Against Me! – Das Leben der anderen
Mit seiner Band Against Me! steht Tom Gabel seit 15 Jahren auf der Bühne. Als Sänger, Gitarrist und Punkrocker. Dabei fühlte er immer, dass er eine Frau ist. Die Geschichte einer Veränderung
An einem Freitagabend Ende März marschiert der Mann, den wir bald als „Artist-formerly-known-as-Tommy-Gabel“ kennen werden, durchs frühlingshafte Manhattan, um einen seiner größten Fans zu treffen, eine 23-jährige Frau namens January Hunt. Als Hunt 16 war und eines seiner Konzerte besucht hatte, schrieb sie ihm einen langen, emotionalen Brief, in dem sie schilderte, wie sehr er ihr Leben verändert habe. „Es ist wahrscheinlich bescheuert, sich in meiner Situation mit einem Fan zu treffen“, sagt Gabel, der der Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegensieht, „aber ich habe nun mal keinen anderen Menschen, mit dem ich darüber sprechen kann.“
Gabel ist 31 Jahre alt und Sänger von Against Me!, der Punk-Band aus Gainesville in Florida, die sich nicht zuletzt mit radikal-politischen Statements einen Namen gemacht hat. Sie thematisieren ökonomische Ungerechtigkeit und die Beseitigung „des ganzen Systems“, singen über „The Politics Of Starving“ und „Cliché Guevara“, spielen in schummrigen Vorstadt-Clubs, aber auch im New Yorker Giants Stadium – und haben unter anderem in Bruce Springsteen und den Foo Fighters prominente Unterstützer gefunden.
Der Song, der January Hunts Leben veränderte, heißt „Searching For A Former Clarity“ und ist eine Ballade, die sich am Ende ihres Albums aus dem Jahre 2005 befindet. Der Text dreht sich um einen Mann, der offensichtlich gerade an AIDS stirbt, doch in der Mitte des Songs singt Gabel folgende Zeilen:
„And in the journal you kept by the side of your bed/ Confessing childhood secrets of dressing up in women’s clothes/ Compulsions you never knew the reasons to.“
Der Song hinterließ bei January einen nachhaltigen Eindruck, weil es genau ihre eigene Geschichte war. Als transsexueller Teenager liebte es Hunt, heimlich Kleider und Stöckelschuhe anzuziehen und ihre Fingernägel rosa zu lackieren, fand aber nicht den Mut, mit ihren Freunden in der Hardcore-Szene darüber zu sprechen. Als sie an diesem Abend Gabels Lyrics hörte, war es das erste Mal, dass eine Punk-Band ihre verdrängten Vorlieben zu verbalisieren schien. Dann, sechs Jahre später, tauchte sie bei einem anderen Against Me!-Konzert auf, doch diesmal trug sie einen engen roten Rock und lange blonde Haare – und war beim Crowd-Surfing vor der Bühne der heimliche Star.
