Absolut hier und heute

Ausverkaufte Konzerte, große Begeisterung: Die prägende deutsche Band der Neunziger ist zurück, neues Album nicht ausgeschlossen. Was haben uns BLUMFELD noch zu sagen? Und warum klingt das heute, als wäre es erst gestern gewesen?

Wie er die Straße herunter läuft, das gescheitelte Haar wehend im Hamburger Wind, die oberen Knöpfe des taubenblauen Hemdes geöffnet, den Rücken gestreckt und guter Dinge, da wirkt Jochen Distelmeyer wie einer, der 20 Jahre mal eben im Sprung nimmt. Es komme ihm auch gar nicht vor, als sei so viel Zeit vergangen, sagt er, als Eike Bohlken sein Rad in den Hof schiebt und Andre Rattay, Kleidersack über der Schulter, schließlich auch eintrudelt. „Ich hab Bock auf den Lärm und die Kraft, die wir gemeinsam entfalten“, meint Jochen. Und ja, man glaubt es sofort.

Blumfeld sind wieder da. Zumindest für eine Handvoll Konzerte und in der Urbesetzung, in der die epochalen Alben „Ich-Maschine“ und „L’Etat Et Moi“ eingespielt wurden und die sie nun, 20 Jahre später, wieder live spielen. Zwei Platten, die zu Beginn der 90er-Jahre die deutsche Rockmusik von den Füßen auf den Kopf stellten, die ohne Beispiel waren und einen Ton setzten, den man noch nicht gehört hatte. Die aufregendste Band jener Tage. Druckvoll, dringlich und diszipliniert krachte sie aus den Boxen – emotional und intellektuell gleichermaßen aufgeladener Rock’n’Roll, zu dem eine bei deutschen Liedermachern wie britischen Songwritern informierte Stimme unsingbare Sätze sang wie „Offen gesagt haben wir vor/Weiterzumachen als Gescheiterte bisher/In Sachen Selbstverwirklichung/Offensichtlich halten welche nicht so viel davon wie wir/Diese Welt ist nicht das Leben/Sicher kostet sie dich deins“, so der Anfang des zweiminütigen Punkrockorkans „Jet Set“, einer der Tracks, die „L’Etat Et Moi“ zur identitätsstiftenden Lieblingsplatte einer aus den 80er-Jahren in die technoiden Neunziger entlassenen Generation machte.

Wo kam das her? Ein Dichter, dessen Liedtexte zu semantischen Stürmen anschwollen, assoziativ und klug und hochemotional, der aus Bielefeld stammte und zuvor mit einer britischen Zitatpop antizipierenden Band namens Bienenjäger gespielt hatte. Und zwei durch Postpunk sozialisierte Musiker aus Hamburg, die sich von einer Noiseband namens Der Schwarze Kanal kannten. Wie konnte das funktionieren? Wie fand das zusammen?

„Über Punkrock“, sagt Jochen Distelmeyer. „Auch wenn ich mich vorher tatsächlich als Songwriter gesehen habe – das war eigentlich Punkrock, oder stark von Punk geprägtes Songwriting. Was auf eine andere Art offen war als klassisches Folk- oder Country-Songwriting. Und ich war ja keinem Genre verpflichtet.“

Andre Rattay: Ich habe eines Tages einen Anruf von Jochen bekommen, wir kannten uns nicht und haben uns erst mal zum Platten-und Songsvorspielen getroffen.

Jochen Distelmeyer: Das war bei dir in der Wohnung.

AR: Genau. Jochens Songs und Texte waren einfach gut. Dann haben wir angefangen, mit Leuten zusammen Musik zu machen. Und irgendwann gemerkt: wir brauchen da jemand anderen. Dann rief ich Eike an, mit dem hatte ich vorher beim Schwarzen Kanal gespielt, so Postpunk-Noise-Sachen. Und das passte dann gut zusammen. Jochens Songs, die ich ja gut fand, die mussten wir auf brechen, die mussten anders kommentiert werden.

Eike Bohlken: Es gab immer zwei Arten von Songentstehungsgeschichten: Entweder hatte Jochen schon ein Gitarrenriff und Gesang dazu, und hat uns das vorgestellt und wir haben geguckt, was uns dazu einfällt. Oder es gab Sachen, die spontan im Übungsraum entstanden sind, wo Andre und ich mit einzelnen Ideen angekommen sind, die aber keine ganzen Songs waren …

JD: Und ich durfte dann quasi diese genialischen Momente …

EB: … zutexten …

JD: … in irgendeine Form gießen. (Lachen)

EB: Die meisten Situationen waren aber schon so, dass du mit etwas ankamst.

