Unfrieds Urteil: Nach der Horrornacht von Köln – wir schaffen es nicht mal, miteinander zu sprechen
Köln ff.: Das diskursive Gift der Gegenwart ist eine Mischung aus Empörungsstilisierung, dem Gestus des „Ich hab's ja immer gesagt“ und dem Gieren danach, dass jemand etwas „Falsches“ äußert. So kann man nicht miteinander sprechen. Geschweige denn die Flüchtlingsdynamik bewältigen. Aber wie dann?
Wir müssen offen über Einwanderung sprechen, aber wir kriegen es nicht hin. Das ist die Situation, die sich durch die Angriffe von Köln auf Frauen nicht grundsätzlich verändert hat, anders als es der politisch-mediale Überdruck suggeriert. Je lauter das Geschreie, desto klarer wird, wie sprachlos Gesellschaft und auch Politik sind.
Die einen wollen Einwanderung nicht, die anderen wollen Einwanderung zum Wirtschaftsfaktor aufwerten oder reduzieren, die dritten zum moralischen Imperativ erheben. Die einen wollen „Fremde“ als homogene Gruppe verstehen, die gegen „Freunde“ steht, das ist die aus ihrer Sicht homogene Gruppe der Blutdeutschen. Die anderen wollen Flüchtlinge und Migranten auch nicht in ihrer Unterschiedlichkeit diskutieren, sondern als Gruppe, die kategorisch unterstützt werden muss.
Der Kampf für Frauenrechte und für Einwandererrechte ist für einen Teil der Gesellschaft ein zusammenhängender Kampf für das Gute – gegen die bösen weißen Männer aus dem politisch anderen Spektrum. Die Einen, Rechten, wollen keine offene Gesellschaft, sondern eine ethnisch und kulturell homogene. Und Andere, Linke, wollen auch keine offene Gesellschaft, sondern eine in der jeder nach ihren Regeln offen zu leben hat. Das ist aber nicht offen. Für die einen sind die anderen ideologische Fundis oder relativistische Wertfreie – und umgekehrt. Das gilt nicht nur für Muslime vs. Säkularisierte und Nicht-Europäer vs. Europäer, sondern auch für linke Deutsche vs. rechte Deutsche, wobei links für die Rechten in der Mitte anfängt und andersherum.
Die Zukunft wird kein Rosengarten
Die gemeinsame Zukunft mit möglichst vielen Flüchtlingen wird kein Rosengarten, sondern eine aufreibende Herausforderung für die Werte und Routinen derjenigen, die schon einen deutschen Pass haben. Und für die, die noch keinen haben. Darauf haben Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie schon im vergangenen Herbst hingewiesen. Es werde nicht nur Konkurrenzen geben, sondern einen dauerhaften Aushandlungsprozess. Das heißt: Es wird nicht nur die Tradition des Machismo aufgegeben werden müssen, sondern auch die gesellschaftliche Durchsetzung des Binnen-I. Und wichtigeres. Es handelt sich nicht nur um einen Integrationsprozess, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess. Der beinhaltet vermutlich auch die in Deutschland ungewohnte parlamentarische Repräsentation von rechtsorientierten Mitbürgern.
„Das große Problem ist die globale Flüchtlingsentwicklung. Das noch größere Problem, das trotz Paris bisher faktisch nicht angegangen worden ist: Der Klimawandel, der zu einer noch viel stärkeren Flüchtlingsdynamik führen wird.“
Die sexuellen Attacken auf Frauen in Köln sind vermutlich mit dem Hintergrund einer nicht gelingenden Einwanderung und eines kulturell getragenen frauenfeindlichen Menschenbildes verknüpft. Jeder erwiesene Zusammenhang muss benannt werden. Die Taten müssen bestraft werden. So wie das die Gesetzgebung vorsieht. Relativieren ist schlecht. Es ist aber genau so schlecht, den Blick auf Köln zu verengen. Es sei ein „Horror“, schreibt Volker Zastrow in der „FAS“, aber „ein ziemlicher kleiner Horror in einem ziemlich großen“. Das große Problem ist die globale Flüchtlingsentwicklung. Das noch größere Problem, das trotz Paris bisher faktisch nicht angegangen worden ist: Der Klimawandel, der zu einer noch viel stärkeren Flüchtlingsdynamik führen wird.