Auch Gabel erkannte sie wieder. „Als ich sie bei dieser Show sah, dachte ich nur:, Fuck, genau so sollte man damit umgehen!‘ Sie zeigte mir, was für ein Feigling ich bislang gewesen war. Wenn sie den Mut hatte, sich als transsexueller Mensch zu outen – warum ich nicht auch?“
So weit er sich zurückerinnern kann, lebt Gabel in einem Zustand, der in medizinischen Lehrbüchern Geschlechts-Dysphorie genannt wird – das Gefühl, mit dem Geschlecht, das einem bei Geburt zugeteilt wurde, emotional auf Kriegsfuß zu stehen. Oder wie Gabel es erklärt: „Man sagt gerne, dass man als Frau im Körper eines Mannes gefangen sei. Doch ganz so einfach ist es nicht. Man hat keinen Bezug mehr zu seinem Körper und es ist eine innere Distanzierung zu deiner gesamten Person – und das ist ein wirklich beschissenes Gefühl.“
In den letzten Monaten hat Gabel mit dem öffentlichen Teil seiner Transformierung begonnen, die sich privat schon seit Jahren angebahnt hatte: Schritt für Schritt will er sich von seiner männlichen Identität trennen, um den Rest des Lebens als Frau zu verbringen. Er hat sich auf diesen Schritt vorbereitet, hat „Whipping Girl“ von Julia Serano gelesen und sich auf YouTube Videos angeschaut, die von ähnlichen Erfahrungen berichten. In Kürze will er mit einer Hormonbehandlung und Elektrolyse beginnen – und sich irgendwann in den nächsten Jahren wohl auch einer Operation unterziehen. „Im Moment stecke ich in einer saublöden Phase“, sagt er. „Ich sehe noch aus wie ein Typ, fühl mich auch so, aber es törnt mich einfach ab. Irgendwann werde ich an den Punkt kommen, wo der weibliche Teil meiner Person die Führung übernehmen wird.“
Ausgesprochen feminin sieht er nicht einmal aus, als er mit T-Shirt und Hoodie durch die Straßen von New York geht. Er ist hoch aufgeschossen und schlank, Arme und Brust sind mit Tattoos übersät. Aber wenn man direkt in seine blauen Augen schaut und die Wangen sieht, die per Laser-Operation schon verändert wurden, wenn man beobachtet, wie er seine braunen Locken aus dem Gesicht streicht, dann kann man schon die Frau erahnen, die er einmal sein wird.
Bis heute Abend hat er seinen Entschluss nur wenigen Freunden mitgeteilt; selbst seine Eltern und sein jüngerer Bruder sind noch nicht informiert. „Noch immer gibt es einen Teil in mir, der sich nicht völlig sicher ist, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Aber dann gibt es den anderen Teil, der hundertprozentig überzeugt ist.“
Er kommt zu dem Cafe, wo er sich mit January verabredet hat. Sie steht draußen und wartet auf ihn. Für einen Moment hält er auf der anderen Straßenseite an und versucht, seine Nerven in den Griff zu bekommen. „Sie scheint wirklich cool zu sein“, sagt er. „Ich habe nun mal keine transsexuellen Freunde, spüre aber das Bedürfnis, jemanden wie sie kennenzulernen. Ich werd ihr einfach sagen, dass ich ihr Freund sein möchte.“
Eine Woche später ist Gabel zurück in St. Augustine, Florida und empfängt mich in seinem gemütlichen Bungalow. Er wohnt in einer gepflegten Nachbarschaft, wie man sie sich unpunkiger kaum vorstellen kann. In der Einfahrt steht ein Toyota Prius, auf dem Rasen ein lilafarbenes Dreirad. Der einzige Hinweis auf seinen Beruf ist der weiße Chevy-Tourbus, der vor dem Haus parkt.
„Hey, komm rein“, sagt er, als er die Tür öffnet. „Wir sind gerade mit dem Mittagessen fertig.“ Er führt mich in die Küche, wo eine attraktive schwarzhaarige Frau mit einem süßen zweijährigen Baby sitzt: Heather, seine 35-jährige Frau, und ihre gemeinsame Tochter Evelyn. „Evelyn macht jetzt gleich ein Nickerchen“, sagt Heather lächelnd und räumt den Tisch ab. Gabel greift sich die Autoschlüssel und sagt: „Wollen wir uns unterhalten?“
Er erzählt beim Herausgehen, dass er und Heather zusammenbleiben wollen. „Am meisten Angst hatte ich, wie sie mit der Neuigkeit klarkommen würde“, sagt er. „Aber sie war unglaublich verständnisvoll und einfach wunderbar.“ Er setzt sich hinters Steuer seines 64er Mercury Comet und chauffiert uns zu seiner liebsten Fisch-Taco-Bude, wo wir uns an den Picknick-Tisch unter einer Palme setzen. „Als ich groß wurde“, beginnt er seine Geschichte, „war alles, was mit Transgender zusammenhing, nur mit Schamgefühlen verbunden. Es war etwas, das tief im Innern verschüttet war und vor der Außenwelt rigoros versteckt wurde.“