JD: Zu der Zeit, in der wir musikalisch sozialisiert wurden, war es gar kein Widerspruch, Ramones und ABC zu hören oder Dexys Midnight Runners und Hüsker Dü. Und weil diese grundsätzliche Offenheit zum Standard-Know-how der Wahrnehmung gehörte, war es kein Problem, sich auf Sachen zu verständigen, auch wenn man aus spezifischen, unterschiedlichen Richtungen kam.

Habt ihr den Eindruck, dass die Segmentierung heute größer ist?

JD: Ja. Der Tribe, dieser soziokulturelle Stammesgedanke, ist wieder stärker in den Vordergrund getreten. Wie bei Fußballvereinen, wo man nur Fan von einem Club ist, um sich seiner Identität zu vergewissern.

Hat das auch mit veränderten Produktionsweisen von Musik zu tun? Dass du mit dir selber Musik machen kannst, während du früher eine Band gründen musstest?

JD: Ich glaube, es fängt schon an, bevor man etwas macht, Musik zum Beispiel. Wie man etwas begreift und wahrnimmt, fängt damit an, wie man etwas hört, was man hört, in welchem Auto man mit welchen Homies zusammensitzt und wohin man dann fährt. Das sind die Initiationsmomente, die zur Fokussierung auf einen Style führen, zu Metal und nur Metal oder zu: Ich steh‘ nur auf Ambient-House.

EB: Ich habe den Eindruck, dass es heute noch offener und dadurch beliebiger geworden ist. Die Sachen sind einfach viel leichter verfügbar. In der Kneipe legte neulich ein Typ, der bestimmt 15 Jahre jünger war als ich, ziemlich exakt meine Plattensammlung auf.

JD: Es war deine Plattensammlung! (Lachen)

EB: Man musste früher über Flohmärkte und in Plattenläden, um das Zeug zu finden, bis man es irgendwann endlich mal zusammen hatte. Heute ist alles deutlich leichter zugänglich. Das ist manchmal vielleicht auch ein Fluch.

AR: Es geht ja aber um das Hören, darum wie offen man ist und dass man die Genregrenzen nicht beachtet. Unsere ganzen Tourtapes sind so. Zuhören, weil jemand, den man gut kennt, etwas toll findet. Dann begreift man, dass man bestimmte Sachen auch anders ausdrücken kann. Das bereichert, das kann man dann in sein Repertoire aufnehmen.

Gibt es eigentlich wirklich immer Streit um die Mixtapes im Bandbus oder ist das ein Tour-Mythos?

EB: Die Mixtapes waren nicht das Problem …

JD: … sondern die Lautstärke

EB: … und die Nicht-Mixtapes. Ganze Death-Metal-Alben, das war dann nicht immer meins. Außerdem kann ich nach einem Auftritt am nächsten Vormittag auch gut mal gar nichts hören. Das war damals bei den anderen beiden Herren nicht so.

JD: Ich fand es immer sehr hilfreich, dass man sich auf Tour durch liebevolle Zusammenstellung von Musik gegenseitig informiert. Nicht nur darüber, was man gerade gut findet, sondern auch darüber, wie man gerade tickt. Das ist schon wie gemeinsam Musik machen. Man weiß um den Anderen.

Aber jenseits der Musik war und ist es auch immer eine Haltungsfrage. Hüsker Dü und Dexys sind und haben kein Problem auch deshalb, weil sie eine erkennbare Haltung haben. Da geht es um etwas – nicht nur darum, eine Musik zu spielen.

AR: Da sehe ich auch einen qualitativen Unterschied von heute zu damals. Kann aber sein, dass das mit dem Alter zu tun hat. Bei den Dead Kennedys hat man sofort gemerkt, dass es um etwas geht, da musste man gar keine Texte verstehen. Und es gibt natürlich auch heute noch Bands, bei denen es um mehr geht als Spaß oder Geld verdienen oder weil man es einfach kann. Das sind dann die guten.

