Die Mauer steht wieder: Roger Waters und „The Wall“
Waters hatte mit der Aufführung den Zeitgeist auf seiner Seite. Zufrieden war er dennoch nicht.
Noch einmal bringt Roger Waters seine Rock-Oper auf die Bühne – zum ersten Mal so, wie er sie selbst geplant hatte. „The Wall“ ist das Resümee seines Schaffens und zugleich sein letztes Großprojekt.
Herbst 2010, New York City. In diesem Moment wäre Roger Waters froh, wenn er eine Miniatur-Ausgabe seiner „Wall“ zur Hand hätte. Kaum dass er seine 1,90 Meter auf dem Rücksitz der Limo verstaut hat, die uns zu einem Restaurant in Manhattan bringen soll, wird ihm klar, dass der Chauffeur ein wenig zu anhänglich ist. Waters sackt in sich zusammen. „Bin ein Fan, seit ich denken kann“, knarzt der baseballkappenbeschirmte Fahrer namens Fred mit breitem New Yorker Akzent. „Habe, Wish You Were Here‘ ins Herz geschlossen, als ich durch Europa getrampt bin. Das beste Album, das jemals gemacht wurde. Muss ein geiles Gefühl sein, zu wissen, dass man eine ganze Generation damit beeinflusst hat.“
Roger Waters – der Perfektionist
„In der Regel erfahren wir so etwas erst, wenn wir in Ihr Auto steigen“, sagt Waters in knochentrockenem Oxford-Englisch. Was sich hinter seinen stahlblauen Augen wirklich abspielt, lässt sich nur schwer erahnen. Aber es scheint, als wolle er diesmal gute Miene zum bösen Spiel machen. Es ist seiner Laune sicher auch nicht abträglich, dass er sich gerade schon ein paar Gläschen eines exzellenten Montrachet gegönnt hat, als Belohnung für einen anstrengenden Tag: Morgens war er von seinem Haus in den Hamptons nach Manhattan gefahren, hatte zunächst an Bizeps, Trizeps und der Bauchmuskulatur gearbeitet („Es bringt mich um, aber ich muss einfach kräftiger werden“), hatte dann mit einem Gesangslehrer Tonleitern geübt, um wieder die höheren Lagen aus seiner Jugend erreichen zu können, hatte mit einem Stylisten Bühnen-Outfits – ausnahmslos in Schwarz – ausgesucht (und dabei ein Paar Lederstiefel als „sehr Bruce“, andere als „zu Pete Townshend“ verworfen) und war schließlich in ein Produktionsstudio gefahren, um an Details der Bühnenbeleuchtung und Animation zu feilen.
Seit Januar 2010 arbeitet er nun ununterbrochen an der ersten definitiven Tour-Version dessen, was er als Kernstück seiner Karriere versteht: „The Wall“, die Geschichte eines entfremdeten Rockstars namens Pink, dessen Biografie eine unverkennbare Parallele zu seiner eigenen hat. Die Show wird nun auch in Deutschalnd aufgeführt. Pink Floyds ursprüngliche Bühnenversion – mit ihren überdimensionalen Puppen und der riesigen Mauer – lieferte die Grundlage für alle Bühnenspektakel, die danach folgen sollten, von „Steel Wheels“ bis „Zoo TV“. Aber die Show wurde nur in vier Städten gezeigt, stets unterbrochen durch mehrmonatige Pausen. Und da offiziell keine Aufnahmen von diesen Shows existieren (von Gerald Scarfes Animationen abgesehen, die auch in der Filmversion von 1982 eingesetzt wurden), gerieten sie immer mehr in Vergessenheit.
