Ach du lieber Orc!
"World of Warcraft" ist mit neun Millionen Online-Spielern ein Massenphänomen - ein sozial heilsames, sagt eine neue Studie
Eine Stunde lang hat sich die Gruppe durch die verseuchte Stadt gekämpft, hat knurrende Skelette in Knochenhaufen zerlegt und zischende Geister in Staub verwandelt. Endlich stehen sie erschöpft und mit sichtbar ramponierten Rüstungen vor dem wahren Gegner, dem grausamen Baron Rivendare. Und dann das: „Tut mir leid, der Kleine schreit“, entschuldigt sich Hausfrau Anne, „ich bin in zehn Minuten wieder da.“ – „Ach nöö, nicht vor dem Endkampf“, kommentiert Christian, der Anwalt, „dann gehe ich jetzt aufs Klo.“ Und der Schüler Max nörgelt: „Wenn die jetzt länger weg ist, kriege ich mit meinem Vater Stress wegen des Abendessens.“ Nur Baron Rivendare sitzt ungerührt auf seinem Pferd und wartet auf den Angriff.
Eine typische Sonntagabendszene in der virtuellen Stadt Stratholme. Zumindest besagen das die Studienergebnisse des Psychologen Nick Yee, der die Lebensumstände von Spielern sogenannter Massively Multiplayer Online Roleplay Games (MMORPG) erforscht, mit besonderem Fokus auf dem weltweit erfolgreichsten: „World of Warcraft“, kurz WoW. „In virtuellen Welten wie World of Warcraft passiert etwas Einzigartiges“, so Yee kürzlich in einer Expertenrunde im „Future Summit“ der CNN. „Nirgendwo sonst bilden Menschen, die so verschieden sind, Teams, um gemeinsam etwas zu leisten.“ Das Spiel vereine Menschen unabhängig von Geschlecht und Alter, Wohnort und Einkommen. „Leicht zu lernen, schwer zu beherrschen“, ist laut WoW-Entwickler Jeff Kaplan die Formel, die seit der US-Markteinführung im November 2004 über neun Millionen Menschen zu Abonnenten gemacht hat – nicht nur der Spiel-Datenträger kostet bei WoW Geld, auch für das Spielen fordert Hersteller Blizzard eine monatliche Gebühr. Dafür hat der Spieler Zugang zur virtuellen Welt Azeroth. Zu tropischen Stränden, vereisten Bergmassiven und endlos scheinenden Wüsten. Viele der Gebiete, die man in Azeroth zu Fuß oder mit Reittier erkunden kann, ähneln Gegenden, in denen man auch gerne Ferien machen würde: Die Dschungel des Schlingendorntals erinnern an Mexiko, die kargen Hügel Westfalls scheinen der Toskana nachempfunden. Und dann sind da auch noch die pittoresken Dörfer und großen Städte, in denen sich die Charaktere besonders an Wochenenden auf die Füße treten. Wie in jeder realen Fußgängerzone auch. Da trifft man nur selten so viele Orcs und Elfen, Gnome und Trolle.
Erfolghaben, Leistungbringen – laut Nick Yees Studie zur Motivation von MMORPG-Spielern ist dies für die männlichen Spieler der wichtigste Faktor. In „World of Warcraft“ bedeutet das aber nicht nur, seinen Charakter Erfahrungsstufe um Erfahrungsstufe nach oben zu spielen. Da gibt es auch Berufe wie Schneidern, Bergbau oder Verzaubern, die erlernt sein wollen. Und mit zunehmendem Level auch Aufgaben, die nur noch in der Gruppe gelöst werden können. Aufgaben, für die ein Anführer benötigt wird.
Weibliche Spieler lassen sich laut Yee vor allem durch die sozialen Komponenten ans Spiel binden: durch den Austausch im Chat, durch Teamwork und Erfolge in der Gruppe. Was nicht heißt, dass die besagte Hausfrau es nicht genießt, als Krieger an vorderster Front gegen den großen Drachen zu kämpfen, während ihr der Rest der Gruppe den Rücken stärkt. Oder dass der Schüler keinen Spaß daran hat, anderen Spielern bei sogenannten Quests zu helfen, wenn diese nicht alleine zu bewältigen sind. Psychologe Yee dazu auf CNN: „Das Spiel sind die anderen Spieler.“ Was es ziemlich genau auf den Punkt bringt.