EB: Und es gibt natürlich auch Haltungen, die man nicht versteht oder mit denen man nichts anfangen kann. Mir war zum Beispiel klar, dass Techno eine Haltung hat, aber ich habe sie nicht verstanden.

JD: Es hat dich nicht erreicht.

EB: Ja, es hat mich nicht erreicht. Obwohl ich den energetischen Teil von Haltung bei Techno schon gespürt habe, wie bei den Dead Kennedys. Und das passiert mir auch immer seltener. Was damit zu tun hat, dass man zu viel kennt. Man ist schnell geneigt zu sagen: „Klingt ein bisschen wie Soundso, hab‘ ich schon mal gehört.“

Die Begeisterungsfähigkeit nutzt sich ab?

EB: Ja, auch. Viele Erlebnisformen hatte man halt schon mal, was es dann schwerer macht, sich zu begeistern. Oder nicht mehr so häufig.

AR: Das ist der Prozess des Älterwerdens. Man ist kein Teenager mehr und bestimmte Formen von Liebesliedern kenne ich schon zu gut – und jetzt interessiert mich was anderes.

Das Titelstück des gefeierten zweiten Albums heißt vollständig und kokett „L’Etat Et Moi (Mein Vorgehen in 4,5 Sätzen)“ und umfasst 15 Strophen, die Jochen in knapp fünfeinhalb Minuten vorträgt. Es ist der zweitlängste Track, ganz ohne Musik, reine Lyrik, und sofort ist klar, was fehlt. Deshalb, lass uns nicht von Text reden. Ausnahmsweise. Denn als „L’Etat Et Moi“ vor 20 Jahren erschien und noch ein paar Wellen mehr schlug als die Veröffentlichung von „Ich-Maschine“ zwei Jahre zuvor, konzentrierte sich die Rezeption des Albums auf Distelmeyers komplexe Lyrics. Die Musik, die hier mit einer Wut, Sehnsucht und Präzision zur Sache ging, die den Text hielt, die Bohlkens Joy-Division-artigen Brummelbass, Rattays trockenes Schlagzeug und Distelmeyers mal krachende, mal swingende Gitarre vereinte, sie kam meist deutlich zu kurz.

Fandet ihr es ungerecht, dass es immer um Jochens Texte ging?

EB: Ungerecht ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Aber ich fand es mindestens schade. Wir fühlten uns schon ein bisschen unter Wert behandelt. Als wir im Vorprogramm von Pavement in England spielten, wo die Leute von den Texten überhaupt nichts verstanden haben, sind sie trotzdem extrem gut mitgegangen, das funktionierte auch ohne das Textverständnis. Die Sprache, der Gesang haben ja die gleiche Intensität wie die Musik. Wenn man ziemlich lange Texte hat …

JD: Was ja nicht der Fall ist …

(Lachen)

EB: … dann ist es schwierig, Musik zu finden, die das trägt. Sie muss dann eher einfach sein, im Idealfall hypnotisch, weil die Räume schon durch den Text gefüllt sind.

JD: Ich glaube, dass diese Redundanz und das Hypnotische eine Spielweise von Rock’n’Roll sind, die es so im Rock eigentlich nicht mehr gibt. Das ist so eine schamanistische, eine tranceartig heilende, eine ekstatische Vorstellung von Rock und folgt einer Genealogie von den Doors zu Patti Smith. Dieses Know-how ist irgendwann in den 80er-Jahren hinter einer muckerhaften Veramtlichung von Rock verschwunden. Und dafür dann in Techno aufgegangen. Die einzige Band, die das weiter verfolgt hat, war Depeche Mode. Eigentlich eine klassische Blues-Rock-Band, bei der es zumindest seit dem Weggang von Vince Clarke auch immer um so eine schamanistische Rock’n’Roll-Idee ging.

Auf Depeche Mode wäre ich jetzt nicht gekommen …

JD: Das ist aber die einzige Band, die mir einfällt, die diese musikalische Idee, diese Vorstellung von Rock’n’Roll weiterverfolgt hat. Allein wie Dave Gahan Derwisch-gleich über die Bühne fegt. Und die Grateful-Dead-artige Hingabe des Publikums!

Nach „L’Etat Et Moi“ war fünf Jahre lang Pause, Eike Bohlken stieg aus, um seinen Doktor der Philosophie zu machen, und dann kam „Old Nobody“ und die Blumfeld-Musik hatte sich verändert. War das eine Abkehr von dieser Rock’n’Roll-Idee und ist das nun heute wieder eine Hinwendung dazu?