Diese Rock-Oper war eigentlich ein Himmelfahrtskommando
Die Shows schrieben rote Zahlen (bei Ticketpreisen von zwölf Dollar) und trugen dazu bei, dass die Band endgültig auseinanderdriftete. „Sie kamen immer näher an den Punkt, wo sie sich nicht mehr sehen wollten“, so Architekt Mark Fisher, der die alte und auch die neue Bühne baute (und für das „Spaceship“ bei U2s „360°“-Tour verantwortlich war). „Es war ein willkommenes Alibi, das ganze Projekt als unrealistische Schnapsidee abzutun und eigene Wege zu gehen.“
Licht-Regisseur Marc Brickman, der 1980 gerade zum Team gestoßen war, erinnert sich an seine ersten Eindrücke: „Es war der helle Wahnsinn, im Rahmen einer Rock’n’Roll-Show plötzlich so etwas wie eine Oper inszenieren zu wollen. 1980 konnte man von einem derartigen Projekt nicht einmal träumen.“ Für Waters hingegen war die Vorgabe schon damals klar: „Man kann die Leute nicht in den Zirkus locken und ihnen dann nur Flöhe präsentieren. Es müssen schon Elefanten und Tiger sein.“
Mit seiner ungenierten Megalomanie war „The Wall“ das rote Tuch für die Punk- und New-Wave-Bands jener Jahre – der Prototyp dessen, was sie „Dinosaurier-Rock“ nannten. Die laufende Tour, die am 15. September in Toronto begann, will allerdings mehr sein als nur ein Jurassic Park auf Rädern. Waters hat das Konzept überarbeitet und mit explizit politischen Botschaften gespickt: gegen Krieg in jeder Form, gegen jedwede Unterdrückung der Menschenrechte. Die Lyrics zu „Mother“ beispielsweise sind zwar unverändert, aber das begleitende Video mit seinen omnipräsenten Überwachungskameras thematisiert nicht mehr die dominierenden Eltern, sondern einen repressiven Staat. „Im Prinzip ist es die gleiche Show, aber die Botschaft steht nun auf einer breiteren Basis“, so Fisher. „Wir mussten die Tatsache berücksichtigen, dass es nicht mehr ein Mann in seinen Dreißigern ist, der auf seine Jugend zurückblickt, sondern ein Mann in seinen Sechzigern.“
Die Show profitiert natürlich auch vom technologischen Fortschritt der letzten 30 Jahre, nicht zuletzt in Form des Ultra-High-Definition-Videos, das auf die Mauer projiziert wird. Waters feierte zum Tourstart seinen 67. Geburtstag – und ist sich ziemlich sicher, dass dies seine letzte große Tournee sein wird. „Es ist ein gigantisches Unternehmen, und ich war mir nicht sicher, ob ich der Aufgabe gewachsen bin“, sagt er, wirkt dabei aber nicht überzeugend: Man spürt, dass er sehr wohl davon überzeugt ist, die Aufgabe meistern zu können.
Während die Limo durch Manhattan rollt, holt Fred sein Handy heraus und liest laut Messages vor, die ihm seine Töchter geschickt haben – bis wir ihn bitten, damit doch lieber bis zur nächsten roten Ampel zu warten. („Leute, die beim Fahren texten, stauche ich normalerweise zusammen“, sagt Waters mit neuer Milde.) Es stellt sich heraus, dass eine der Töchter zufällig im Fitnessstudio heute Morgen „The Wall“ gehört hat. „Vielen Dank, dass Sie Ihre Töchter indoktriniert haben“, sagt Waters, sichtlich belustigt. „Die Kinder brauchen also offensichtlich doch eine, education‘. Ich lag völlig daneben.“
Fred ist inzwischen voll in seinem Element: „Ja, aber sie brauchen keine, thought control‘.“ Er hält für einen Moment inne. „Und wie geht noch mal die nächste Zeile?, No dark sar …‘ Wie heißt das?“ „Sarcasm“, sagt Waters. „Die Leute singen bei Songs immer die falschen Wörter, aber in diesem Fall haben wir die fucking Autorität ja gleich hier zur Hand.“
„Mir war zwar nicht bewusst, dass ich in puncto fucking die große Autorität bin, aber trotzdem danke“, sagt Waters. Kurz darauf nimmt er sogar Freds Visitenkarte entgegen und verspricht, ihm Tickets für die Show zukommen zu lassen.
Waters bespuckte einen Fan
34 Jahre zuvor, bei einem chaotischen Pink- Floyd-Gig im Stadion von Montreal, hatte ein weitaus uncoolerer Waters eine weniger erquickliche Begegnung mit einem Fan. Der letzte Gig auf ihrer „Animals“-Tour 1977 stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Das Soundsystem war viel zu schwachbrüstig, um sich gegen ein angetrunkenes und randalierendes Publikum durchzusetzen. (Auf einem Bootleg von dem Konzert hört man, wie Waters schrie: „Verdammt noch mal, hört endlich auf, Raketen abzuschießen und so viel Lärm zu machen – ich versuche zu singen.“) Doch stattdessen kletterte prompt ein Fan über das Absperrgitter und sprang auf die Bühne. Waters spuckte ihn an.