Die Sehnsucht, dass alles so bleiben möge, wie es ist, und halt auch auf Kosten der noch stärker Benachteiligten, ist nicht exklusiv CSU, sondern wird von einer Großen Koalition der Errungenschaftskonservativen geteilt. Selbstverständlich kann aber nichts bleiben, wie es ist. Eine Gesellschaft sowieso nicht – und im 21. Jahrhundert erst recht nicht. Alles fließt. Kanzlerin Merkel hat im vergangenen halben Jahr erstmals versucht, das behutsam zu artikulieren. Spät. Aber immerhin.
Die SPD ist nun gefragt
Je komplizierter die Lage, desto anfälliger werden Menschen für einfache Antworten. Diese Antworten sind keine Lösungen, das gilt für Rechts-, aber eben auch für Linkspopulisten, wenn es auf einen sozialen Nationalismus hinausläuft, auf Beschwörung eines homogen Innen (Nation) und einer Bedrohung von außen (Migranten, Flüchtlinge, EU).
Im richtigen Leben will auch ein Linker ungern etwas abgeben, weshalb nun speziell die SPD versuchen muss, Solidarität ohne Umverteilung zu organisieren – oder zumindest so zu tun. Damit sie ihre verbliebenen Wähler aus der unteren Mittelschicht nicht auch noch verliert, die fürchten, die Gearschten zu sein, wenn die Sozialdemokratie ihren internationalen Gerechtigkeitsanspruch ernst nähme. Die Konkurrenzsituation um Jobs und Wohnraum kann real werden. Gleichzeitig kann aber ein Gerechtigkeitsanspruch nicht umgesetzt werden, wenn nicht von oben nach unten abgegeben wird. Und global gesehen, sind Deutsche oben. Also müssen alle ran, das muss aber auch die wohlhabenderen unter ihnen beinhalten.
Die deutsche und auch die EU-Gesellschaft ist die privilegierteste der Welt. Wir werden darüber sprechen müssen, den Wohlstand global besser zu verteilen. Das ist in diesem Moment undenkbar.
Dazu müssen wir zuerst überhaupt mal sprechen lernen.
Was Köln ff. wieder einmal offenbart: Es gibt keinen diskursiven und gesellschaftlichen Fortschritt im alten Links-Rechts- und Gut-Böse-Denken des letzten Jahrhunderts. Die Bewahrung dieser Illusion ist ein Grund, warum die Diskussion so dysfunktional ist. Das Gift der Gegenwart ist eine Mischung aus selbstgerechter Empörungsstilisierung, dem Gestus des „Ich hab’s ja immer gesagt“ und dem Gieren darauf, dass jemand etwas „Falsches“ sagt, um ihn und damit sein Lager zu desavouieren. Die Grünen sind Weltmeister darin, CSU-Politiker als eine Art moralische Untermenschen diffamieren zu wollen, die man umerziehen muss.
Wir müssen uns selbst verändern
Andererseits kriegen auch sie es unappetitlich reingebuttert. Bezeichnend z.B. ein „Spiegel“-Kolumnist, der der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt „Sarrazin-Niveau“ vorwarf.
Hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber: So kann man nicht miteinander sprechen.
Die Fremdenhasser leben im Ressentiment und sind mit Argumenten bisher nicht zu erreichen. Aber leider denken andere auch mangels Perspektive vorurteilsgetrieben und nach hinten. Das ist der Punkt, an dem man anfangen kann.
Wir – das meint erst einmal Verfassungspatrioten, die mit Wort und Tat zum Gemeinsamen beitragen wollen – haben keine Antworten, wir sind in einem suchenden Prozess, den wir nur hinkriegen, wenn wir nicht nur die anderen verändern wollen, sondern auch uns selbst.
Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de