JD: Für mich war diese Idee von Rock’n’Roll immer verbindlich. Auch bei späteren Stücken wie „So lebe ich“ oder „Pro Familia“, da ist das immer noch der Kern. Aber natürlich hat es zwischen „L’Etat Et Moi“ und „Old Nobody“ und durch Eikes Weggang die Überlegung gegeben, wie man Blumfeld als Bandidee, was immer auch von einer persönlichen Verbindlichkeit ausging, weiterführen kann. Es ging ja nicht um elaboriertes Könnertum, sondern um ein Vertrauen auf das, was man ist und im Moment macht. Ich war zwischen den Alben auch noch mit anderen Sachen beschäftigt, hatte aber schon früh im Kopf, dass man mit dem neuen, dritten Album einen Schritt weiter gehen könnte und sollte, zum Pop. Dann galt es, die Band zu finden, mit der es möglich war, dieses Album zu machen. Das hat natürlich eine Zeit gedauert und gebraucht.

Noch mal zurück: Was war der Impuls für „L’Etat Et Moi“?

JD: Es gab keinen.

EB: Wir wollten eine zweite Platte machen. Wir hatten noch Stücke.

JD: Wir waren eine Band, hatten die erste Platte gemacht, es lief ganz gut, wir dachten: „Oh, ist ganz geil, das kann man ja vielleicht weiter machen!“

(Lachen)

JD: Die Resonanz auf das erste Album, auf das Live-Spielen, das stärkte natürlich das Selbstbewusstsein, dass wir dachten: „Ja, genau, das ist der Shit!“ Wobei mir bei den Aufnahmen zu „Ich-Maschine“ schon klar war, dass das der Shit war, insofern haben mich die Reaktionen nicht überrascht.

Habt ihr ein Gefühl dafür, dass „L’Etat Et Moi“ ein Klassiker ist? Ein Gefühl für die herausragende Bedeutung des Albums?

EB: Nur indirekt. Mir passiert es im Wissenschaftsbereich, dass ich Leute kennenlerne, die ganz begeistert sind, wenn sie erfahren, dass ich mal bei Blumfeld war. Dann erlebe ich, was das mit Leuten gemacht hat, das Album damals zu hören. „L’Etat Et Moi“ hat einen Ort bei vielen Menschen und es hat den Ort auch bei uns.

AR: Ich hab da noch nie draufgeguckt und gedacht: „Das ist ein Klassiker.“ Aber es ist das gleiche Gefühl wie bei einem guten Buch, das man wiederliest. Oder einer alten Platte, die immer noch Bestand hat.

JD: Ich kann die Wahrnehmung verstehen. Als „Ich-Maschine“ und „L’Etat Et Moi“ rauskamen, stand das in keiner sofort erkennbaren Kontinuität. Wir haben mit den ersten beiden Alben etwas erfunden und gesetzt. Alle Alben danach bauen darauf auf. Ich kann aber persönlich keine Hierarchie unter den Platten herstellen.

AR: Für mich gilt diese herausragende Stellung auch für „Verbotene Früchte“(das letzte Blumfeld-Album von 2006 – Red.). Das ist eine Platte, die außerhalb der Zeit steht. Irgendwann wird man vielleicht sagen:“Wow, war das ein gutes Album!“

Man hört es jetzt öfter mal in Cafés.

JD: Dann haben wir ja endlich Air abgelöst. Vielen Dank!

Sechs Alben in 16 Jahren, zwei Umbesetzungen, Andre Rattay blieb. Rückwärts erzählt geht die Geschichte so: Am Ende ein seinerzeit etwas irritierendes Album mit Liedern über die Natur und dem tollen heimlichen Bekenntnis-Hit „Strobohobo“. Davor drei Platten, auf denen sich mindestens ein Dutzend Popsongs befinden, die sich ungeheuer viel trauen und zutrauen. „Tausend Tränen tief“ zum Beispiel, die erste Single zum dritten Album „Old Nobody“, mit seinen beruhigten Lyrics, dem runtergepitchten Gesang und harmonieselig schwingenden Sehnsuchtssound, damals gern als schlagerhaft diffamiert und zugleich ein deutlicher Strich zu dem, was vorher war. Deutlicher wäre kaum denkbar gewesen. Und dann der Anfang – die ersten Versuche 1990, die ersten beiden Alben -, zu dem Blumfeld nun zurückkehren, und den Sätze markieren, die wie schwerer Regen fallen, schnell und gern im Stakkato. Sätze wie der allererste 1991, „Ein Lied mehr, das dich festhält/Und nicht dahin lässt, wo du hinwillst“, der Selbstreflexion und auch schon die Reflexion ihrer Wirkung beinhaltet, wie so viele Blumfeld-Songs. Er sehe nichts, was er hymnenhaft in die Welt schicken könne, hat Jochen damals gesagt.