Im Nachhinein war Waters selbst entsetzt. Wie war es möglich, dass er sich dazu hinreißen lassen konnte? Was lief in seinem Kopf nur so verquer? Er war 33 Jahre alt und der Protagonist in der größten psychedelischen Band der Welt. Sicher, seine erste Ehe war gerade in die Brüche gegangen – und auch mit der Band ging es rapide bergab: Er und David Gilmour wurden sich mit jedem Tag fremder. Waters war reich und berühmt, aber trotzdem verbittert und unzufrieden – und offensichtlich unfähig, die Probleme seiner Kindheit aufzuarbeiten. Probleme, die nicht zuletzt damit begannen, dass sein Vater fünf Monate nach Rogers Geburt im Zweiten Weltkrieg sein Leben verlor.
„Ich war wohl ziemlich beängstigend“, sagt Waters heute. „Ich hatte die Eigenschaft, selbst bei Bagatellen wild um mich zu schlagen.“ (Auch in diesem Punkt muss er eine radikale Wandlung durchlaufen haben: Als im Backstage-Bereich Lasagne für die Crew serviert wird, beißt er plötzlich auf eine lange Schraube, die der Caterer irgendwie auf seinen Teller gezaubert hat. Nachdem er für einen Moment entgeistert aus der Wäsche schaut, fasst er sich schnell und nimmt die Sache mit Humor – zumindest in meiner Anwesenheit.)
Das letzte große Konzeptalbum
Waters wollte unter seine Vergangenheit einen Strich ziehen und begann mit einer Therapie, die sich über zwei Jahrzehnte hinziehen sollte. Doch zunächst einmal machte er das, was Rockstars damals zu tun pflegten: Er verkroch sich in seiner Villa im Grünen, legte sich einen Synthie zu und schrieb eine Rock-Oper. Beim Songschreiben noch einmal unterstützt von David Gilmour, sollte es das letzte große Konzept-Album ihrer Generation werden. „Ich versuchte, in meinem Leben einen Sinn zu finden“, sagt Waters, „und bis zu einem gewissen Grad ist mir das wohl auch gelungen.“
Beim Komponieren hatte er immer schon visuell gearbeitet (nicht ohne Grund zog es den 18-jährigen Waters auf eine Architektur-Hochschule, wo er die späteren Floyd-Mitglieder Nick Mason und Rick Wright kennenlernte), und auch diesmal legte er seinem Projekt eine Skizze zugrunde. Sie zeigte eine riesige Mauer, die in einer Sporthalle aufgestellt worden war. Zunächst sollte die Mauer aufgebaut werden, während Pink Floyd auf der Bühne spielten; mit dem Verlegen des letzten Quaders sollte auch der letzte Ton erklingen. Doch als die Idee eine Eigendynamik entwickelte, wurde ihm klar, dass die Mauer am Ende irgendwie einstürzen musste. „Natürlich muss es einen Grund gegeben haben, warum ich überhaupt auf die Idee kam, zwischen mir und dem Publikum eine Mauer zu bauen. Auf einer unbewussten Ebene muss es mir gedämmert haben, wie verunsichert ich war.“
Waters sitzt inzwischen in dem Produktionsbüro in Manhattan, wo er die Tour monatelang vorbereitet hat. Dass man durch einige der Bürofenster auf eine Ziegelsteinmauer hinausblickt, hat er als Wink des Schicksals empfunden. Er ist barfuß und trägt die Sachen, die er eigentlich immer trägt: schwarzes T-Shirt, verblasste Jeans und eine Platinum-Rolex. Er scheint Probleme mit seinem Gehör zu haben, jedenfalls pflegt er, durchaus charmant, auf jede Frage mit einem pointierten „Was?“ zu reagieren – als sei es die Schuld seines Gegenübers, so unartikuliert zu nuscheln. „Dass ich in meiner Jugend die Menschen vor den Kopf stieß, diese ganze Aggression und Widerborstigkeit und fehlende Umgänglichkeit, erklärt sich letztlich aus der Tatsache, dass ich panische Angst hatte – Angst davor, dass die Leute entdecken könnten, dass ich eigentlich gar nicht die Person war, die ich zu spielen versuchte. Ich hatte um mich herum – um meine sexuelle Unsicherheit, um meine gesammelten Schamgefühle – eine riesige Mauer gebaut.“
Er lud den ganzen Ballast in den Songs von „The Wall“ ab: den Schmerz über den Verlust des Vaters, seinen Hass auf das repressive englische Schulsys- tem, die Frustration über die Seitensprünge seiner Frau, aber auch seine eigenen Begegnungen mit Groupies. Mit ihrer ungeschönten Aufarbeitung des eigenen Unterbewusstseins hatten die Songs weniger mit, sagen wir, „Tommy“ gemein als mit einem von Waters‘ liebsten Alben: „John Lennon/Plastic Ono Band“.
