eigentlich kein Genre begründet. Go- din und Dunckel sprechen als lüsterne Außerirdische durch Stimmverzerrer und beschwören das Monster „Mesamedasu, prince from the biomass“, das aus „Sex Born Poison“ entsteht. Weil sie wussten, dass Mythologien nicht ernst zu nehmen sind, beendeten sie die Lieder mit selbstironischen Pointen. In „Don’t Be Light“ seufzt Gastsänger Beck: „Aah, wildlife!“ und gibt einen Steinzeitmenschen, der nicht weiß, dass Homo sapi- ens seine Existenz Aliens verdankt, die ihn im Fadenkreuz beobachten. Kurz, 2001 gab es kein Album, das erotischer war, paranoider, lustiger – und kühner. Der Versuch eines „Moon Safari 2“ wäre leicht gewesen für Air, stattdessen entschieden sie sich, alle Verbindungen zu dem Chill-out-Klassiker zu kappen. Erst nach dem kommerziellen Misserfolg von „10 000 Hz Legend“ taten sie genau das immer wieder: Ball- Chair-Songs komponieren, die selten an die alte Größe heranreichen – Air richteten sich in ihrer Beauty-Boutique ein.
Lohnend
„Premiers Symptômes“, 1997
Die sensationelle Debüt-EP trug leider mit zum Ruf der frühen Tage bei, Air seien DJs, Arrangeure, Remixer, keine Komponisten. Sicher waren sie Wohnzimmer-Tüftler, die Exotica-Sounds mit Drumcomputer-Rhythmen unterlegten. „Les professionnels“ war die Vorarbeit zu ihrem späteren, größten Hit „All I Need“ und „Californie“ eine Franzosen-Fantasie vom Leben am Venice Beach. „J’ai dormi sous l’eau“ immerhin spielen Air heute noch live. Den vertonten Versailles-Spaziergang „Le soleil est près de moi“ bezeichnete Godin als ihren besten Song. Wahrscheinlich hat er recht.
„Talkie Walkie“, 2004
Nach dem experimentellen „10 000 Hz Legend“ übten Air sich in freundlicheren Klängen, was erstaunlich ist – ihr neuer Produzent Nigel Godrich ist nicht für seine Angebote an Musiker bekannt, es im Studio gemütlicher angehen zu lassen. Gleichzeitig feierte Dunckel sein Debüt als Chefsänger – eine streitbare, aber auch charmante Idee, da seine gelispelte Mickey- Mouse-Stimme zu Air passt. Dass „Talkie Walkie“ ein wütendes Album ist, offenbarte Godin erst im ROLLING-STONE- Interview. Der im Jahr der ersten Mondlandung geborene Musiker fühlte sich betrogen von den Versprechungen des Space Age, einer bevorstehenden All-Erforschung. Songs wie „Biological“ oder „Universal Traveler“ behandeln das exakte Gegenteil: die Erkundung des menschlichen Körpers, die Abenteuerfahrt in die Zellen, die Chromosomen. „XX XY, that’s why it’s you and me“, so einfach und so richtig, der Unterschied zwischen Mann und Frau. Dennoch eine traurige Reiserouten- Entscheidung – Weltraum wäre geiler.
„Love 2“, 2009
Der beste Albumtitel aller Zeiten, oder? 15 Jahre alt und ihre bis heute letzte reguläre Platte, also keine Auftragsarbeit. Go- din und Dunckel mögen das Werk nicht – leider. Als Konzeptalbum ist „Love 2“ so atmosphärisch wie „Moon Safari“. Diesmal ging es ins grüne Dickicht, „Night Hunter“, „Tropical Disease“. „Wir standen unter Strom, was eigentlich toll ist“, sagte Godin. „Aber jedes Mal wenn ich heute einen Song aus dem Werk höre, tut mir das weh. Das waren nicht mehr Air.“ Sehr schade. „Heaven’s Light“ ist ihr Juwel, ihr Trademark- Song: todessehnsüchtig auf die letzte Reise, aber mit einem Schulterblick – vielleicht doch besser umkehren?
Ergänzend
„Pocket Symphony“, 2007
Godin sprach aus, was alle dachten: Das bessere Air- Album des Jahres war nicht ihres, sondern das von ihnen komponierte „5:55“ für Charlotte Gainsbourg. „Once Upon A Time“ mit seinen Philip-Glass- Miniaturen ist dennoch gelungen, ebenso das instrumentale „Lost Message“. Die übrigen zehn Songs hinterlassen Ratlosigkeit. „Space Maker“ ist eine reizarme Variation des „Moon Safari“-Klassikers „La femme d’argent“, und der Mangel an Ideen sollte durch neue Instrumentierungen – Godin erlernte in Okinawa das Spiel auf der Koto und der Shamisen – sowie eine Reihe von Gastmusikern aufgefangen werden, die für diese eher elegische Song-Sammlung allerdings einen Tick zu nervös sind: Neil Hannon in „Somewhere Between Waking And Sleeping“ und Jarvis Cocker in „One Hell Of A Party“.