Er erinnert sich daran, dass er vier oder fünf Jahre alt war, als er im Fernsehen Madonna sah und davon träumte, einmal so zu sein wie sie. Er erinnert sich auch daran, mit Puppen gespielt zu haben – wovon sein Vater nicht gerade begeistert war. „Es war ein Augenblick, in dem ich registrierte:, Okay, ich mache offensichtlich etwas, was meinem Vater nicht gefällt.‘ Aber selbst wenn ich mit Soldaten-Puppen spielte, spielte ich nicht Krieg, sondern dachte mir meine eigenen Geschichten aus.“
Gabels Vater ist Major Thomas Gabel, ein West Point-Absolvent, der 20 Jahre in der Armee beschäftigt war und mehrfach versetzt wurde, zuletzt auf einen NATO-Stützpunkt in Italien. Seine Eltern ließen sich scheiden, als Tommy elf war, und die Mutter zog mit den Kindern nach Florida. In den Sommermonaten besuchte er seinen Vater noch sporadisch, doch erquicklich waren die Besuche nie. „Ich habe den Eindruck“, sagt seine Mutter, „dass die ganzen verletzten Gefühle, die durch die Scheidung ans Tageslicht kamen, auf Tommy abgewälzt wurden. Das hat ihn stark mitgenommen.“
Er erinnert sich, in Florida erstmals ernsthafte Depressionen erlebt zu haben. „Es hatte sicher mit der Pubertät zu tun, aber gleichzeitig war da schon diese extreme Dysphorie – das Gefühl, einfach kein Mann sein zu wollen.“ An einigen Tagen betete er zu Gott („Lieber Gott, lass mich eine Frau sein, wenn ich wieder aufwache“), an anderen versuchte er es mit dem Teufel („Ich werde ein Serienkiller werden, wenn du mir versprichst, mich zur Frau zu machen“). Er befürchtete, pervers zu sein oder zumindest ein Fetischist. Da er ständig umgezogen war, hatte er wenig Freunde. Auf der Schule wurde er „Schwuchtel“ genannt, weil er sich so seltsam kleidete. Mit 13 stieg er von Alkohol und Pot auf Acid und Koks um und entwickelte eine Abhängigkeit, mit der er bis weit in seine Zwanziger zu kämpfen hatte. Rückblickend meint er, das alles nur getan zu haben, um seinen Schmerz zu betäuben.
Auch heute noch kann Gabel nicht in den Spiegel schauen, ohne von seinem männlichen Körper abgetörnt zu werden: der Adamsapfel, das breite Kinn, die Schultern, die Hüften. Damals war sein einziger Ausweg, sich als Frau zu verkleiden. „Sich im Spiegel als Frau zu sehen hatte sofort einen beruhigenden Effekt.“ Manchmal schwänzte er die Schule, zog Frauenkleider an und schaute den ganzen Tag fern. (Er befürchtete immer, seine Mutter habe vielleicht etwas bemerkt. Doch sie sagt nur: „Ich hatte nicht die leiseste Idee.“)
Eine Zeit lang fragte er sich auch, ob er vielleicht schwul sei. „Ich stellte mir selbst die Frage: Fühle ich mich von Männern angezogen?“ Doch – von zarten Annäherungsversuchen in seiner Jugend abgesehen – sei da nie etwas gelaufen. Unter Frauen fühlte er sich immer wohler – körperlich wie emotional. „Wenn ich mich in einem entspannten Umfeld bewege, habe ich nie ein Problem, über meine Gefühle zu reden.“
Als er auf die Highschool kam, entdeckte er den Punk. Er liebte die nihilistische Attitüde, aber auch die wilde Entschlossenheit, im Zweifelsfall zurückzuschlagen. James Bowman, Against-Me!-Gitarrist und mit Gabel seit dem ersten Highschool-Tag befreundet, sagt: „Es gibt nicht viel, vor dem Tom zurückschreckt. Er hatte immer eine rigorose Einstellung zum Leben.“
Against Me! begann als Soloprojekt in Gabels Schlafzimmer. Mit 18 zog er nach Gainesville und stellte eine Band zusammen, die in lokalen Klitschen spielte, oft genug ohne zahlendes Publikum. Zumindest die Punk-Credibility war jahrelang gewährleistet: Man trat kostenlos für Sozialprogramme wie „Food Not Bombs“ auf, lebte zu zwölft in einem heruntergekommenen Haus neben einer Mülldeponie oder ließ sich im Krankenhaus Blut abzapfen. („Man bekam dort nicht mal einen kostenlosen Snack, aber immerhin brauchte man abends nicht so viel Geld in Alkohol investieren, wenn man sich betrinken wollte.“)
Innerhalb dieses männlichen Umfeldes war Gabel gezwungen, seine eigene sexuelle Identität neu zu definieren. „Ich hatte mehr und mehr das Gefühl, als müsse ich innerhalb der Band eine Rolle spielen – den angry white man in a punk band“. Ihm wurde von Jahr zu Jahr klarer, dass eine Punk-Band letztlich nichts anderes als eine verschworene Jungs-Clique war – in der er sich zunehmend unwohler fühlte.