Die WoW-Spielerweiterung „The Burning Crusade“ wurde im Januar dieses Jahres mit 2,4 Millionen verkauften Exemplaren in 24 Stunden zum am schnellsten verkauften Computerspiel aller Zeiten. Blizzard arbeitet derzeit sogar mit Legendary Pictures an einer Verfilmung des Spiels, die Anfang 2008 ins Kino kommen soll. „Herr der Ringe Online‘? Kennen Sie jemanden, der das spielt?“ war dann auch der sarkastische Kommentar von WoW-Entwickler Frank Pearce zum Anfang diesen Jahres veröffentlichten Konkurrenzprodukt. „World of Warcraft‘-Spieler, die aus Neugier in die Tolkien-Welt ausgewandert waren, kamen meist schneller als erwartet nach Azeroth zurück. Der Grund: Sie vermissten ihre Freunde. Denn auch wenn das seltsam erscheinen mag, kann man einen Untoten mit bloßliegendem Kiefer herzlich lieb gewinnen, wenn man regelmäßig mit ihm in die Schlacht zieht.
In „World of Warcraft“ kommunizieren die Spieler hauptsächlich über den im Spiel implementierten Chat. Bei den Schlachtzügen und Gruppenkämpfen wirdmeistens auf kostenlose Internet-Telefonanbieter wie Teamspeak oder Skype zurückgegriffen. Mit der eben auf der Blizzard-eigenen Messe „Blizzcon“ in Anaheim angekündigten Erweiterung „Wrathofthe Lieh King“ soll die Internettelefonie nun auch im Spiel selbst verankert werden. „Das wird für einige böse Überraschungen sorgen, wenn die heiße Nachtelfe sich im Kopfhörer als Kerl herausstellt“, witzelte Blizzard-Chef Mike Morhaime. Für die Spieler, die bisher ohne Mikrofon und Kopfhörer am Rechner saßen, mag das sogar zutreffen. Denn wenn die Sonne den Strand von Tanaris in zarte Rosentöne taucht, hat sich schon der eine oder andere Troll in die fesche Taurenfrau verguckt, die neben ihm die Angel nach Fischen auswarf.
Tatsächlich heiratete erst vor Kurzem ein WöW-Paar in Regensburg. Der Vorteil daran, sich beispielsweise als Gnom in eine Zwergin zu verlieben, liegt auf der Hand: Reale Äußerlichkeiten spielen keineRolle, was zählt, ist Teamgeist und der Humor, mit dem man Niederlagen wegsteckt. Und dass man die Chance hat, so wahrgenommen zu werden, wie man will. „Hier merkt kein Mensch etwas von meiner Behinderung“, schrieb eine nach eigener Aussage taubstumme Frau im deutschen WoW-Forum. Und eine von Nick Yees Studien-Teilnehmerinnen meinte: „Eine Beziehung im MMORPG ist unsagbar romantischer, epischer und dramatischer.“ Böse Zungen würden sagen: unrealistischer.
Das Schwert in der Hand und die Utopie im Kopf – so ziehen jeden Tag aufs Neue Menschen in Azeroth los, um den ganz großen Drachen zu legen. Und sind dabei so liberal, wie man es sich insgeheim von jeder Gesellschaft wünschen würde. Natürlich gibt es auch die anderen, die Störenfriede, Pöbler und Wüstlinge. Doch haben sie es in Azeroth schwerer als in Fürstenfeldbruck oder Recklinghausen. Zum einen, weil mit jemandem, der sein Fehlverhalten kultiviert, keiner spielen will. Eine einfache Sandkastenregel. Und ohne Mitspieler kommt man in „World of Warcraft“ nicht weit.
Zum anderen, weil es eine einfache Funktion gibt, um sie auszublenden: Ignorieren. Würde einer von Annes Mitspielern ausfallend werden, weil sie vor dem Endkampf eine Babypause eingelegt hat, könnte sie ihn damit einfach stumm schalten. Doch der Rest der Gruppe gibt sich friedlich: „Schläft der Kleine wieder?“ fragt Christian, als sie sich zurückmeldet. ,Ja,“ bestätigt Anne und geht in Angriffsstellung, „Können wir jetzt?“