Und heute? Ein anderer, ein veränderter Blick auf die Lieder von damals, auf das 20 Jahre alte „L’Etat Et Moi“, das fortgelebt und sich verändert hat?“Ich fand erstaunlich“, sagt Jochen, „dass es sich gerade nicht verändert hat. Mir kommt das auch nicht vor wie 20 Jahre.“

Wie ist das, wenn man nach so langer Zeit wieder zusammen spielt?

EB: Super.

JD: Ja, es ist tatsächlich super. Ich bin ganz unvorbereitet da reingegangen und hab‘ bei den ersten Proben festgestellt, dass diese Energie da ist, unique, außergewöhnlich, es gab sehr starke Momente. Und das setzt sich so fort.

EB: Es fühlt sich sehr gut an. Es knüpft an unser Zusammenspiel damals an.

JD: Ja! Das steckt in den Körpern.

EB: Manchmal wusste der Kopf nicht mehr, wie es weitergeht, aber die Finger wussten es noch.

JD: Die Spielweise oder das Feeling, mit dem man da rangeht, das war in den Stücken gespeichert, sodass die Songs die Hälfte der Arbeit selber übernommen haben.

Eike und Andre erzählen von den intuitiven Prozessen in der Band, die noch immer -oder eben: jetzt wieder – einfach funktionieren. Jochen nickt. „Vielleicht“, sagt er, „ist es nicht nur unser Spielgefühl, sondern auch der Zeitpunkt – dass wir es jetzt spielen -dass es sich gegenwärtig anfühlt. Die Stücke wirken wie neu geschrieben, als hätte man die jetzt zu dem, was jetzt stattfindet und passiert, entwickelt. Ob sie den test of time bestehen, wird man bei den Konzerten sehen.“

Diese Ausgabe des ROLLING STONE erscheint zeitgleich mit dem ersten Tag der ausverkauften Blumfeld-Tournee in Köln. Und ein bisschen besorgt durfte man durchaus sein, als es vor ein paar Wochen aus heiterem Himmel hieß: 20 Jahre „L’Etat Et Moi“ live on stage. Aber darum gehe es nicht, versichert die Band.

JD: Die Schönheit des gemeinsamen Spiels, das es nur in dieser Konstellation gibt, die erlebe ich bei allen Stücken der ersten beiden Platten, wenn wir sie heute spielen. Wie toll das ist, wie schön, dass man sie so stehen lassen kann nach wie vor! Bei den ersten Treffen war schnell klar, dass es nicht um eine Werkschau geht, darum, das Album von vorne bis hinten durchzuspielen. Das haben ja schon einige Bands gemacht, was wir nie besonders ergiebig fanden.

AR: Das gab es auch schon vor Sonic Youth und „Daydream Nation“. Die Ramones haben ihre Platten gern in der gleichen Reihenfolge durchgespielt oder Hüsker Dü ihre „Warehouse Songs And Stories“. Das fand ich langweilig. Und auch zu sakral.

JD: Es geht uns eben nicht darum, einen Klassiker vorzustellen. Sondern mit dem Material jetzt Musik zu machen.

Woran liegt es, dass das jetzt noch funktioniert? Oder sich zumindest für euch so anhört?

EB: Wir passen musikalisch einfach sehr gut zusammen. Das ist ein energetisches Ding, eine Frage der Chemie: Mit manchen Menschen hat man sofort eine Sprache, mit anderen wird es nie so richtig klappen. Zum anderen sind die Songs gut, plus einer guten Produktion (Chris von Rautenkranz, der – bis auf das letzte -alle Blumfeld-Alben produzierte – Red.) Da klingt nichts nach frühen 90er-Jahren, es klingt nicht altmodisch.