Es war zu dieser Zeit, dass er verstärkt Anspielungen in seine Songtexte einfließen ließ. Es gab „Violence“ mit der Zeile „Oh, you’ve been keeping secrets … nothing but shame and paranoia“ oder „The Disco Before The Breakdown“, in dem es hieß: „I know they’re going to laugh at us/When they see us out together holding hands like this“. Für „Thrash Unreal“, ihren größten Hit, wollte er gar im Video in Frauenkleidern auftreten, doch ihr A&R-Manager redete es ihm aus. Die offensichtlichste Anspielung aber versteckte sich in „The Ocean“ von ihrem 07er Album „New Wave“:
„If I could have chosen I would have been born a woman/ My mother once told me she would have named me Laura/ I would grow up to be strong and beautiful like her/ One day I’d find an honest man to make my husband“
Gabel war fest davon überzeugt, sich mit den Lyrics geoutet zu haben, und erwartete eine Konfrontation – die er teilweise sogar herbeisehnte. „Als wir den Song aufnahmen“, sagt Butch Vig, der ihre beiden letzten Alben produzierte, „fragte ich ihn, was er mit den Zeilen denn sagen wolle, aber er wischte das Thema lachend vom Tisch und meinte nur:, Ich muss wohl stoned gewesen sein. Ich hab mich im Traum nur gefragt, in welche Richtungen sich ein Leben entwickeln kann.'“
„Ich muss den Song sicher 500 Mal gehört haben“, sagt ihr Manager Jordan Kleeman, „aber mir wäre es nie in den Sinn gekommen, einen tieferen Sinn dahinter zu suchen.“
Als die Band 2006 einen Vertrag bei Warner Brothers unterschrieb und die Weichen für eine internationale Karriere stellte, entschloss sich Gabel, seinem Faible für Frauenkleider ein Ende zu setzen. „Man geht halt durch verschiedene Phasen“, sagt er. „Ich war 25, und die Band würde auf absehbare Zeit nonstop auf Tour sein. Man hängt halt ständig mit vier, fünf anderen Jungs zusammen, entweder im Bus oder im Hotel. Man hat keine Zeit für sich selbst, weil man ständig abgelenkt wird. Also sagte ich mir:, Schluss damit! Ich bin ein Mann, und dabei bleibts.'“
Es war auf einer dieser Tourneen, dass er Heather Hannoura kennenlernte, ein Punk-Chick aus Detroit, das Merchandise für Gruppen wie My Chemical Romance und Green Day entwarf. Sie trafen sich in Nevada, als Against Me! zusammen mit Alkaline Trio auftrat – einer Band, mit der Heather unterwegs war. Sie hatte bereits Fotos von ihm in Zeitschriften gesehen und schon immer das Gefühl gehabt, dass sich ihre Wege eines Tages kreuzen würden. „Er war so unglaublich schüchtern“, sagt sie, „was schon etwas überraschend war, weil er auf der Bühne ganz anders rüberkommt. Rückblickend klingt’s vielleicht wie ein billiges Klischee, aber jede Art von Machismo und Angeberei ging ihm ab. Und genau das mochte ich an ihm.“
Sie gingen gemeinsam auf die „Warped“-Tour und zogen danach im Herbst zusammen. Im Dezember machte er ihr einen Antrag. Ein Jahr später waren sie verheiratet.