(Es ist vielleicht kein Zufall, dass auf beiden Alben ein Song namens „Mother“ vertreten ist.) Zur Abrundung fügte Waters noch Elemente aus dem Leben von Syd Barrett hinzu, in frühen Jahren bekanntlich Pink Floyds Frontmann, der aufgrund seiner mentalen Probleme und eines unkontrollierten Drogenkonsums dann aber für die Band nicht mehr tragbar war. Waters übernahm damals das Ruder und war dafür verantwortlich, dass die einst so kunstbeflissene Kult-Band „The Dark Side Of The Moon“ aufnahm, das sich zu einem der bestverkauften Alben aller Zeiten entwickeln sollte. Obwohl seine Musik von ihrer spacigen Eleganz lebte, so verstand sich Waters doch stets als musikalischer Fundamentalist; zu den ihm wichtigsten Künstlern zählen Leonard Cohen, Bob Dylan, Neil Young und Lennon. „Roger steht letztlich in einer Folk-Tradition“, sagt Bob Ezrin, der „The Wall“ koproduzierte. „Die Musik folgt immer dem Inhalt.“
Cartoonist Gerald Scarfe prägte das Erscheinungsbild von „The Wall“
Als Waters mit dem Komponieren anfing, biss er sich an einem Melodiefragment aus drei Noten fest; dieses Element bildet den Refrain von „Another Brick In The Wall“, taucht aber in verschiedenen Konstellationen auf dem gesamten Album auf. Er räumt inzwischen ein, dass es sich dabei um die Reprise eines Riffs handelt, das er bereits 1968 für „Set The Controls For The Heart Of The Sun“ schrieb (in dem sich auch die Zeile findet „Who is the man who arrives at the wall“).
Doch bevor die Band auch nur eine Note aufnahm, engagierte Waters den Cartoonisten Gerald Scarfe, um die aufblasbaren Puppen wie auch die grafischen Elemente zu entwerfen, die das Erscheinungsbild von „The Wall“ entscheidend prägen sollten. Er besuchte Scarfe zu Hause und brachte seine Demos mit, um ihm einen ersten Eindruck vom Material zu geben. „Als er das Tonband abgespielt hatte“, so Scarfe, „herrschte für eine Weile eine unheimliche Stille. Was immer man gesagt hätte, wäre unpassend gewesen. Ich sagte nur:, That’s great.‘ Und wieder gab es einen Moment, in dem keiner ein Wort sagte – bis sich Roger aufraffte und meinte:, Ich habe das Gefühl, als hätte ich gerade meine Hose runtergelassen und dir einen Haufen Scheiße ins Wohnzimmer gelegt.'“
Waters sitzt unbeweglich im Produktionsbüro und schaut sich ein Video an, auf dem ein junger Gilmour das inspirierte Gitarrensolo auf „Comfortably Numb“ spielt, dem vielleicht größten Floyd-Song überhaupt. Der Clip stammt von lange verschütteten, inzwischen aber restaurierten Bändern, die bei den ursprünglichen „The Wall“-Shows aufgenommen wurden (und früher oder später auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen). Doch Waters wollte nicht diesen Clip sehen, sondern das Solo des zweiten Gitarristen Snowy White, der – anders als Gilmour – auch bei dieser Tournee dabei ist. Waters schaut auf den riesigen Mac-Monitor und konstatiert nur: „Das ist nicht Snowy.“
Schmutzige Trennung
Die Konkurrenz ist beträchtlich, doch den Preis für die schmutzigste Trennung aller großen Bands dürften Pink Floyd für sich reklamieren können. Waters lieferte Konzepte, schrieb alle Texte und einen großen Teil der Musik – und verstand sich folglich als Häuptling der Band. Gilmour hatte damit seine Probleme. Er hatte die bessere Stimme, war einer der gefeiertsten Gitarristen und lieferte ebenfalls einen substanziellen Teil der Musik. „Es ging letztlich um David und mich“, so Waters. „Wir hatten uns in verschiedene Richtungen entwickelt – musikalisch, politisch, philosophisch. Ich wollte einfach nicht mehr mit ihm argumentieren, denn sonst wären wir uns nur ständig an die Kehle gegangen.“
