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Die 50 wichtigsten Punk-Alben aller Zeiten – Teil 2
Eigentlich ist Punk ja eine Kultur der kurzen, schnellen Botschaften, der Single-Platten. In die Welt verbreitet hat er sich trotzdem über LPs – von den Steinzeit-Anfängen in den Sechzigern bis zu den ausdifferenzierten Genres der Gegenwart.
Dead Kennedys – „Fresh Fruit For Rotting Vegetables“ (Alternative Tentacles, 1980)
Die Erfindung des US-Agitpunk: Da ist Jello Biafras zynische Welt-Enträumungshymne „Kill The Poor“, die die Neutronenbombe als Lösung vorschlägt, um Arme zu entsorgen. „Holiday In Cambodia“, das zu bedrohlicher Gitarrendramaturgie vom Pol-Pot-Regime in Kambodscha und vom Westen, dem das egal ist, erzählt …
Dead Kennedys – „Fresh Fruit For Rotting Vegetables“ (Alternative Tentacles, 1980)
Die Erfindung des US-Agitpunk: Da ist Jello Biafras zynische Welt-Enträumungshymne „Kill The Poor“, die die Neutronenbombe als Lösung vorschlägt, um Arme zu entsorgen. „Holiday In Cambodia“, das zu bedrohlicher Gitarrendramaturgie vom Pol-Pot-Regime in Kambodscha und vom Westen, dem das egal ist, erzählt …
Die Hardcore-Version eines Flamencos namens „California Über Alles“, in der Biafra aus der Sicht des damaligen (und wieder aktuellen!) kalifornischen Gouverneurs Jerry Brown eine hippie-faschistische Zukunft vorhersieht. Das Kennedys-Debüt haut 14 Songs in 33 Minuten raus – und findet noch Zeit, um mit dem Vermieter abzurechnen („Let’s Lynch The Landlord“).
Copyright: Anne Fishbein/Michael Ochs Archives/Getty Images
Der KFC – „… letzte Hoffnung“ (Schallmauer, 1981)
Ins Publikum pinkeln oder Zuschauern auf die Fresse hauen: Als das erste Studioalbum der Düsseldorfer um Sänger Tommi Stumpf erschien, galt der KFC („Kriminalitätsförderungsclub“) schon als proletarische Outlaw-Bande. Auf dem Cover ein NSDAP-Plakat, drinnen wurde die Bundeswehr mit der Wehrmacht gleichgesetzt („Bremen 1980“) – es ging um maximale Verachtung („Alle Vollidioten tagein tagaus, sie wissen, für sie ist es längst aus …“) und Aggression, es war eine Kampfansage an den einfühlsamen oder polit-didaktischen Schunkelpogo-Konsens der Zeit: „Diese Welt ist scheiße, das ist nun mal so … Wir schlagen zurück, und alles geht kaputt.“ Das ist ein Wort.
The Exploited – „Punk’s Not Dead“ (Secret, 1981)
Niemand hatte einen schärfer geschnittenen Iro oder eine schöner ramponierte Stimme als Exploited-Sänger Wattie Buchan, niemand prügelte erbarmungsloser auf die Instrumente ein als die drei Mitstreiter des Schotten …
Ihr Debütalbum war ein Starkstrom-Aufschrei der zweiten Generation gegen die vermeintlichen Auflösungserscheinungen der Punk-Szene, Songs wie „I Believe In Anarchy“ oder „Exploited Barmy Army“ wurden zu Hymnen der Wut und Verzweiflung in den Thatcher-Jahren. Die Band schrie gegen Krieg und Armut an, gegen Dekadenz und die herrschende Ordnung. Dass sich Jahre später National-Front-Anhänger als Fans outeten, war damals nicht absehbar – und schmälert nicht die Bedeutung dieses großen Wurfs.