All das passierte, als „meine Dysphorie nicht übermäßig virulent war“. Er sei entschlossen gewesen, als Mann zu leben, weil er sich in Heather verliebt hatte. „Es war keine böse Absicht, dass ich ihr von meinen geheimen Neigungen nichts erzählte. Unsere Beziehung stand damals so sehr im Vordergrund, dass alles andere dahinter zurücktrat.“ Er war optimistisch, dass er seine Neigungen für immer unterdrücken könne, wenn er es denn nur wirklich versuchte. Immerhin drei Jahre lang sollte er es schaffen.
Es war im Februar 2009 – Heather war gerade schwanger -, als seine Gefühle „mit aller Macht zurückkamen“. Ein Jahr lang unternahm er nichts, um sicherzugehen, dass es nicht ein vorübergehendes Phänomen sei. Aber ein Jahr später – Against Me! waren gerade von ihrem Label gefeuert worden – ließen sie sich nicht mehr ignorieren. Er verkroch sich für wochenlange Schreib-Sessions in ein Hotel, wo er grundsätzlich als Frau eincheckte. Im September 2010 wurde ihm klar, dass er über andere Themen überhaupt nicht mehr schreiben konnte. Die Zeit zum Absprung war gekommen.
Im Rückblick glaubt Gabel, dass diese Songs ein Signal seines Unterbewusstseins gewesen seien – als wolle seine Psyche ihn dazu zwingen, den überfälligen Schritt zu machen. Er informierte die Band, dass er an einem Konzeptalbum über eine transsexuelle Prostituierte schreibe. „Transgender Dysphoria Blues“ solle der Titel sein.
Als die Band im Februar dieses Jahres wieder ins Studio ging, wollte Gabel endgültig reinen Tisch machen. „Ich bin transgender“, sagte er ihnen, „und will mich zu einer Frau umwandeln lassen.“ Sie waren fassungslos. „Ich hatte das Gefühl, als hätte ich ihnen ins Gesicht getreten. Man konnte in ihren Gesichtern ablesen, wie sie verzweifelt versuchten, die Fassung zu finden.“ Dann stellten sie ihm ein paar Fragen: Ob er auch plane, sich einer Operation zu unterziehen? (Wusste er noch nicht.) Würde er auch als Frau mit ihnen auftreten? (Er hatte sich noch kein abschließendes Urteil gebildet.) Nachdem sie eine Weile stumm im Kreis gesessen hatte, schlug jemand vor, zusammen ein Pfeifchen zu rauchen.
Im Lauf der nächsten Wochen weihte er noch weitere Leute in sein Geheimnis ein. Er schickte eine E-Mail an ihren Drummer Jay Weinberg, den Sohn von E-Street-Band-Drummer Max Weinberg, der in New Jersey lebt und erst 2010 zur Gruppe gestoßen war. (Auf einer Skala von 1 bis 10 habe der Überraschungs-Faktor etwa bei 6 gelegen, sagt Weinberg.) Die nächste Person war January Hunt. Seine erste Frage war: „Willst du mein Freund sein?“ Die zweite: „Was für einen Conditioner benutzt du?“
In der Band ist er immer nur „Tom“ genannt worden, privat bevorzugt er aber „Tommy“, weil es weniger maskulin klingt. Wenn die nächsten Schritte zur Weiblichkeit gemacht sind, will er allerdings einen Namen benutzen, den er sich bereits zurechtgelegt hat. Der Nachname ist Grace, weil es der Mädchenname seiner Mutter war. Der zweite Vorname ist Jane, weil ihm der Name einfach gefällt. Und sein erster Vorname ist der, den seine Mutter gewählt hätte, wenn er ein Mädchen gewesen wäre: „Laura“, sagt er. „Laura Jane Grace.“
Am nächsten Tag sitzt Heather auf der Terrasse ihres Lieblings-Mexikaners in St. Augustine. Die Gabels sind 2010 hierher gezogen, weil das Haus preiswert war und sie in der Nähe des Strandes wohnen wollten. Aber inzwischen fühlt sich Heather nicht mehr wohl hier: zu viel Südstaaten-Mentalität, zu viel Religiosität, zu wenig Toleranz. Sie hat kaum Freunde hier und fühlt sich einsam, wenn Tommy auf Tour ist. Mehr als einmal haben sie sich wegen der verfahrenen Situation in die Haare gekriegt – auch an jenem Tag, als er endlich mit der Sprache rausrückte.
