Jenni Zylkas Typewriter: Piekst euch!
Eine Masernwelle spaltet das Land. Ob man impft oder nicht, ist zur Glaubensfrage geworden - die Gegner der Vorsorge tun so, als hinge die Demokratie davon ab
Das alter eines deutschen erkennt man nicht nur an Nasolabialfalten, Musikgeschmack und zweidaumigem SMS-Schreiben, sondern auch am Oberarm. Prangen dort blasse, rundliche Narben, wurde er vor 1976 geboren, wenn nicht, danach. Ab 1976 (in der DDR ab 1977) galten die Pocken nämlich als ausgerottet, die Pockenimpfung mit Lebendviren, die jene typischen Narben verursachten, wurde eingestellt. Über Impfschäden sprach man damals zwar auch, doch der Erfolg ließ die Kritiker verstummen: Bis auf die beunruhigende Tatsache, dass in Kühlschränken geheimer Labors ab und an hinter der Kaffeesahne ein paar Röhrchen mit lebenden Pockenviren entdeckt werden (dass die man nicht in Supervillain-Hände geraten!), ist die Welt zum Glück pockenfrei.
Masernfrei ist sie bekanntlich noch nicht. In den USA gab es 2014 nach fast masernfreien Jahren in einer aus religiösen Gründen ungeimpften Amishgemeinde über 600 Fälle und im Januar in Disneyland einen Ausbruch. Auf den Philippinen erkrankten im letzten Jahr über 55.000 Menschen. Auch in Berlin brach im Oktober letzten Jahres eine Masernwelle aus, bis Ende Februar wurden 652 Fälle gemeldet. Nun starb ein 18 Monate alter Junge an dem Virus. Seine Eltern hatten ihn (noch) nicht impfen lassen. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes darf nichts weiter über den Fall bekannt werden, aber es könnte sein, dass man einfach warten wollte, denn gegen andere Kinderkrankheiten war das Kind bereits geimpft. Die Masernimpfung wird jedoch erst ab einem Alter von etwa einem Jahr empfohlen, und es ist nicht ungewöhnlich, sondern absolut verständlich, dass Eltern sie zuweilen aufschieben, damit das Kind eventuelle Nebenwirkungen (Rötungen, Fieber) besser verträgt.
Die Diskussionen reißen seitdem nicht ab: Sollte man Eltern verpflichten, ihre Kinder impfen zu lassen? Aber muss man dann nicht auch Erwachsene verpflichten? Denn die tragen ein fast noch größeres Risiko. Von den heute 40-Jährigen ist nur ungefähr ein Viertel geimpft, unter den Jüngeren sind es noch weniger. Um die Masern komplett auszurotten, müssten 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Kann man eine solche Rate erreichen, wenn der Vorgang auf Freiwilligkeit beruht? Abgesehen davon werden die Impfkosten für Erwachsene zwar übernommen, aber sich mal eben beim Besuch des Kinderarztes mitimpfen zu lassen ist bislang schwierig.
Um zu überzeugen, müssen die Argumente auf beiden Seiten evaluiert werden, und schon sticht man in ein Wespennest: Impfkritiker wissen von Fällen, in denen Impfungen schwere Krankheiten auslösten, und verweisen oft auf von Homöopathen geschriebene Bücher über das Leben mit ungeimpften Kindern. Forscher, die Impfstudien durchführen, werden als Büttel der Pharmaindustrie diffamiert, keine einzige unabhängige, nicht aus wirtschaftlichen Gründen in Auftrag gegebene Untersuchung zu den Vorteilen von Impfungen gebe es, sagen die Impfskeptiker und übersehen dabei glatt aktuelle Veröffentlichungen beispielsweise von der Universität Würzburg, dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und dem Paul-Ehrlich-Institut, die sich alle klar für Impfungen aussprechen und die Risiken als eindeutig geringer bewerten als die von Masernerkrankungen und deren Spätfolgen.
Warum also zögern? Vielleicht aus einer vagen Wissenschaftsskepsis heraus, die unter Esoterik- und Homöopathie-Fans verbreitet ist und der mit Argumenten schwer beizukommen ist – wenn es um das eigene Wohlbefinden/Empfinden vs. Statistik geht, kann einem schließlich niemand etwas erzählen. Die fatalistische Aussage „Mein Kind ist nicht geimpft und hatte noch nie etwas“ lässt sich schwer entkräften, wenn an der wissenschaftlichen Methode der Informationsgewinnung selbst gezweifelt wird. Letzten Endes ist es wie mit dem Glauben: Wer ihn nicht hat, kann ihn nicht verstehen.
Vielleicht wird der Ernst der Lage auch unterschätzt, weil zumindest Menschen in den Industriestaaten eher selten an Masern sterben. Stattdessen gelten Masern als ungefährliche Kinderkrankheit. Der Songtext von „Everything Happens To Me“, der von Tom Adair geschrieben wurde, klingt vielen noch im Ohr: „I never miss a thing/ I’ve had measles and the mumps …“
Aber das ist lange her. Heute sollte kein Mensch mehr an Masern sterben oder andere durch Ansteckung gefährden. Vielleicht könnte man die Sache ausnahmsweise demokratisch regeln: Ist die Mehrheit für die sogenannte Durchimpfung, wird pflichtgespritzt. Denn dass Masern eine Gefahr darstellen, kann spätestens seit dem Tod des Berliner Kindes niemand mehr bestreiten.