Copyright: Virginia Turbett/Redferns
Slime – „Slime 1“ (Raubbau, 1981)
Das Debüt der Hamburger bleibt die wichtigste deutsche Punk-LP – eine Standortbestimmung der neuen linken militanten Szene. Songtexte wie „Deutschland muss sterben“ oder „Wir wollen keine Bullenschweine“ klangen wie Demo-Slogans und wurden zu beliebten Szene-Gassenhauern …
Die – zeitweise – spätere Strafverfolgung mehrte Ruhm und Bedeutung von Slime, Konzerte endeten oft in Schlachten mit der Polizei, später auch in Prügeleien mit Fans, die ihnen aufgrund des Erfolgs den Ausverkauf vorwarfen. Politischer, radikaler und rotziger als die bekennenden St.-Pauli-Fans war hierzulande niemand. Und mit „Karlsquell“ schufen sie eine der schönsten Biersauf-Hymnen überhaupt. So viel Fun braucht auch der Polit-Punk.
Copyright: Moderne Musik
Black Flag – „Damaged“ (SST, 1981)
Ein Frontalangriff auf den Billboard-Rock, den Mythos Kalifornien und den American dream unter Reagan. Black Flag, durch ihr ikonografisches Logo längst zur Marke geworden, sägen an den sozial-moralischen Grundfesten der Gesellschaft: Nie zuvor war Punkrock antiautoritärer als in „Rise Above“ gewesen, vulgärer als in „Six Pack“ und „T.V. Party“ und von einem derartigen Egozentrismus durchsetzt wie in „Gimmie Gimmie Gimmie“:
„I need some more/ Gimme gimme gimme/ Don’t ask what for“, keift Henry Rollins. Vom Fan aus dem Moshpit hatte er es bis zum Sänger gebracht, den Spirit der Szene verkörperte er wie kein Zweiter. Drogen, Teenage-Angst, Delinquenz – laut „Damaged“ ist die amerikanische Jugend äußerst schadhaft.
Copyright: Erica Echenberg/Redferns
Bad Brains – „Bad Brains“ (Roir, 1982)
Eine Grundidee des Punk – das „Anything goes“, die Liberalisierung der Produktionsmittel, die Möglichkeit für absolut jeden, dabei sein zu können –verkörperte kaum eine Band so sehr wie die Bad Brains. Hoch virtuose Musiker und praktizierende Rastafaris, die sie waren, mischten sie im aggressiven, ultramaskulinen Klima der D.C.-Szene chilligen Roots-Reggae in ihren Hochgeschwindigkeits-Hardcore, abgerundet vom in Patois dargebotenen Schnappatmungs-Gesang von HR …
Die Bad Brains waren aus einer Jazz-Fusion-Band hervorgegangen und lehnten den Begriff Hardcore als Kategorisierung ab. Dennoch: Ihr ursprünglich nur auf Kassette veröffentlichtes unbetiteltes Debüt gehört bis heute zu den besten Alben des Genres.
Copyright: David Corio/Redferns
Crass – „Christ The Album“ (Crass, 1982)
Crass waren die Ultras der Bewegung. Das aus alten Hippies und jungen Punks bestehende Kollektiv verbreitete wie keine andere Band die Botschaft des Anarchismus. Zu den klassischen drei Akkorden und dem hämmernden Schlagzeug rotzt Sänger Steve Ignorant in gut zwei Minuten mehr aufrührerische Parolen heraus als andere Bands auf einem ganzen Album. „Christ – The Album“ ist das ambitionierteste Werk der Kommunarden aus Essex. Keyboarder Paul Ellis spielte vorher bei Hot Chocolate, doch Funk findet man nicht, eher abenteuerlichen Lärm. Zwischen den Stücken gibt es Schnipsel mit Radiomitschnitten, Zen-Gedichten und Zufallsgeräuschen. Das beiliegende Poster zeigte eine unter Kot begrabene Margaret Thatcher.