Sie waren morgens zum Markt gefahren, um ein paar Lebensmittel zu kaufen. Wie der Streit anfing, kann heute keiner mehr sagen, aber wie immer ging’s ums gleiche Thema. Scheiße, dachte sich Gabel. Wir sind nicht glücklich hier – und Heather glaubt, ich sei ein Mann. Wenn wir also eh unglücklich sind, kann ich auch eine Frau sein. Sie fuhren nach Hause und legten Evelyn zum Mittagsschlaf ins Bett. Dann sagte er: „Komm mal her.“
„Wir gingen ins Bett“, übernimmt Heather, „und nahmen uns fest in den Arm. Und dann sagte er:, Ich muss dir was erzählen.'“
Er sagte ihr, dass er transsexuell sei – worauf sie antwortete: „Von all den Sachen, die du hättest sagen können, ist das die am wenigsten schlimmste.“ Und doch brauchte sie ein paar Tage, um die Neuigkeit wirklich sacken zu lassen. Eine Frage schob sich dabei in den Vordergrund: ob er sie nun konsequenterweise nicht auch verlassen würde. „Mir ging durch den Kopf: Er will also eine Frau werden. Ist es nicht letztlich die Beziehung zu einem Mann, die einer Frau das Gefühl gibt, eine Frau zu sein?“ Als Gabel ihr gestand, er habe Angst, dass sie ihn verlassen könnte, sagte sie nur: „Völliger Blödsinn.“
Sie sei, behauptet sie, „nicht jemand, der in der Zukunft lebt. Ich sage immer:, Lass die Dinge auf uns zukommen.‘ Meine Freunde haben mich gefragt:, Und was wird jetzt aus dir?‘ Aber mir geht’s gut. Ich will nur, dass er die Person ist, die er sein möchte. Und dass nun die zweite Phase unserer Beziehung beginnt. Lass es uns einfach anpacken.“
Doch selbst jetzt, zwei Monate später, bleiben noch immer Fragen. Das Pronomen zum Beispiel. („Ist es, sie‘ oder, er‘.“) Die Operation. („Wenn sie tatsächlich so weit geht und sich operieren lässt, hat sie wirklich Eier.“) Die Konsequenzen für ihre eigene Sexualität. („Heißt das, dass ich jetzt lesbisch bin?“) Selbst die konkreten Auswirkungen auf ihr Sexleben. („Ich habe keinerlei Vagina-Erfahrungen.“) Täglich lernt sie neue Sachen – etwa, dass man nicht „drag“ sagt, sondern lieber „full femme“, dass Laura künftig „ihre Frau“ und nicht „ihr Gatte“ sein möchte. Als ich erwähne, dass Laura sogar schon einen zweiten Vornamen für sich ausgesucht habe, fällt sie aus allen Wolken.
„Jane“, sage ich ihr.