Die Band bröckelte bereits bei den Aufnahmen zu „The Wall“, als Waters immer mehr dazu überging, die Band als Mittel zu seinem Zweck einzusetzen. Nach „The Final Cut“, das bereits wie ein Waters-Soloalbum klang, war dann endgültig Schluss. 1985 verließ Waters Pink Floyd – und war dann einigermaßen perplex, als Gilmour und Nick Mason unter dem Namen weitermachen wollten. Er versuchte, sie gerichtlich zu stoppen, aber sie gingen ungerührt auf zwei große Tourneen und veröffentlichten vier Alben, während Waters kaum Tickets verkaufen konnte, als er mit seinen Solo-LPs auf Tour ging. „Er ist nicht Pink Floyd“, sagte Waters 1987 über Gilmour. „Wenn einer von uns den Namen beanspruchen kann, bin ich es.“ Man schloss schließlich einen Vergleich, der es Gilmour und Mason erlaubte, als Pink Floyd zu touren, während die alleinigen Rechte an „The Wall“ an Waters fielen.
Im Jahre 2005 waren die Animositäten so weit abgeklungen, dass man im ursprünglichen Line-up (ohne Syd Barrett) für ein Vier-Song-Set bei „Live 8“ auftrat. „Ich bin so dankbar“, sagt Waters, „dass wir diese 18 Minuten zusammen geschafft haben, dass es allen vieren gelang, einen Schlussstrich unter dieses Kapitel zu ziehen. Die Situation zwischen David und mir hat sich seitdem erheblich verbessert. Wir sehen uns zwar nicht ständig – er wohnt nun mal auf dem Land in England, ich überwiegend in Manhattan -, aber wenn wir uns beide in England aufhalten, treffen wir uns schon mal zum Dinner. Und ja, es wird dann nicht mehr gezankt.“ Die entspannte Beziehung liegt Waters offensichtlich am Herzen – er ist wild entschlossen, die neue Harmonie durch keine unbedachten Äußerungen aufs Spiel zu setzen.
Im Juli 2010 standen sie sogar überraschenderweise erneut auf der Bühne, wenn auch nur vor 200 Zuschauern. Der Auftritt bei einer Benefizveranstaltung in Oxfordshire, bei der Geld für Palästinenser-Kinder gesammelt wurde, war Gilmours Idee gewesen, und er hatte Waters versprochen, im Gegenzug bei irgendeinem „Wall“-Konzert auf die Bühne zu kommen und „Comfortably Numb“ zu spielen. Darüber hinaus kann sich Waters durchaus eine Pink-Floyd-Reunion vorstellen, allerdings nur als einmaliges Ereignis. „Eine Tour steht definitiv nicht zur Diskussion, aber so etwas wie, Live 8′ ist durchaus möglich, dann aber nur mit Pink Floyd auf dem Programm. Es ist ein Jammer, dass wir das nicht schon geschafft haben, bevor Rick starb (2008).“
Zu gemeinsamen Aufnahmen von Waters und Gilmour wird es voraussichtlich ebenfalls nicht kommen. Waters wird etwas ungehalten angesichts der Unterstellung, dass es sich bei der Zusammenarbeit mit Gilmour um eine magische Konstellation gehandelt habe, die nicht mehr reproduzierbar sei. „Natürlich hatte David einen enormen Einfluss auf mein Songwriting, all diese großartigen Harmonien und melodischen Einfälle. Aber die Theorie, dass ich nicht in der Lage wäre, mit einem anderen etwas zu schaffen, das auch neben, Dark Side Of The Moon‘ oder, Wish You Were Here‘ Bestand hätte, kann ich nicht unterschreiben. Das beste Beispiel dafür ist doch, Amused To Death‘ (sein 92er Solo-Album), das ich streckenweise für außerordentlich gelungen halte.“
Neue Besetzung