Die Toten Hosen – „Opel-Gang“ (Totenkopf, 1983)
Mit den Hosen von heute hat ihr Debüt wenig zu tun: Wie eine Schülerband rabaukten sie sich durch 15 schlichte Stücke – was kein Wunder ist, da zum Beispiel Sänger Campino ja gerade noch Abitur machte. Die stumpfe Hommage an die „Modestadt Düsseldorf“ und das berüchtigte „Hofgarten“ ließen noch nicht ahnen, wie clever die Band war, aber mit „Bis zum bitteren Ende“ hatten sie eine Hymne, die bis heute im Programm ist …
Die Unbeschwertheit, mit der hier jedes „Whoa-Oh“ geschmettert wird, konnten sie nie wieder erreichen. 20.000 Platten presste man damals auf dem Totenkopf-Label – optimistisch, zumal Punk 1983 schon abgemeldet schien. Bessere Platten folgten, doch ohne den Dampf von „Opel-Gang“ wäre es nie so weit gekommen.
Copyright: Bernd Muller/Redferns
Minor Threat – „Minor Threat“ (Dischord, 1984)
Ian MacKaye aus Washington war 13, als ihm auffiel, was das Kiffen und der Alkohol mit seinen Freunden anstellten. Bei einem Konzert der Cramps spürte er mit 16 die Kraft des Punkrock – und schor sich am nächsten Tag die Haare ab. Der kleine Skater mit der Glatze, der nur Cola soff und wie ein Kampfhund tobte, wenn er auf der Bühne stand: Warum MacKaye zur Symbolfigur des Hardcore wurde, hört man diesen Aufnahmen seiner frühen Band Minor Threat an. Die Platte (eine EP-Compilation) enthält „Straight Edge“ und „Out Of Step“: „Don’t smoke, don’t drink, don’t fuck – at least I can fucking think!“, singt er zur irre rasenden Musik und musste dann doch wieder erklären, dass er kein Dogmatiker sei. Später gründete er Fugazi.
Hüsker Dü – „Zen Arcade“ (SST, 1984)
Bisher hatten sie sich vor allem auf Krach verstanden und auf Provokationen wie die, aus dem Vietnamkrieg heimgekehrte Särge auf dem Cover zu zeigen. „Zen Arcade“ ist dagegen eine Explosion des Songwriting: Noch immer sind die Stücke kurz und überwältigend, doch deuten „Chartered Trips“, „Never Talking To You Again“ und „Pink Turns To Blue“ die Pop-Sensibilität von Bob Mould und Grant Hart an …
Agitprop war ihre Sache nicht: Mit Songs über Liebesleid, Depression, Drogensucht und Einsamkeit enstprachen Hüsker Dü durchaus dem Egoismus der Dekade. 1987 scheiterte die Band an der Heroinsucht von Grant Hart, „Zen Arcade“, das Doppelalbum, bleibt die gefühlige Bestie, die den Emocore vorwegnahm.
Copyright: Lisa Haun/Michael Ochs Archives/Getty Images
Minutemen – „Double Nickels On The Dime“ (SST, 1984)
Schon der Start der Band hat das Zeug zum Mythos. D. Boon fällt beim Spielen vom Baum, direkt auf Mike Watt. 1980 gründen sie die Gruppe, 1984 kommt diese Platte. Die Minutemen sehen aus wie Hillbillys und spielen wie Jazzer. Punk lebt zu der Zeit von maximaler Kompression, da nimmt die Band eine Doppel-LP mit 45 Songs auf. Über die Rhythmus-Studien von Bassist Watt und Drummer Hurley tänzelt oder walzt Boon mit Gitarre und losem Mundwerk. Politischer Postpunk, Funk-Rock, Country, spanische Gitarren – was für ein Ritt! „Our band could be your life“, singt Boon in „History Lesson Pt. 2“ – hier fand einer seine Bestimmung. 1985 stirbt er bei einem Autounfall.
The Fall – „This Nation’s Saving Grace“ (Beggars Banquet, 1985)
Die Erweiterung des Punk ins Gestern und Heute, in den Pop und die Avantgarde. Auf ihrem vielleicht besten Album (wer hat schon den Überblick?) „This Nation’s Saving Grace“ huldigen The Fall in „I Am Damon Suzuki“ den mittleren Can und machen unter Leitung von Brix Smith dem New Wave Beine – infektiöser, melodiöser, furioser waren sie nie. Und natürlich grantelt Mark E. Smith völlig unbeeindruckt seine Stegreif-Poesie über diese magischen Tracks. Einen Song zerstörte er sogar, als er aus Versehen auf den Aufnahmeknopf drückte und über einen bereits fertigen Song brabbelte – Ergebnis: „Paint Work“, die einzige unprätentiöse Sound-Collage der Popgeschichte.