„Laura Jane“, sagt sie lächelnd. „Wie süß. Was für ein süßer Name.“
Am nächsten Morgen bekomme ich von Gabel ein E-Mail: „Habe über unsere gestrige Unterhaltung nachgedacht. Frage mich, ob du Lust hast, heute ein kleines Experiment durchzuführen. Wir könnten uns in meinem Studio treffen. Lass mich wissen, ob du interessiert bist.“
„Total Treble“, sein Studio, ist ein winziger Klinkerbau zehn Meilen außerhalb von St. Augustine. Vor ihrer Stilllegung befand sich hier die lokale Postannahmestelle, doch nach der Renovierung hat nun ein stimmungsvolles Ambiente Einzug gehalten: An den Wänden hängen coole Kunstdrucke, als Beleuchtung dienen antike Lampen. Es ist später Nachmittag, als mir eine Frau, die mir irgendwie bekannt vorkommt, die Tür öffnet. „Hi“, sagt sie lächend und streckt ihre Hand aus. „Ich heiße Laura.“
Laura Jane Gabel sieht eigentlich wie Tommy Gabel aus, nur hübscher. Mit ihren hochhackigen schwarzen Lederstiefeln bringt sie es auf eine stolze Größe von 1 Meter 90. Sie trägt eine pechschwarze, stufig geschnittene Perücke, kräftiges Make-up, einen zartblauen Eyeliner und silbrig glänzenden Nagellack. Unter dem schwarzen Strickpulli, den sie sich von Heather ausgeliehen hat, sieht man ein Tanktop, auf dem die Worte FUCK OFF zu lesen sind.
Laura legt ein Echo-&-The Bunnymen-Album auf und macht es sich mit angezogenen Knien in einem Sessel bequem. „Ich fühle mich gut“, sagt sie, „ausnehmend gut sogar.“ Heute Nachmittag hat sie sich zu Hause erstmals als „full femme“ präsentiert. Heather half ihr beim Make-up. „Es war die normalste Sache der Welt“, sagt sie mir später. „Keine Spur von Peinlichkeit.“ Laura und Evelyn malten ihr die Fingernägel an und probierten auch selbst die schwarze Perücke aus. Evelyn stellte fest, dass ihr Daddy eigentlich genauso aussehe wie ihre Joan Jett-Puppe.
Laura sagt, dass es ein gutes Gefühl sei, hier zu sitzen und sich fast wie eine Frau zu fühlen. Was aber nicht zu bedeuten habe, „dass ich nun schizophren bin. Mir ist völlig bewusst, dass die Frauenkleider momentan nur ein Spiel sind. Wenn ich jetzt mit Make-up und billiger Perücke auf die Straße gehen würde, würde ich mich genauso fühlen: als trüge ich Make-up und eine billige Perücke. Ich möchte mich aber nicht wie eine Transe fühlen, sondern wie eine echte Frau.“
Längerfristig werden natürlich einschneidendere Schritte notwendig sein. Sollte die Hormonbehandlung nichts bringen, würde sie eine Brust-operation in Erwägung ziehen. Sie würde auch ihr Gesicht einer kosmetischen Operation unterziehen, selbst wenn die Aussicht, ihren Adamsapfel zu entfernen – eine Operation, die unter dem wenig appetitlichen Namen „tracheale Rekonstruktion“ läuft – alles andere als verlockend ist. Ganz zu schweigen davon, welche Auswirkungen eine Operation auf ihre Stimme hätte.
