Abnehmende Radioaktivität
Gar kein schöner Tag für Alan Bangs! Als der Radiomoderator am 23. September wie jeden Samstagabend seinen „Nachtflug“ moderieren will, kommt er nicht am Pförtner des WDR-Gebäudes vorbei: „Haben Sie denn nicht das Einschreiben bekommen, ich darf Sie nicht reinlassen, Ihre Sendung ist abgesetzt“, heißt es lapidar. Der stellvertretende Wellenchef Rausch -vorsichtshalber hinter einer dicken Glasscheibe verschanzt – verweist den Unerwünschten zur weiteren Klärung kurzangebunden an die Rechts- und Honorarabteilung: Personalpolitik in den Neunzigern.
Mehr noch als die Art, wie Bangs nach fast 18 Jahren WDR-Zugehörigkeit abserviert wurde, ist aber so unglaublich wie verdrießlich, wie die Rundfunksender heutzutage auch mit Inhalten und ihrem angestammten Publikum umspringen, wenn es darum geht, einstmals journalistisches Radio in computergesteuerte Hit-Programme zu verwandeln.
Es ist gar nicht lange her, da machten sich Moderatoren und Radio-Redakteure noch die Mühe, Zusammenhänge herzustellen, das musikalische Tagesgeschehen auf Zurückliegendes zu beziehen und Entwicklungen aufzuzeigen und so ihren Hörern mehr zu vermitteln als nur den Erscheinungstermin einer neuen Platte. Menschen wie Alan Bangs oder auch Barry Graves reisten als verlängertes Ohr ihrer Hörer durch die Welt und brachten Platten und Eindrücke mit, ähnlich wie die Weltumsegler einst fremde Gewürze, Pflanzen und Rohstoffe. Durch ihre engagierten Sendungen erweiterten sie den Horizont der Daheimgebliebenen. Überzeugend – und auch amüsant zu hören! – waren sie besonders dann, wenn sie sich Hals über Kopf in neue Töne verliebt haften. Doch diese Zeiten scheinen vorbei: Der Dienst am Hörer, wie er den öffentlich-rechtlichen Sendern ja hinter die Ohren und – via Satzung – sogar vorgeschrieben ist, wich längst der Angst um die Einschaltquote. Die private Konkurrenz, die nicht dem interessierten Hörer, sondern einzig und allein dem kommerziellen Erfolg (durchaus ein Unterschied!) verpflichtet ist, hat es innerhalb von nur einem halben Jahrzent geschafft, nicht nur die Vormachtstellung der angestammten Sender, sondern auch ihr Selbstbewußtsein zu brechen.
Für Bangs wurde die Misere im April diesen Jahres spürbar, als der WDR das „junge Hörfunkprogramm Eins-Live“ installierte. Zielgruppe: 14- bis 25jährige. Als 44jähriger mit einem Repertoire von Bessie Smith bis zu den Einstürzenden Neubauten paßte er den Radio-Managern da kaum noch ins überwiegend vom Computer erstellte Musikprogramm; aber schließlich mochte man auch nicht auf den renommierten Namen verzichten. So setzte der gebürtige Londoner seinen „Nachtflug“ fort, der als „Nightflight“ beim BFBS begann und seit 1984 unter dem Namen „Connection“ beim WDR weiterentwickelt wurde. „Ich strebe dabei eine Synthese meiner eigenen und fremder Erfahrungen“ an, schrieb Bangs schon 1985 in seinem „Tagebuch eines Dee Jay“ – nun wurde ihm nahegelegt, seinen Erfahrungsschatz um die aktuelle Playlist des Senders zu erweitern. Phil Collins, Mariah Carey und Take That sollten auf einmal seinen Exkurs in die Musikgeschichte ersetzen, wie es in einem Gesprächsprotokoll mit dem Vorgesetzten nachzulesen ist: „Altere Titel werden sparsam eingesetzt, da sie aufgrund des höheren Bekanntheitsgrades bzw. ihrer Anmutung überproportional den Eindruck vermitteln, das Programm/ die Sendung/der Moderator seien alt“ „Alt“ also offenbar gleichbedeutend mit „veraltet“.
Wie man den Anschein der Jugend erweckt, wußte der Chef auch: „Ich möchte, wenn sie eine Sendüng zusammenstellen, daß Sie zuerst die Augen schließen und sich dabei einen 18jährigen Maurer aus Mönchengladbach vorstellen.“ Und dem könne man nach einem langen Tag neben Weichspül-Tönen von Collins, Carey und Take That eben kaum etwas zumuten, schon gar nichts Experimentelles. Schließlich steht die Durchhörbarkeit auf dem Spiel: Wenn besagter Maurer abends seinen Radiowecker stellen wolle und auf einen derben Blues-Mann stoße, dann gärten womöglich Zweifel in ihm, ob er am Morgen auch wirklich wieder von Phil, Mariah und all den anderen geweckt werden würde. Er, der Maurer, könnte also auf einen anderen Sender ausweichen. Der kleine Dreh an der Skala ist das warst case scenario im Weltbild moderner Radiomacher. Was beim Fernsehen zum Volkssport geworden ist, das „Zapping“ von einem special interest zum nächsten, fürchtet man hier mehr als der Teufel das Weihwasser. Der ideale Hörer weiß, was er will, und will nicht mehr, als er kennt Und das ist man bereit, ihm 24 Stunden am Tag zu geben. Weil Bangs diese Minimalversorgung mit Jacques Brei und Chopin durchbrach – so steht es in seinem Kündigungsschreiben – mußte er schließlich gehen. Ohne Abschied von seinen Hörern, ohne ein Nachwort von seinen Nachfolgern – als habe es ihn nie gegeben. Oder, um es Playlist-kompatibel zu sagen: Alan? Who the f…is ALAN?
