Verlorenes Manhattan: Martin Scorseses „Die Zeit nach Mitternacht“

„Die Zeit nach Mitternacht“ gehört zu den weniger bekannten Filmen Martin Scorseses. 1985 kam die Tragikomödie ins Kino, eine Liebeserklärung an ein New York, das es heute nicht mehr gibt.

In den frühen 1980er-Jahren hatte Martin Scorsese in Hollywood zu kämpfen. Seine Mediensatire „The King Of Comedy“ mit Robert De Niro in einer Rolle als Stalker fiel bei Kritik und Publikum durch – dabei war die Komödie über die Gier der Fernsehsender nach tragischen Geschichten meilenweit der Zeit voraus. Und sein Lieblingsprojekt „Die letzte Versuchung Jesu Christi“ über das vermeintliche (Liebes-)leben des Sohn Gottes, bekam er nicht finanziert. Scorsese, der letzte rebellische Vertreter des New Hollywood der Siebziger, war plötzlich ein Regisseur ohne Einfluss.

Der Schauspieler Griffin Dunne wiederum, kein echter Star, aber mit einer eigenen Produktionsfirma im Rücken, wollte ein Drehbuch verfilmen lassen, mit ihm in der Hauptrolle. Daraus wurde „After Hours“ (dt.: „Die Zeit nach Mitternacht“): Die Geschichte eines New Yorker Yuppies, der nach dem Date mit einer schönen Unbekannten nachts in SoHo strandet, und in einer Welt irgendwo zwischen Punk-Club, Weirdo-Künstlern und aggressiven Ladenverkäufern um sein Leben fürchten muss.

Kein Sex, kein Schlaf, dafür Paranoia

Als Wunsch-Regisseur Tim Burton gehört hatte, dass auch Scorsese sich für den Stoff interessiere, soll er sofort verzichtet haben. Scorsese ist schließlich New York, so wie Woody Allen New York ist: Sie lieferten die aufregendsten Bilder ihrer Stadt, der Times Square oder die 59th Street Bridge erschienen bei ihnen in neuem Licht. Griffin Dunne und Scorsese wurden sich demnach schnell über ihren Film einig. Vor den Dreharbeiten soll der Regisseur seinen Darsteller noch gebeten haben, auf Sex und Schlaf zu verzichten, damit sich bei ihm ein Gefühl der Paranoia einstelle.

Ohne Geld – sein einziger 20-Dollar-Schein ist ihm aus dem Taxifenster geweht – landet der Programmierer Paul (Dunne) in der Wohnung von Marcy (Rosanna Arquette) und macht dort Bekanntschaft mit der Bildhauerin Kiki (Linda Fiorentino). Über das gemeinsame Interesse an den Werken des Schriftstellers Henry Miller versucht Paul noch Eindruck zu schinden, schnell aber wird klar, dass er in Lower Manhattan in der Zeit nach Mitternacht aufgeschmissen ist. Bis zum frühen Morgen wird der Bürohengst eine Reihe von Etappen hinter sich bringen müssen: Ein Mob scheucht ihn durch SoHo; Marcy begeht Selbstmord; er muss vor einem wohl deutschen Lederfetischisten namens Horst flüchten; schafft es völlig indisponiert in einen Punk-Club; wird wie eine Skulptur eingegipst und droht darin zu ersticken. Am Ende des wie ein Uhrwerk laufenden Films schafft es Paul pünktlich wieder dahin, wo alles seinen Anfang nahm: an den Büro-Schreibtisch. Die fremde Nachtwelt hat ihn wieder ausgespuckt, die vergangenen Stunden waren wie ein böser, aber auch wilder Traum.

Nenne es „Der Schrei“: Paul wird eingegipst.

Martin Scorsese wurde für „Die Zeit nach Mitternacht“ 1986 in Cannes mit der Goldenen Palme als bester Regisseur ausgezeichnet, und das geringe Einspielergebnis mit zehn Millionen Dollar war immerhin noch doppelt hoch so beziffert wie die Produktionskosten – streng genommen war das Werk also ein Erfolg. Dennoch zählt der Film zu den unbekannteren Scorseses. Wer an ihn denkt, hat den „Taxi Driver“ im Sinn, „GoodFellas“ und den „Wilden Stier“, die 1980er-Jahre meist gar nicht. Scorseses Werke werden immer wieder neu herausgebracht, mit umfassendem Bonusmaterial, „Die Zeit nach Mitternacht“ aber ist als schmucklose Einzel-DVD im Handel, ohne Ton- und Bildbearbeitung.

Als Komödie jedenfalls ist „Die Zeit nach Mitternacht“ auch nicht gelungen. Die Slapstick-Einlagen erscheinen betulich, Torte-ins-Gesicht-Humor, Griffin Dunne ist kein Sympathieträger, und die einzelnen Episoden mit ihren Charakteren verbinden sich nur schwer zu einem Ganzen. Die lustigste Szene ist noch die, als Dunne eine Parodie auf jene lässigen U-Bahn-Schwarzfahrer aus tausenden US-Filmen liefert, die kein Ticket lösen wollen. Auch er springt einfach über das Drehkreuz – und macht eine Punktladung vor dem bereits lauernden Cop.