Und dann gäbe es da noch die Operation am Unterleib. „Natürlich denke ich darüber nach, wie sich wohl Sex anfühlen würde, wenn ich weibliche Geschlechtsorgane hätte. Andererseits bin ich nicht lebensmüde. Ich habe unsägliche Angst.“ Sie hatte bereits früher ein Piercing an ihrem Penis anbringen lassen; es ist also nicht der physische Schmerz, vor dem sie zurückschreckt. Und sie könnte auch problemlos ohne das gute Stück leben. „Es wäre mir scheißegal, meinen Schwanz zu verlieren. Ich habe nur Horror vor der Operation als solcher. Seit fünf Jahren sollte ich mir den Weisheitszahn ziehen lassen, und immer wieder schiebe ich es auf die lange Bank.“
Realistisch gesehen, sagt sie, seien all diese Überlegungen ohnehin noch Zukunftsmusik. „Ich habe die feste Absicht, meine Reise bis ans Ziel fortzusetzen – volle Kraft voraus. Aber um mich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, muss ich erstmal ein ganzes Jahr als Frau gelebt haben – und vielleicht auch ein Jahr lang Therapie machen. Deshalb möchte ich mir zum jetzigen Zeitpunkt – wo noch so viele Hürden zu nehmen sind – nicht all die Dinge ausmalen, die mir irgendwann vielleicht ein erfülltes Leben ermöglichen.“
Eine der unangenehmsten Hürden, die noch vor ihr liegen, ist das Gespräch mit den Eltern. „Ich habs immer und immer wieder verschoben. Was meine Mutter betrifft, so mag ich einfach nicht mit ihren Tränen konfrontiert werden. Und wie ich mit meinem Vater klarkommen soll, ist mir ein völliges Rätsel. Wahrscheinlich werd ich ihm eine E-Mail schreiben. Ich möchte wetten, es wird eine richtige Beziehungs-Bombe.“
Sie erwähnt, dass sie ihrem Vater nicht sehr nahestehe und nur alle paar Monate mit ihm telefoniere – und selbst dann werde meist nur übers Wetter und die Familie geredet. Heather vermutet, dass sie ihn wohl nie wieder sehen würden, wenn es nicht Evelyn gäbe. Laura wiederum macht sich mehr Sorgen um Heathers Eltern als um ihre eigenen. Auch sie sind ziemlich konservativ, und Laura befürchtet, dass sie die Bande zu Tochter und Enkelin völlig kappen könnten.
Zum Ende des Monats hat sie bereits ein paar erfreuliche Fortschritte gemacht. Beim Einkaufen mit Heather hat man sie erstmals „Mam“ genannt („ein tolles Gefühl“), und sie hatte auch ihren ersten Termin beim Endokrinologen: Wenn alles nach Plan verläuft, wird sie in den nächsten Wochen – rechtzeitig zum Start der kommenden Tournee – mit der Hormonbehandlung beginnen. Sie hat inzwischen auch ihre Mutter angerufen, die mit derartiger Sympathie und grenzenloser Liebe reagiert hat, dass sie sich heute schämt, den Anruf so lange hinausgezögert zu haben. Bei ihrem Vater aber hat sie sich noch immer nicht gemeldet.
Sie betont, dass sich – die physischen Veränderungen einmal ausgenommen – zunächst auch gar nicht so viel ändern wird. „Ich werde nicht mit großem Tamtam den Schleier lüften. Ich bin noch immer die gleiche Person, die ich immer war.“ Auch um die Fans macht sie sich keine Sorgen. „Einige werden sich abgestoßen fühlen, aber grundsätzlich bin ich optimistisch.“ Sie selbst könne gar nicht warten, bis sie zum ersten Mal als Frau die Bühne betrete. „Die Band stand schon früher unter Strom“, sagt sie, „aber stell dir nur mal vor, wenn ich mit meinen 1 Meter 86 und Stöckelschuhen auf die Bühne stolziere und die Leute wegblase.“
Sorgen macht sie sich ein wenig um Evelyn. Es ist weniger die Angst, dass sie mit der neuen Situation nicht klarkommt – selbst mit zwei Jahren sei sie schon willensstark und unabhängig und wisse auch, dass sie von Daddy geliebt werde. „Ich frage mich nur, wie sie von Außenstehenden behandelt wird.“ Sie hat darüber ewig nachgedacht. „Und ich komme immer wieder zu dem Punkt zurück, dass ich ihr kein besseres Vorbild sein kann als dadurch, ehrlich mit mir selbst zu sein. Ich hoffe, ja ich bete, dass es das ist, was sie von mir lernen wird.“
Sie ist sich bewusst, dass sie St. Augustine irgendwann verlassen müssen. Nach Los Angeles oder New York – ein Ort jedenfalls, wo es eine passende Community gibt. „Es wäre super, irgendwo zu landen, wo sie nicht alle AIDS-KILLS-FAGS-DEAD-Sticker auf ihren Autos haben. Einige Leute hier im Ort“, sagt Laura, „halten Heather für eine Satanistin. Und das nur, weil sie immer schwarz trägt. Sie haben sogar schon im Kreis gesessen und für Heather gebetet. Mal abwarten was passiert, wenn sie mich das nächste Mal sehen werden.“