Big Black – „Songs About Fucking“ (Touch&Go, 1987)
1978, bei Kraftwerk, war „The Model“ die dekadente Story vom Champagner-Aufreißer. 1987, in der Version von Big Black, ist der Song der eklige Monolog des Triebtäters, der die Kamera des Modefotografen zum Voyeurswerkzeug macht. Das schien die Mission des Trios aus Illinois zu sein: das vermoderte, wenig spektakuläre Böse ins Blicklicht zu zerren und dazu die metallischste, schleifstärkste Musik zu spielen. Auch Steve Albini, Journalismus-Student, ging es in seinen Stücken um die Außenseiter der Gesellschaft – um die, die sonst wenig Mitleid bekommen, die Mörder, Gestörten, Rassisten. Nicht zu glauben, dass er nebenher für Slint und die Pixies die lebendigsten Platten produzierte, die man sich vorstellen kann.
Bad Religion – „Suffer“ (Epitaph, 1988)
Es war vorbei, bevor es richtig losging. Bad Religion hatten sich vor ihrem dritten Album eigentlich schon aufgelöst, wegen Erfolg- und Orientierungslosigkeit. Sänger Greg Graffin wollte aufs College gehen, Brett Gurewitz noch mehr Crack rauchen. Dann fanden sie 1987 wieder zusammen, der eine machte doch erst 2003 seinen Doktor (in Evolutionsbiologie), der andere wurde zum Labelchef …
Nirvana – „Bleach“ (Sub Pop, 1989)
Ein Debüt, bei dem alle Voraussetzungen stimmten: von Jack Endino produziert, auf Sub Pop veröffentlicht. Denkt man heute so einfach, aber es war ja 1989 – Milli Vanilli und Madonna regierten die Charts, die größte Rockband waren Guns N’ Roses. Dann kam Grunge, und alles änderte sich. Bei „Bleach“ war es freilich noch nicht so weit, obwohl alles schon da war:
die rohen Gitarren, Kurt Cobains nörgelnder Gesang, die nihilistischen Texte. Er konnte einem mit „Negative Creep“ jeden Tag versauen, aber wenn er dann verzweifelt „About A Girl“ sang, musste man ihn lieben. Bei „Nevermind“ war die Mischung aus Wut und Melodieseligkeit perfekt, „Bleach“ ist dafür der geliebte kleine Racker, der nicht schuld war an allem, was danach kam.
Copyright: Paul Bergen/Getty Images
NOFX – „S&M Airlines“ (Epitaph, 1989)
„Wir wussten noch nicht, wie man mehrstimmig singt“, behauptete Sänger Fat Mike später, „deshalb kam Greg Graffin vorbei und sang bei drei oder vier Nummern mit. Das war ultracool.“ Auch am Mischpult saß ein Bad-Religion-Mann: Brett Gurewitz, der schon das NOFX-Debüt produziert hatte …
Die Kalifornier klingen also nicht zufällig wie lustige Brüder der Band, deren „Suffer“-Ernsthaftigkeit sie nun Albernheit entgegensetzen („You Drink, You Drive, You Spill“). NOFX kommen noch ohne poppige Hooklines aus, wildern beim Skate-Punk, Hardcore und Metal, verpassen „Drug Free America“ ein Zweiminuten-Intro, und Fat Mike hat nicht nur beim Fleetwood-Mac-Cover „Go Your Own Way“ Spaß daran, den Ton nicht zu treffen.