Manhattan als Kriegsschauplatz

Aber Scorsese zeigt grandios, wie schon im „King Of Comedy“ zwei Jahre zuvor und 1976 in „Taxi Driver“, auch ein Manhattan, das es so nicht mehr gibt. Der Times Square etwa konnte bei Tag ein nervös ruhiges, und bei Nacht ein gefährliches Pflaster sein. Die Verbrechensrate war in New York nie höher als in den 1980er Jahren; im „King Of Comedy“ erinnern allein schon die Reihen der öffentlichen Telefonzellen am Times Square, mit ihren in die Hörer schreienden Menschen, an einen Kriegsschauplatz. Wo heute Disney residiert, liefen einem 1983 Punks über den Weg (im Film dargestellt von den Clash-Musikern).

„Die Zeit nach Mitternacht“ widmet sich trotz der Gefahren, die dem Programmierer Paul drohen, seinen Stadtbewohnern geradezu rücksichtsvoll. Jede der hier porträtierten Figuren entstammt dem Alltag, der rabiate Taxifahrer hat es ja nicht leicht, oder dieser U-Bahn-Ticketverkäufer, der auf jeden Cent besteht, wohl auch der mysteriöse Exilant Horst. Der Höhepunkt des Films spielt sich nach Pauls Flucht im Club „Berlin“ ab. Wer die dort versammelte Goth-Szene sieht, von den Anhängern des Films als authentisch bezeichnet, wünscht sich gleich an diesen geheimen Ort, wenn auch nur um Mäuschen zu spielen. „Mohawk this guy!“ lautet noch eine der härtesten Drohungen an Paul – verpasst dem Schreibtischtäter eine Frisur! Eine modische Frisur! Hier geht es eben auch um eine Szene, die sich zu ernst nimmt. Der Club „Berlin“ existierte tatsächlich, von der Straße aus nicht sichtbar, Einlass nur per Passwort.

Scorsese wusste auch in „Die Zeit nach Mitternacht“, wo er hingehört. Traditionell baut der Regisseur sich als Cameo-Darsteller in seine eigenen Filme ein, in „Taxi Driver“ war er der mordlüsterne Fahrgast, in „Casino“ zählte er im Hinterzimmer das Geld – und hier beleuchtete er, im wahrsten Sinne des Wortes, als Chef der Lichtanlage seinen Club.

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Filmplakat

Im Jahr 1985 kamen einige laute Stadtporträts ins Kino, neben „Die Zeit nach Mitternacht“ wurde die US-Ostküste vor allem durch Susan Seidelmans „Susan … verzweifelt gesucht“ ins Rampenlicht gerückt. Regisseurin Seidelman machte 1982 mit ihrem Subkultur-Porträt „Smithereens“ auf sich aufmerksam. Darin und in „Susan …“ spielt der Punksänger Richard Hell mit, dazu wie in „Die Zeit nach Mitternacht“ Rosanna Arquette – und natürlich Madonna in ihrer ersten Filmrolle. Hier war sie gut aufgehoben, ihre ersten Schritte als Musikerin, am Schlagzeug, tat Madonna Ende der Siebziger im Big Apple. Seidelman sollte später ins Fernsehgeschäft wechseln, unter anderem bei „Sex and the City“ die Aufnahmen leiten. Das war ein anderes New York natürlich, Lichtjahre von dem etwa des Punkclubs „Berlin“ entfernt … aber eben auch eines, in dem die Stadt wieder wie magisch leuchtet.

Das Jahr der Stadtporträts

Auch die Westküste, Los Angeles, wurde in diesem Jahr verewigt, im Thriller wie in der Komödie. In William Friedkins brutalem „Leben und Sterben in L.A.“ ist das Polizeisystem, in bester Ellroy-Tradition, ein Hort der Korruption. Die Verfolgungsjagden in „Kopfüber in die Nacht“ von John Landis wiederum bedienen auf lustige Weise alle Vorurteile, die manche Kalifornier gegenüber den hunderttausenden Iranern hegen, die nach dem Sturz des Schahs nach Los Angeles flüchteten. Heute würde es bei dieser Charakterisierung einen Aufschrei geben: Perser als neureiche Verbrecher, die höchstens dann eine Pause vom Auftragsmorden einlegen, wenn sie eine Schale mit Pistazien sehen.

„Zeit nach Mitternacht“-Darsteller Griffin Dunne backte nach dem Film stetig kleinere Brötchen, aber für Regisseur Martin Scorsese ging die Karriere weiter – auch wenn er den Regie-Oscar, für „The Departed“ erst 21 Jahre später erhalten sollte. Nach New York würde er jedenfalls schon sehr bald wieder zurückkehren: „GoodFellas“ wird 1990 ein Meilenstein, sein Film startete diesmal in Brooklyn.

Filmplakat