Tortoise vertonen die Katastrophen in Politik und Liebe
Die Musiker aus Chicago sind Perfektionisten aus Prinzip und haben mit „The Catastrophist“, ihrer ersten Platte seit sieben Jahren, erneut ein packendes Experimentalwerk abgeliefert.
Tortoise haben sich bisher keinen Deut darum geschert, mit welchen Kategorien man ihre Musik einzugrenzen versucht. Die elliptischen Abstraktionen der Band aus Chicago wurden stets unter dem flüchtigen Genrebegriff „Post-Rock“ subsumiert. John McEntire, seit 1993 fester Teil des Kollektivs, sind solche Definitionen jedenfalls herzlich egal. Im Gespräch über die neue Platte, „The Catastrophist“, erinnert er sich gerade mal an den Titel der Studioeinspielung, die einzelner Songs wollen ihm nicht über die Lippen kommen. Dabei hat das Quintett das neue Material seit fast sieben Jahren zurechtgestutzt.
Die harte Arbeit am perfekten Klang, der diesmal, so McEntire, vor allem auch die Improvisationsenergie ihrer Live-Auftritte widerspiegeln soll, hat sich gelohnt: Hypnotische, manchmal beunruhigende Sounds treffen in Stücken wie „Gesceap“ auf aberwitzige Synthie-Jams, die dann oftmals auf ein orchestrales Ende zustürmen. Die ersten Weichen für „The Catastrophist“ wurden schon 2010 gestellt, als die Stadt Chicago die Gruppe beauftragte, ein Stück über die lokale Jazzszene zu schreiben. So entstanden gleich fünf Tracks, die auch die Grundlage für das neue Album bildeten. Darunter sind Instrumentals wie „Shake Hands With Danger“ und „At Odds With Logic“, die schon allein durch ihre Titel andeuten, dass Tortoise sich dieses Mal mit ernsteren Themen auseinandersetzen wollten – auch wenn das alberne Cover der LP so gar nicht dazu passen will.
Konzepte spielen keine Rolle
Keyboarder und Schlagzeuger John Herndon lieh sich mit „The Catastrophist“ den Titel eines Romans von Ronan Bennett. Darin geht es um die große Liebe im Zeichen des Rassismus in Belgisch-Kongo. Keine leichte Kost. Aber Politik oder gar ausgefeilte Konzepte spielen für McEntire eher am Rande eine Rolle bei der Entwicklung der eigenen Musik. Er gibt unumwunden zu, dass er das Buch nicht gelesen hat, macht aber auch deutlich, dass die Band seit ihren Anfängen 1990 im Studio und auf der Bühne nach geradezu demokratischen Maßstäben vorgehe. Jeder Musiker dürfe seine Vorstellungen und Demos einbringen, und die Zeit zeige dann, was funktioniere und was nicht.
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Da kann es dann durchaus auch mal passieren, dass gleich zwei Mitglieder gleichzeitig auf die Idee kommen, ein Cover von David Essex’ „Rock On“ einzuspielen, einem Song, von dem man aufgrund seiner Frische und Experimentierlust kaum glauben könne, dass er 1973 aufgenommen wurde, so McEntire. Das Ergebnis – gesungen von Todd Rittman von U.S. Maple – klingt fast noch aufregender und auf jeden Fall seltsamer als das groovende Original.
Trial-and-Error-Prinzip
Mit „Yonder Blue“ gibt es noch ein zweites Lied mit Gesang auf dem Album: eine bittersüße Soulballade, gesungen von Georgia Hubley. Die Sängerin von Yo La Tengo war aber nicht die erste Wahl, wie McEntire zugibt: „Eigentlich wollten wir Robert Wyatt. Aber der hatte nicht so recht Lust. Wir fragten deshalb Georgia, allerdings wussten wir zunächst nicht, wie wir sie würden einsetzen können. Als wir sie dann zu dem Track singen ließen, war sofort klar, dass es funktionierte.“
Im Februar werden Tortoise auch in Deutschland wieder auf Tour zu sehen sein. „Uns ging es darum, den Graben zwischen unseren Studiosachen und der Bühnenversion so schmal wie möglich zu halten“, sagt McEntire. „Allerdings haben wir uns auch noch keine Gedanken gemacht, wie wir das alles umsetzen können. Wir sind immer schon nach dem Trial-and-Error-Prinzip vorgegangen. Und so wird es auch jetzt wieder sein.“