Adeles Millionen
Noch jemand ohne Adele-Platte? Mittlerweile sollte doch jeder potenzielle Kaufinteressent ausreichend bedient sein. Ist aber nicht so. 20 Millionen mal hat sich Adeles „21“ bisher verkauft, so erfolgreich war seit 2004 (Usher) und 2002 (Norah Jones) keiner mehr. In Großbritannien, für viele immer noch Heimat des etwas besseren Popgeschmacks, liegt sie aktuell mit vier Millionen Exemplaren auf Platz acht der Ewigkeitscharts, und es ist abzusehen, dass sie bald auf Platz vier vorrückt, denn auch bei gesünderem Konsumklima hatte sich keine Platte so oft in so kurzer Zeit verkauft. Nur um zu den ersten drei – „Sgt. Pepper“ (45 Jahre auf dem Markt) und den größten Hits von Queen (30 Jahre) und Abba (19 Jahre) – aufzuschließen, wird’s wohl noch etwas dauern.
Was sagt das nun über den Zustand der Welt? Oder zumindest über den der Musikindustrie? Eigentlich gar nichts. Der damalige Labour-Premier Gordon Brown gratulierte Adele zwar bereits zum ersten Grammys 2009, sie leuchte wie „ein Licht am Ende des Tunnels“. Aber diese Worte diktierten ihm schon Staatsräson, Außenhandelsbilanz und Umfragetief. Denn in der Mitte der Gesellschaft, wo Adele den meisten Platz einnimmt, werden Wahlen entschieden, und zwar, wie der „New Yorker“ ätzte, von „mittelalten Muttis“, die die Platte bei Starbucks kaufen, weil sie zu unfähig zum Gratissaugen sind.
„Fast politisch und irgendwie radikal“ schätzte auch Richard Russell, Chef ihrer Indie-Plattenfirma XL, der Adele ursprünglich als Portfolio-Ergänzung zu seinen Schocknudeln M.I.A. und Peaches eingekauft hatte, ihre Breitenwirkung ein. Aber der ist schon von Amts wegen verpflichtet zu behaupten, Adeles „ganze Botschaft ist wirklich gute Musik“, im Gegensatz zum Konkurrenzschund, der durch „Pseudo-Porno“-Videos schmackhaft gemacht würde.
Das „Team Adele“ aus Plattenfirma, Manager und Musikverlag wurde vergangenen Mai ja nicht umsonst von einer Expertenjury an die Spitze der „Music Power 100“-Liste des englischen „Guardian“ gesetzt. Indem zum Beispiel für jeden „21“-Song ein gewiefter Ko-Autor angeheuert wurde, steuerten die alten Branchenprofis umsichtig Adeles Karriere. Und so umfasst ihre Konsenszielgruppe: Teenies mit Pferdeposter an der Wand und Frauen, mit denen man Pferde stehlen kann. Die Schnittmenge aus H&M und Karl Lagerfeld. Leute, die sich nicht für Musik interessieren und deshalb nur eine Platte pro Jahr im Supermarkt kaufen, ebenso wie Genießer handgemachter „Ohne Filter“-Mucke, wie sie Jools Holland präsentiert. Gesinnungsgenossen von hässlichen Entlein wie Paul Potts und Susan Boyle und von Sekretärinnenpop, der sich für was Besseres ausgibt, wie Dido und Norah Jones. Adele-Kunden kauften auch Amy Winehouse, Whitney Houston, Lady Gaga, Coldplay und Bruce Springsteen, deutsche Ohren verlangten zusätzlich noch nach Grönemeyer und Xavier Naidoo. Nicht dazu gehören: Kostenlos-Downloader (kein Verlust), Liebhaber von Motorradschmieröl, Goldketten und leichten Mädchen (man kann nicht alles haben), Verehrer wahrer Qualitätsmusik (macht nichts, sind eh zu wenige).
Rettet Adele nun die notleidende Musikindustrie? Marktanalysten zogen Bilanz: natürlich nicht. Durch „21“ ist der Umsatz in Amerika 2011 gegenüber dem Vorjahr minimal gestiegen, ohne Adele wäre er minimal gefallen. Denn vergangenes Jahr wurden dort immerhin noch unfassbare 330 Millionen Alben verkauft – ein Wunder bei dem überwiegend schrottigen Angebot.
Das alles kann man Adele, die mit ihrem Plumpudding-Flair wie ein Charakter aus den „Ist ja irre“-Filmen wirkt, eigentlich nicht vorwerfen, auch wenn ihre Interviews den Eindruck vermitteln, dass es sich bei ihr um eine ziemliche Nervtante handelt, die sich gerne in den Mittelpunkt drängt, flucht wie früher die Droschkenkutscher, Unterleibwitze erzählt und die Royal Family und die englische Klatschpresse liebt: „Ich stehe für allgemeingültige Gefühle. Die Leute erkennen sich in mir wieder. Oder ich erinnere sie an ihre Freunde und Verwandten. Manchmal takel ich mich auf, manchmal sehe ich scheiße aus. Alles sehr normal.“
Andreas Banaski ist einer der Pioniere des deutschen Popjournalismus. Er war Experimentalfilmer, Fanzinemacher, „Tempo“-Archivar und schrieb u.a. für „Sounds“ und „Spex“.