Gibt es auch Lieder, die keinen Bestand haben, die ihr nicht spielen wollt?

JD: Gibt es. Fällt mir aber gerade keins ein.

(Lachen)

Der schönste Blumfeld-Moment könnte ein Nachmittag im Sommer 1994 gewesen sein, als die Band Freunde und Bekannte zusammentrommelte, um sie eine einzige kurze Zeile im Chor singen zu lassen. Die hieß „Und davon handeln wir!“ und steht vom Freundeschor geschmettert am Ende des Songs „Superstarfighter“, und wenn es eine Blumfeld-Hymne gibt, dann diese. Sie setzt sich mit den Bedingungen von Songwriting auseinander und mit der Unmöglichkeit, verstanden zu werden.

„Es ging darum, möglichst viele Leute von denen, mit denen wir zu der Zeit musikalisch, freundschaftlich, szenetechnisch verbunden waren, als einen Chor mitsingen zu lassen“, erzählt Jochen. Ein paar von ihnen sind auch auf dem Cover von „L’Etat Et Moi“ vertreten, ihre Köpfe kleben über dem 50 Mal reproduzierten goldenen Elvis-Anzug – der Maler Daniel Richter beispielsweise oder die Regisseurin Svenja Rossa -, jener Anzug, der übrigens auch das Cover der im gleichen Jahr erschienenen ersten Ausgabe des deutschen ROLLING STONE schmückte (darin: Ein Text zu Blumfeld von Arne Willander). Puh! So viele Verbindungen, so viel Bedeutung.

Einen noch? Bei ihrem allerletzten Konzert 2007 hat die Band zur allerletzten Zugabe Eike Bohlken, den so früh ausgestiegenen Bassisten, auf die Bühne geholt. Sie spielten zusammen, klar, „Superstarfighter“. Wie schön, dass die Band bei der Aufgabe passen muss, alle Goldanzug-Cover-Köpfe zu benennen, viele erkennen sie schlicht nicht mehr. „Es sind ja auch nicht alles Personen öffentlichen Interesses“, erklärt Eike.

Als ihr Blumfeld 2007 beendet habt, hat Jochen in einem Interview gesagt, er werde natürlich weiter Songs schreiben und singen, weil es eben sein Ding sei. Aber es kam nur noch ein Soloalbum, „Heavy“, und dann nichts mehr. Warum?

JD: Ich schreib‘ natürlich immer weiter Songs. Ich saß nach „Heavy“ an der Platte, die darauf folgen sollte und habe schnell festgestellt, dass das, was mich inhaltlich interessierte, für das musikalische Material, das ich schon hatte, zu umfangreich war. Das Spektrum an Themen wuchs sich aus und war dann für die Songs zu schwer, um damit ein Album zu machen. Irgendwie war die Musik schon weiter als ich selber. Und dann flogen mir eines Morgens beim Spaziergang die ersten drei Seiten meines Romans zu. Ich hatte nie darüber nachgedacht, ein Buch zu schreiben. Ich brauchte das nicht, ich konnte Platten machen, die wie Bücher waren oder wie Filme. Aber dann hatte ich einen Flow, der anders war als Songlyrics. Und ich dachte: „Okay. Alles klar, musst du wohl ein Buch schreiben.“ Und das habe ich die vergangenen zweieinhalb Jahre gemacht. Das ist jetzt die andere Platte. Und als Nächstes wird es auch wieder ein Album geben.

Geht Musik jetzt wieder, weil der Roman fertig ist?

JD: Die Tätigkeit, einen Song zu schreiben und Musik zu machen, ist physisch eine andere als ein Buch zu schreiben. Der Körper ist anders involviert. Man singt, ob im Sitzen, im Stehen oder im Gehen. Alles atmet. Ist in Bewegung. Es ist etwas anderes, hauptsächlich am Tisch zu sitzen und zu tippen. Von daher kann ich Leute verstehen, die an ’nem Schreibpult arbeiten. Ich habe in den vergangenen Monaten festgestellt, dass ich das Musikmachen körperlich brauche. Ich sah mich immer häufiger nach getaner Arbeit, aber auch währenddessen, spielen.

Deine Hand macht nun auch unwillkürlich Bewegungen wie auf dem Gitarrengriffbrett.