Beim Sender Freies Berlin fand solch ein Kehraus schon zweieinhalb Jahre zuvor statt. Hier hatte man die anspruchsvollen Moderatoren zuerst ins Abend-Ghetto abgeschoben – in die Zeit nach 22 Uhr, wo Inhalte noch stattfinden dürfen, weil der Durchschnittshörer längst vor dem Fernseher sitzt Aber plötzlich wurde auch für diesen Zeitraum die Durchhörbarkeit zum Maß aller Dinge. Das Konzept von Sendungen mit grundverschiedener musikalischer Ausrichtung im täglichen Wechsel wurde durch Computerprogramme mit – na klar! – Carey, Collins und manchmal auch Take That ersetzt Unbeachtet blieb, daß die Quote der bekrittelten Sendungen weitaus höher lag als die durchschnittliche Gesamtquote des Senders, die binnen 20 Jahren von 22 Prozent Einschaltquote auf zuletzt 33 Prozent abgefallen war. In einer solchen Situation ist die Suche nach Sündenböcken natürlich erste Senderpflicht. Zu den bei dieser Gelegenheit Geschaßten gehörte auch Barry Graves, der schon in den späten Sechzigern mit seinen aufwendigen Features bei RIAS-Berlin Radio-Avantgarde betrieb und den Hörern aus seiner zweiten Heimat New York die Radioform des „Talk-Radio“ mitbrachte. Zuletzt wurde ihm jedoch nicht viel mehr als eine Ansagertätigkeit zugebilligt Die letzte Konsequenz, ihn vor die Tür zu setzen, blieb wohl nur aus, weil Graves vor gut einem Jahr verstarb. Die Monate seiner schweren Krankheit hatte ihm sein Arbeitgeber durch die fragwürdige Vorgehensweise des langsamen Ausrangierens nicht eben erleichtert. Nicht auf Menschen wie Graves, auch als Autor des meistbenutzten deutschprachigen Rock-Lexikons bekannt, verläßt man sich beim Radio (und ähnlich auch im deutschen Musik-TV), sondern zunehmend auf Sprecher, deren musikalisches Hintergrundwissen größtenteils auf den zumeist oberflächlichen, aber stets eingängigen „Produktinformationen“ der Plattenfirmen beruht Kostproben gefällig? „Charles Manson hat einen Song für das letzte GunsNRoses-Album geschrieben“, erfährt man in den News der Jugendwelle Fritz. Oder: „Ich halte die Beatles-Platten aus den Sechzigern für weit besser als die Alben, die sie in den Siebzigern aufgenommen haben“, wie der Nachrichtenredakteur eines Fernsehsenders für „Musik, die mehr bedeutet“ überzeugend einzuwerfen wußte. Mit mehr Interesse an der Sache wären solche Pannen wohl nicht passiert Einzig ROLLING STONE-Autor Wolfgang Doebeling überlebte mit seiner wöchentlichen Sendung den Durchhörbarkeits-Kahlschlag beim SFB. Doebeling beleuchtet mit „Roots“ seit 1986 die Wunderwelt des Folk, Blues und Country manchmal in weihevoller, manchmal auch in dozierender Form, immer aber so, „daß die Leute das, was sie mitkriegen, als Inspiration wahrnehmen“. Die Resonanz auf „Roots“ ist so groß, daß die drohende Einstellung der Sendung sogar im „Zeit-Magazin“ Niederschlag fand. So ergab sich dann doch noch eine Lösung, um dem Glattbügeln von Rund- auf Flachfunk zu entkommen: Exile on Multikulti. Dieser Ausweg stellt für Doebeling ein einmaliges Konstrukt in der gesamten ARD dar. Da die Weltmusik-Welle des SFB, auf der „Roots“ jetzt zu hören ist, ein Low-Budget-Projekt ist, „zahlt nun die Welle, die mich loswerden wollte, die Produktion meiner Sendung für eine Welle die kein Geld hat“. Hauptsache, die Durchhörbarkeit ist gesichert, denn auf Doebelings altem Sendeplatz laufen inzwischen Carey, Collins & Co. Deutschland, einig Radioland. Nun glaube keiner, die somit über alle Maßen bediente Zielgruppe komme auf den Gedanken, sich über solche Eintönigkeit zu beschweren; sie hört nicht einmal richtig hin, dient ihr das Radio doch lediglich als Füllsel für die ereignislosen Momente, in denen der Heimcomputer das nächste Video-Game lädt „Die Frage nach der Bedeutung von irgend etwas wird im Radio überhaupt nicht mehr gestellt“, beklagt Doebeling das Umfeld, in dem seine Sendung nur noch von einem festen Hörerstamm eingeschaltet wird. Aber selbst dieser schwindet, seit man sich mit den Boxed-Sets der Illusion hingeben kann, eine komplette Stilrichtung oder Künstlerbiographie ins Regal stellen zu können, ohne selbst Zusammenhänge erarbeiten zu müssen.