Adele live in Berlin: Eine fantastische Sängerin – mit mindestens drei „Fucks“ pro Auftritt
Sie ist ein britischer Workingclass-Sinatra und eine großartige Entertainerin mit einer Wahnsinnslache. Adele verzückt in Berlin ihr Publikum.
Es ist lange her, dass man einen Superstar erleben durfte, der sich nicht mindestens zehn Mal während seines Konzertes umgezogen hat. Adele behielt ihr Kleid an. Obwohl sie darin schwitzte und über das unerwartet warme Wetter bei der Deutschlandpremiere ihrer Tournee in Berlin scherzte. Ein schwarz schimmerndes Kleid aus Zehntausenden showboatmäßig glitzernden Pailletten oder Swarovskisteinen oder was auch immer. Sie lupfte es, sie nahm ein Handtuch, das angeblich zuvor Mike Skinner von The Streets benutzt hatte – „do you know The Streets?“ Nein, vermutlich hatte der Großteil des Smartphones in die Luft reckenden Thirtysometing-Publikums keine Ahnung, wovon sie sprach.
So lässig Adele mutterseelenallein auf der riesenhaften Bühne steht und ihre dreckige Lache hören lässt, so perfekt choreografiert ist ihre Show. 16 Songs, drei Zugaben, „Rolling In The Deep“ zum Schluss. Die Setlist bleibt seit ihrem Tourauftakt in Belfast unverändert. Nur ihre Scherze variiert Adele, greift Hände, holt ein sprachlos überwältigtes Mädchen auf die Bühne, um ein Selfie zu machen, sammelt Fanplakate aus Israel und Finnland ein. Über die Leinwand scrollen ein paar läppische Berlin-Bilder, der Fernsehturm, das Brandenburger Tor, das Publikum jubelt. „Did you expect to see Lionel Richie tonight?“ fragt Adele einen Lulatsch im Publikum, der ein Merch-Shirt des beliebten Sängers trägt. Passt schon. Obwohl – ein anderer großer Mann, der sich durch die Sitzreihen drängt, hat ein Hüsker-Dü-Shirt für diesen Abend gewählt, was natürlich der bessere Gag gewesen wäre.
Perfekt frisiert im Wolkenbruch
Die ersten beiden Songs bestreitet Adele allein, begleitet und dupliziert von einer gigantischen Liveprojektion ihres Gesichts in Schwarz/Weiß und HD. Dann hebt sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf ein kleines Streicherensemble, drei Backgroundsängerinnen, einen Mann am Konzertflügel, zwei Schlagzeuger, einen Bassisten und zwei Gitarristen. Der Sound ist hervorragend eingerichtet, nur der typische Mehrzweckhallen-Hall echoet auf dem Schlagzeug. Vom großen wechselt Adele zwischenzeitlich zum kleinen Besteck, zu Akustikgitarristen und Kontrabass, vom „Skyfall“-Pomp zum Bob-Dylan-Cover. Und je länger das Konzert andauert, desto eindrucksvoller wirkt Adele. Bei „Chasing Pavements“ steht sie auf einer engen Extrabühne in der Mitte des Saales, umrahmt von einem herabfallenden Gazevorhang, zu „Set Fire To The Rain“ fällt selbiger von der Bühnendecke, prasselt auf Adele nieder, die – Wunder der Bühnentechnik – perfekt frisiert im Wolkenbruch singt, gestikuliert, hydraulisch absinkend im Boden verschwindet.
Deutlich wird zweierlei: Adele ist eine großartige Entertainerin mit einer Wahnsinnslache und mindestens drei „Fucks“ pro Auftritt. Sie ist ein britischer Workingclass-Sinatra, zumindest was das Scherzen zwischen den Songs angeht. Sie ist eine fantastische Sängerin.
Die Songs ihres aktuellen Albums „25“ sind jedoch durchweg schwächer als die ihrer vorherigen, sie sind überladen und überambitioniert, einzig „When We Were Young“ sticht heraus, und Adele weiß das. Sie setzt den Song ans Ende, vor ihren verlässlichen Welthit „Rolling In The Deep“ und zeigt dazu eine private Diashow mit Bildern einer jungen Sängerin in Süd-London, die Grimassen schneidet, Kniestrümpfe trägt und mit Plastikbaggern spielt. Sie kumpelt ihr Publikum an, sie könnte auch einen Bingoabend in Brighton zum Triumph gestalten, die Halle singt jedes Wort mit.
Sie hat die Streisand-Qualität
Man muss sich Adele nicht unbedingt in einen verqualmten Club oder einen Bingoschuppen in Brighton wünschen, obwohl das sicher toll wäre, denn sie hat die Streisand-Qualität, die Überwältigungs-Übermacht der großen Entertainerin, es fehlt einzig noch an überzeugenden Songs. Man wünscht sich Adele vielmehr nach Las Vegas oder in die Idealvorstellung eines Las Vegas mit weiß eingedeckten Tischchen und einem Publikum in Abendgarderobe, das Zigaretten statt Pappschachteln mit Nachos verzehrt und Martinis statt Smartphones in der Hand hält.
Wenn ich richtig gezählt habe, waren es drei „Fucks“ in Berlin an jenem Abend. Und jedes perfekt gesetzt.