Er hält es auch nicht für maßgeblich, dass außer ihm kein anderes Floyd-Mitglied auf der „Wall“-Tour vertreten ist. „Wenn du dir das Programm von 1980 anschaust, dann heißt es auf der ersten Seite:, The Wall. Written and Directed by Roger Waters. Performed by Pink Floyd‘. In meinen Augen kann es genauso gut von anderen Musikern aufgeführt werden. Ich bin zufälligerweise der, der in beiden Fällen mitspielt und die Produktion koordiniert, aber die übrigen Musiker sind nun mal andere.“
In der neuen Show hat er Gilmour durch zwei andere Musiker ersetzt: Robbie Wyckoff, ein Session-Sänger aus L.A., übernimmt die Vocals, während Dave Kilminster (Waters nennt ihn „The Killer“) für die meisten Gitarren-Passagen zuständig ist. In der vielköpfigen Band sind u.a. auch G.E. Smith (früher Bandleader bei „Saturday Night Live“) an Bass und Gitarre sowie Waters‘ 34-jähriger Sohn Harry, ein Jazz-Pianist, der seit 2002 mit seinem Vater auftritt. Die laufende Tour ist die letzte Etappe in Waters‘ Bemühen, das Floyd-Erbe für sich zu reklamieren. Es begann 1999 mit einer erfolgreichen Solo-Tournee, vor allem aber 2006 mit seinem „Dark Side Of The Moon“-Projekt, bei dem er – neben Floyd- und Solo-Material – das gesamte Album am Stück spielte.
Die Vergangenheit war immer ein großes Thema für ihn. Um 1946, als er drei Jahre alt war, erlebte Waters, wie die Väter anderer Familien aus dem Krieg zurück nach Cambridge kamen. Eric Fletcher Waters, sein eigener Vater, war zwei Jahre zuvor in der Schlacht um Anzio gefallen, aber Roger weigerte sich, das zu akzeptieren. „Meine Mutter erzählte mir, dass ich als Dreijähriger zu ihr sagte:, Ich werde nach Italien fahren und meinen Vater im Traktor abholen.‘ Sie sagte, dass sie nie einen so grimmigen Jungen wie mich erlebt habe. Sie versuchte mir zu erklären, dass ich ihn nicht mit dem Traktor abholen könne. Worauf ich meine Augen zusammenkniff und sagte:, Dann hol ich ihn eben mit dem Doppeldecker-Bus!‘ – und aus dem Zimmer lief. Man kann heute darüber lachen, aber damals war das unglaublich schmerzhaft.“
Der Verlust hat in Waters‘ Leben Spuren hinterlassen
In einem Beitrag für das Programmheft spricht er davon, wie ihn diese Trauer mit all denen verbindet, die einen ähnlichen Verlust durch den Krieg erfahren mussten – was wieder- um der Anlass gewesen sei, die Botschaft von „The Wall“ zu erweitern. Der psychische Schaden, den Pink davonträgt, steht für alle Blessuren, die das Resultat kriegerischer Auseinandersetzungen sind. Mehrfach werden im Verlauf der Show Fotos von Gefallenen auf die Mauer projiziert, die vom Publikum eingesandt wurden.
In den Video-Einspielungen gibt es zahlreiche Hinweise auf Israels West Bank. Einmal blitzt der David-Stern auf, während der Chor „Tear down the wall“ singt; bei „Goodbye Blue Sky“ sieht man, wie Flugzeuge Bomben abwerfen, die tatsächlich Symbole wie der islamische Halbmond oder das Shell-Logo sind. Dann fallen Juden-Sterne aus dem Flugzeug, gefolgt von Dollar-Zeichen. Als ich ihn frage, ob das nicht vielleicht als antisemitisch interpretiert werden könne, zuckt er die Schulter und sagt, dass das nicht seine Absicht gewesen sei. „Die Kriegstreiber machen unvorstellbare Gewinne“, sagt er, “ deshalb gibt es so viele Kriege. Diese Show schämt sich nicht, all die großen Fragen zu stellen, und der Erfolg, den ich gehabt habe, gibt mir die Möglichkeit, sie auf einer entsprechenden Bühne zu präsentieren. So wie Picasso, Guernica‘ malen musste, ist es meine Verantwortung, diese Produktion auf die Bühne zu bringen.“