Copyright: Barry King/WireImage
Fugazi – „Repeater“ (Dischord, 1990)
„I’m not playing with you“, schwört Ian MacKaye im Song „Blueprint“: Laut und deutlich warben Fugazi um die Herzen der Punk-Kids, und viele folgten ihnen. MacKaye hatte das patriarchalische Gehabe und die stumpfe Konsumhaltung von Teilen der US-Hardcoreszene hinter sich gelassen – auf „Repeater“ kehrten endgültig die Ernsthaftigkeit und Selbstkontrolle der Straight-Edge-Bewegung in den D.C.-Sound ein…
Fugazi dekonstruieren auf dem Album die Punk-Hymne als solche und setzen sie derart neu zusammen, dass auch hier bald das Genre-Präfix „Post“ nötig wurde. Wegen der explosiven Spannung, der von Pose gänzlich abgelösten Heavyness und der Melodiesplitter gilt „Repeater“ als einer der ersten Vorboten von Emo.
Copyright: Martyn Goodacre/Getty Images
Nation Of Ulysses – „13-Point Program To Destroy America“ (Dischord, 1991)
Klar, dass belesene Bürschchen-Punks irgendwann den alten Style vermissen würden, die Brothers-and-sisters-Schwüre der MC5, die dunkelblaue Coolness von Coltrane. Kleidung sei heute das Einzige, über das man als entmündigter junger Mensch noch Kontrolle habe, schrieben Nation Of Ulysses ins Pamphlet zu diesem Album. Die Mischung aus Mode- und Revolutionsideal, dämonischer Energie und intellektuellem show-off, Punkrock und Free Jazz irritierte – weil keiner recht wusste, ob Ulysses eine radikale Partei oder eher ein Witz sein sollte. Das dürfte aber die Absicht von Mastermind Ian Svenonius gewesen sein, der die Band später in die Garagen-Soul-Gang Make-Up ummodelte.
Rancid – „Rancid“ (Epitaph, 1993)
Fast unfair, dass es das einzige Rancid-Album in unsere Liste geschafft hat, bei dem Gitarrist und Sänger Lars Frederiksen noch nicht an Bord war: Er stieß erst während der Tour zu diesem hinzu, bereicherte die Band ungemein …
Noch ohne ihn zelebrieren Tim Armstrong, Matt Freeman und Bret Reed auf „Rancid“ einen rotzigen, durchschlagskräftigen Streetpunk made in Berkeley, dem man die Vorbilder aus der kalifornischen Nachbarschaft deutlich anhört und – in Sachen Tempo – auch die Nähe zum Hardcore. Ska- und Reggae-Einflüsse lagen hier noch in weiter Ferne – manch einer wird sagen: zum Glück! Vor allem Armstrongs nasales Giften macht diese Platte so besonders, perfektioniert in „Outta My Mind“ und „Union Blind“.
Copyright: Martyn Goodacre/Getty Images
Green Day – „Dookie“ (Reprise, 1994)
„Dookie“ wird gern für das Debüt von Green Day gehalten – unter anderem, weil es wie ein klassisches Erstwerk klingt: als habe sich eine Menge Zeug angestaut, das endlich rausmuss. Im Fall von Sänger Billie Joe Armstrong war es jugendlicher Frust und viel Freude am Sich-selbst-Runtermachen …
Er dichtete unverdrossen über Masturbation aus Langeweile („Longview“), Liebe aus Angst vor Einsamkeit („When I Come Around“) und das allgemeine Gefühl, demnächst verrückt zu werden. Weil die Melodien so unwiderstehlich waren, kam er damit durch, und „Basket Case“ wurde ein Hit. Alle hatten plötzlich Zeit, dem „melodramatic fool“ beim Jammern zuzuhören. Lustiger wurde US-Punkrock nicht mehr, von The Offspring mal abgesehen.
Copyright: Catherine McGann/Getty Images
Social Distortion – „White Light, White Heat, White Trash“ (Epic, 1996)
Der Titel zitiert natürlich Velvet Underground, doch Mike Ness betonte dann vor allem den „White Trash“-Aspekt – und kam mit „I Was Wrong“ so weit in die Nähe eines Hits, wie ihm das möglich war. „It was me against the world, I was sure that I’d win/ The world fought back, punished me for my sins“, blökt er, und man ahnt:
Er hatte vielleicht unrecht, aber die Welt noch mehr. Dass Social D nie so richtig groß wurden, liegt vielleicht an ihrer Unentschlossenheit. Sie liebäugelten mit Rockabilly, häufiger mit Blues – nur normalen Punkrock wollte Ness nie machen. Mit „When The Angels Sing“ schrieb er sogar eine Hommage an seine Oma – kein klassisches Sujet in diesem Genre.
