Unfrieds Urteil: Der Eurovision Song Contest ist Kreisklasse – also regt euch einfach ab!
Eurovision ist, als ob der TSV Meckenbeuren an einem Pokalturnier im Vorort von Macclesfield teilnimmt, wo auch die SpVgg Kastelruth mitkickt. Komplett bedeutungslos – auch wenn die ARD überträgt. Der „Fall“ Xavier Naidoo zeigt hauptsächlich, dass die gesellschaftskritischen Diskussionen zu Rülpsern der Selbstgerechtigkeit verkommen.
Der Vorteil, mit einem Rassisten beim Eurovision Song Contest anzutreten, bestünde darin, dass Deutschland endlich auch Punkte aus Russland bekäme. Schreibt Stern-Kolumnist Micky Beisenherz. Das ist sehr lustig und ein angemessener Umgang mit der Problemlage Xavier Naidoo. Es könnte aber auch als Ressentiment gegenüber dem russischen Volk interpretiert und für die nächste Treibjagd instrumentalisiert werden. Wurde es bisher nicht. Weil es konsensfähig ist? Oder weil die Ironie verstanden wurde? Letzteres ist kaum zu erhoffen.
Jetzt kann man sagen: Die kritische Gesellschaft diskutiert ihre, hm, „Werte“ oder besser gesagt, die Art, wie sie zusammen leben kann und will. Das wäre grundsätzlich und speziell angesichts der globalen Flüchtlings- und Terrorlage ein wichtiger Diskurs. Das tut sie aber nicht. In Wahrheit wird nicht über „uns“ geredet, sondern fast immer nur abgrenzend über die anderen. Gerade auch die Vertreter des Guten, der Toleranz und Akzeptanz, sind hauptsächlich unterwegs, um im Sinne Stalins die Partei zu reinigen und dadurch zu stärken.
Für die Öffentlichkeit ist die Sache bereits durch
Der Mannheimer Popsänger Xavier Naidoo, den die ARD beim Eurovision Song Contest (vulgo: Grand Prix) antreten lassen wollte, ist dann ganz schnell homophob, rassistisch und politisch verdächtig, also rechtsaußen. Das ist grundsätzlich ein problematisches Paket, aber es ist auch das ideale Paket, wenn man in der deutschen Gesellschaft jemanden erledigen will. Noch wirksamer ist nur der Vorwurf des Kindesmissbrauchs. Naidoos Freunde sagen, das sei Unsinn, aber zur Klärung kommt es nicht mehr, für die Öffentlichkeit ist die Sache bereits durch. Zack, weg. Deutschland wieder etwas gesäuberter. Aber der nächste Delinquent wartet schon. Gottseidank.
Denn was da als kritische Intervention daherkommen will, ist häufig nur „die triumphale, selbstgerechte Feier der eigenen, aller kritischsten Position“, wie Thomas Edlinger in „Der wunde Punkt“ notiert. Für mich ist das ein Buch des Jahres. Der Wiener Autor beschreibt darin, wie die Kritik zu narzisstischer „Hyperkritik“ verkommen ist und zu einem „Miserabilismus“, der hinter allem das Schlechteste sucht und findet. Dies ist nicht mehr gekoppelt mit dem Streben nach einer Weltverbesserung, sondern mündet nur noch in einen selbstgerechten Rülpser des Alle-scheiße-außer-mir. In den digitalen Wirtshäusern Facebook und Twitter dient diese Art von Kritik sowohl der Profilierung des Selfie, als auch dem Anschluss an möglichst viele, die auch liken, was man hasst.
„Diese Entscheidung beschädigt das Ansehen der ARD“
Jetzt könnte man sagen: Letztlich ist das kritische Verdammen auch nur Unterhaltung und Ablenkung. Und Eurovision ist sogar offiziell Unterhaltung, denn es wird ja vom ARD-„Unterhaltungskoordinator“ verantwortet. Also hat die ARD mit dem Naidoo-Coup ihre öffentlich-rechtliche Unterhaltungspflicht erfüllt und die Leute ein paar Tage lang unterhalten und vom harten Alltag abgelenkt?
In einem Protestbrief der Naidoo-empörten festangestellten Mitarbeiter steht aber laut Bild der schöne Satz: „Diese Entscheidung beschädigt das Ansehen der ARD.“ Ach, echt? Dann sollten die aufrechten Selbst-Kritiker das gleich mal im Copy-Shop vervielfältigen lassen, denn es gäbe genügend Beschädigungen, denen man sich dringlicher zuwenden könnte, ich denke an die Nicht-Berichterstattung am Abend des Terrorakts von Paris, als die (Fußball-)Spiele weitergingen und eine komplett uninformierte Paris-Korrespondentin nichtiges Zeug brabbelte – als sei sie Deppendorf vor dem Kanzleramt.
Hier sind wir beim Hauptproblem der Kritik in der Gegenwart: Die Kritiker verpassen das wirklich Wichtige, weil sie sich in das Unwichtige verbeißen. Und der „Schaden“ für Deutschland? Denkt denn jemand im Ernst, dass ein Künstler, der am Eurovision Contest teilnimmt, „für Deutschland“ antritt? Das ist doch hanebüchener Unfug. Auch die deutsche Nationalmannschaft ist nicht „Deutschland“, sondern ein Fußballteam, dessen Fan man ist. Wenn die Bundesliga und der eigene Club Pause machen.
„Ein bisschen Frieden“ definierte nicht die gesellschaftliche Befindlichkeit der Bundesrepublik
Der Eurovision Song Contest ist eine Sendung der ARD, die von Jürgen Meier-Beer professionalisiert und zu einem Unterhaltungsfaktor für den Mainstream gemacht wurde. Und es ist ein Kreisklassen-Musikwettbewerb. Und bei einem Wettbewerb, ist man für jemand, sonst ist es langweilig. Als Deutscher in der Regel für den Deutschen. Den kennt man schon oder lernt ihn kennen. Wie den deutschen Rodel-Doppelsitzer bei einer TV-Übertragung aus Winterberg. Beide Wettbewerbe sind nicht relevant für die gesellschaftlichen Zeitläufte. Und beide sind gleich relevant aus popmusikalischer Sicht.
Mit allem Respekt vor Andersdenkenden: „Ein bisschen Frieden“, Siegertitel 1982, und die Sängerin Nicole definierten keineswegs die gesellschaftliche Befindlichkeit der Bundesrepublik oder gar Kerneuropas in Zeiten von Pershing und SS 20. Das biedere Rüschen-Mädchen und der superplatte Text vom Reißbrett Bernd Meinungers waren nicht mal bei der Schüler-Union satisfaktionsfähig.
Eurovision ist, als ob der deutsche Kreisligist TSV Meckenbeuren an einem Pokalturnier in einem Vorort von Macclesfield teilnimmt, wo auch die SpVgg Kastelruth mitkickt. Einer muss gewinnen.
Aber auch wenn es hinterher zu einem Krawall im Bierzelt kommt, hat das überhaupt keine Auswirkungen für die Gegenwart der deutschen Gesellschaft.
Auch dann nicht, wenn die ARD überträgt.
Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de