„Le voyage dans la lune“, 2012
In Georges Méliès’ Stummfilm „Die Reise zum Mond“ (1902) landen Astronomen auf dem Erdtrabanten und kämpfen gegen veitstanzende Eingeborene. Auf Erden werden sie mit einer Parade begrüßt, als wären sie Kriegsveteranen – ein zeitgenössisches Bekenntnis zum Kolonialismus. Air ist mit dem 30-minütigen Score zweierlei gelungen: die Umdeutung eines Klassikers durch nachträgliche, martialische, desillusionierte Musik und, wichtiger, die endgültige Beerdigung eigener Mondfantasien, des süßen Traums jener Moon Safari, der ihnen einst Ruhm bescherte.
Schwächer
„Music For Museum“, 2014
Im Auftrag des Palais des Beaux-Arts de Lille eingespielt, im Rahmen des Projekts Open Museum. Nur 1000 LPs dieser Minimal Music wurden gepresst und sind längst vergriffen. Dass für die Untermalung einer Kunstschau und die sanfte Füh- rung von Museumbesuchern knallende Air-Hits wie „Wonder Milky Bitch“, „Sexy Boy“ oder „Napalm Love“ eher ungünstig wären, ist klar. Aber die reduzierten Dauerloops von „Octogum“ oder „Art Tatoo“ nerven schwer. Oder ist das Kunst?
Film
„Air: Eating, Sleeping, Waiting And Playing“
Wie „Meeting People Is Easy“ von Radiohead eine eher süffisante Bilanz des Tourlebens, die natürlich stark von kulturellen Gegensätzen lebt, denn die Franzosen müssen sich doch auch auf Tournee in den USA verständigen können. Der von Mike Mills (dem Regisseur, nicht dem R.E.M.-Bassisten) gedrehte Film hat seine Titelzeile dem Air-Song „People In The City“ entnommen. Eine mit 75 Minuten kurzweilige Betrachtung ungeahnten Ruhms.
Preziosen
Live-Raritäten, B-Seiten und Solo-Projekte
„Highschool Lover“
Die Versailler Freunde von Phoenix spielten die Zeitlupen-Traumballade neu ein, als Rollerball-Disco-Stück mit Queen- Gitarren.
„Melissa“
Godin und Dunckel coverten bei ihrer 1998er-Tournee dieses Softerotik-Stück von Francis Lai, das Original ist auf dem „Bilitis“-Soundtrack von 1977. Auf derselben Tournee nutzten Air auch John Williams’ Titelmelodie von „Unheimliche Begegnung der Dritten Art“ als Intromusik – Daft Punk machten es ihnen neun Jahre später auf der Bühne nach.
„Cosmic Bird“
Auf dem 1997er-Sampler „Source Lab 3“ sind nicht nur French-House-Perlen wie „Faithfull“ von Fantom enthalten, sondern auch diese Air-Koop mit Electro-Pionier Jean-Jacques Perrey.
„Jeanne“
Auch diese Zusammenarbeit mit einem Idol sicherte sich das Duo, als es noch ganz grün hinter den Ohren war. Chansonsängerin Françoise Hardy sang für sie das todtraurige Lied über ein It-Girl, das zu hoch hinauswollte und am Leben zerbrach.
„Home“
Eine weitere Adelung, schon bevor Air bekannt wurden. Für Depeche Mode fertigten sie 1997 einen Remix von „Home“ an, dessen Arrangement die Briten gar für ihre Live-Version nutzen würden. Die klingt so, als säßen Martin Gore und Dave Gahan in einem Eames Chair.
„Concrete And Glass“
Aufgeblasenes Soloalbum von Nicolas Godin von 2020, in dem er Liebesbriefe an Architekten singt. Eine Backgroundsängerin jauchzt orgiastisch: „Mies van der Rooo-he!“
„Darkel“
Jean-Benoît Dunckels Solodebüt von 2006. Erster Hinweis darauf, dass die cremigen Air- Melodien hauptsächlich von ihm stammen und die techni-schen Extravaganzen von Godin. „How Brave You Are“ und „My Own Sun“ sind die herausragenden Stücke.
„Close Your Eyes“
Das letzte Lebenszeichen aus dem Studio liegt neun Jahre zurück. Eine Zusammenarbeit mit Jean-Michel Jarre, für des- sen Gastkünstler-Album „Electronica 1: The Time Machine“. Erstaunlich, wie sehr sich diese Electronica-Experten gegenseitig auf den Füßen herumstehen: Auf eine Soundschicht von Jarre lagern Air ihre, und auf diese wiederum lagert Jarre seine, und auf seine …