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Sleater-Kinney – „Dig Me Out“ (Kill Rock Stars, 1997)
Sie begannen als angriffslustige Riot Grrrls an der Seite von Bikini Kill und Team Dresch, spätestens mit „Dig Me Out“ kamen sie einer der wichtigsten Zielprojektionen der feministischen Jugendkultur sehr nahe: der Auflösung der alten Geschlechterhierarchie im Rock …
Sleater-Kinney spielen auf ihrem dritten Album mit zwei Gitarren und ohne Bass einen so leidenschaftlichen, technisch versierten und entfesselt produzierten Punkrock, dass selbst Typen wie Led Zeppelin in Deckung gegangen wären. „Dig Me Out“ ist ein Aufbruch: Corin Tucker, Carrie Brownstein und Janet Weiss gleiten aus der Riot-Schublade, finden den Pop im Punk und feiern im finalen „Jenny“ die Emanzipation: „I am the girl/ I am the ghost/ I am the wife/ I am the one.“
Copyright: Bob Berg/Getty Images
At The Drive-In – „Relationship Of Command“ (Grand Royal, 2000)
Und irgendwann verzweifelten die Geschichtsschreiber an den Begriffen, die sie selbst erfunden hatten: At The Drive-In, die Spargeltypen mit den Afro-Büschen, waren möglicherweise Post-Hardcore, vielleicht auch Emo – oder nur eine extrem aggressive Progrock-Band …
Stilistisch hatten sich alle Punk-Abkömmlinge um 2000 so weit übers Feld verteilt, dass man es einer Platte nicht mehr mit Sicherheit anhören konnte, wo sie hingehörte. At The Drive-In aus El Paso nahmen sich genau diese Freiheit heraus, ließen sich von Wut und künstlerischer Besessenheit treiben. Und traten mit ihrem dritten Album dann plötzlich auch bei Letterman auf. Klar, dass man sich danach trennen musste.
Copyright: Jason LaVeris/Getty Images
Die Goldenen Zitronen – „Lenin“ (Buback, 2006)
Vom Pogo-Spaß der „Am Tag, als Thomas Anders starb“-Jahre war längst nichts mehr übrig. Ausgerechnet die Goldenen Zitronen aus Hamburg führten exemplarisch vor, in welche unterschiedlichen Maßanzüge eine attitude wie Punk passen kann, wenn die Protagonisten älter warden …
Auf „Lenin“ zelebriert die Band mit Agitpop und Electroclash ihre Narrenfreiheit – und ist dabei subversiver und unbequemer denn je. Und theatertauglicher. Sänger Schorsch Kamerun, selbst an diversen Bühnen tätig, spielt in „Mila“ den manischen Souffleur, der sich selbst die Stichworte gibt: „Die Nummer der Auskunft, die könnt ihr euch selber merken, ihr Wichser!“ Ihr Evergreen „Für immer Punk“ passte nie schlechter und besser zugleich.
Copyright: Bettina Wolf
Gallows – „Orchestra Of Wolves“ (Epitaph, 2006)
Es gibt ein Video von Sänger Frank Carter, in dem er während eines Konzerts von der Bühne gezogen wird, sich im Graben prügelt, nach zwei Minuten und ein paar direkten Treffern wieder auf die Bühne kriecht, mit Blut im Mund in die Kamera grinst, sich das Mikro schnappt – und weitersingt. Einen Song später springt er dann wieder in die Menge …
Genau diese rohe Live-Energie war es, die das Gallows-Debüt zu einem Bestseller machte. Musikalisch eher Punk als Hardcore, erreichten sie mit durchaus extremen Songs wie dem Titelstück oder „In The Belly Of A Shark“ sogar das „NME“- und Indiepublikum, selbst Metalhörer fanden Berührungspunkte. Eine Konsens-Band? Seltsamerweise ja – obwohl Konsens anders klingt …
Copyright: Nigel Crane/Redferns
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