JD: Ja, sie ist anders gefragt. Sie ist mit im Spiel. Das hat auch Rückwirkung auf die Wirkungsweisen eines Buches und eines Songs. Trotzdem war es toll und ich werde das Schreiben wie das Musikmachen weiter verfolgen.

Habt ihr beim Zusammenspielen den Moment gehabt, wo ihr daran dachtet, neue Songs zu machen?

EB: Da sind wir noch gar nicht zu gekommen

(Lachen)

EB: Das funktioniert im Moment ziemlich gut. Jetzt gucken wir mal, ob der Rest der Welt das auch so sieht.

JD: Alles kann, nichts muss.

EB: Und falls wir da was probieren sollten …

JD: … seid ihr die Ersten, die es erfahren! (Lachen)

Habt ihr alle drei eigentlich Kinder? Verändert das die Art, wie man arbeitet?

AR: Man ist selektiver. Auch effektiver. Man hat einfach weniger Zeit zur Verfügung.

EB: Ich lehne ab und zu mal einen Vortrag ab, weil ich lieber zu Hause sein möchte. Mein Sohn ist anderthalb, da guckt man genauer hin, was tatsächlich wichtig ist.

JD: Und man kann auf Tour länger schlafen als zu Hause. Sehr interessante Erfahrung.

(Lachen)

EB: Ich bin immer um sieben wach.

AR: Dann kannst du dich ja mit dem Busfahrer unterhalten.

Apropos Bus – müsst ihr jetzt nicht neue Mixtapes aufnehmen?

JD: Die Busse haben ja absurderweise umgerüstet – von Kassetten auf diese spiegelnden Scheiben.

Nein, du hängst da bloß noch deinen iPod dran.

JD: Ach ja, richtig. Wie unerquicklich. Dann fehlt ja die persönliche Auswahl.

AR: Und die Lautstärken variieren total, weil man die Stücke nicht mehr selbst aufnimmt und aussteuert. Man hat bloß diese Wiedergabelisten. JD: Mir kommt das gerade wie die technische Fachsimpelei von ein paar Rock-Opas vor …

(Lachen)

Wie unterscheidet sich das Publikum in den Städten, in denen ihr auftretet?

JD: Das ist eigentlich immer geil. Ich habe da kein Ranking.

EB: Es gibt Städte, wo es immer gut war. Und es gibt schwierige Städte. Aber wir hatten noch nie ein Publikum gegen uns. Mit Ausnahme von Dornbirn. Da spielte eine lokale Funkband im Vorprogramm, danach wurde Bernd Begemann ausgebuht. Und dann kamen wir.

Es ist Nachmittag geworden, Jochen und Andre stehen im Hof, rauchen. Die Tournee geht bis Mitte September, im Januar erscheint Jochens Roman, „Otis“. Andre hat gut zu tun in diversen Projekten, Eike zurzeit etwas mehr Luft, ein Forschungsantrag läuft, man wird sehen. Und nun, da diese Ausgabe des ROLLING STONE erschienen ist, auch wissen, ob Blumfeld die Prüfung der Zeit bestanden haben.

Hamburger Schule, Jg. 94

Wer ist wer auf dem Cover des Meisterwerks „L’Etat Et Moi“?

Freunde und Familie

1 Daniel Richter, Künstler, Buback Tonträger

2 Christine Schulz, Sängerin (u. a. Parole Trixie)

3 Lena Schramm

4 Dirq Niemann, Booker (Agentur Powerline)

5 Roberto Ohrt, Kunsthistoriker

6 Claudia Pegel, Künstlerin

7 Wolfgang Meinking, Fidel-Bastro-Label

8 Jacques Palminger, Performer (Dackelblut, Studio Braun, Erobique)

9 Katrin Fichtner

10 Jochen Distelmeyer

11 Myriam Brueger, damals L’Age d’Or-Label, heute Universal

12 Chris von Rautenkranz, Produzent (u. a. Tocotronic)

Nicht mal die Band kann heute noch alle Leute auf dem Albumcover identifizieren. Auf dem Innencover der CD sind u. a. noch folgende Köpfe abgebildet: Charlotte Goltermann, Tobias Levin, Lars Jensen, Jutta Koether, Markus Binder, Schorsch Kamerun, Svenja Rossa, Joachim Bessing, Tobias Nagl, Cosima von Bonin, Gepa Hinrichsen, Charalambos Ganotis, Jan und Bettina Distelmeyer, Anne und Katha Schulte.

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