Anna Kim -"Anatomie einer Nacht"
Amarâq ist ein kleines heruntergekommenes Städtchen im wilden Ostgrönland, technologisch auf der Höhe und dennoch vorzivilisatorisch, von alten Eskimo-Mythen durchweht, wundergläubig. Wieder so ein Ende der Welt. Die Straßen verlieren sich im eisigen Nirgendwo, und mit ihnen die Menschen, die nicht wegkommen aus dieser schwarzweißen Vorhölle bzw. wieder zurückkehren, weil sie im fernen Dänemark auch nur als "dreckige Eskimos" separiert werden. Der Roman spielt in einer Spätsommernacht. Die eisigen Winde des Herbsts kündigen sich an, und mit ihnen eine Einsamkeit, die jeden infiziert, "der sie nicht leugnet, bis alle Bewohner Amarâqs den Keim einer tödlichen Krankheit in sich tragen". Es ist der spiritus loci selbst, der einen maßgeblichen Anteil zu haben scheint an dem Unglück, das hier unerbittlich seinen Lauf nimmt. Elf Menschen bringen sich um in dieser Nacht. Die Autorin erzählt polyperspektivisch vom Ende jedes einzelnen Opfers (und noch ein paar mehr), führt diese Handlungsstränge parallel, sich immer wieder gegenseitig unterbrechend, rekapituliert in Rückblenden ihre Lebensläufe bis zur Tat. So entsteht ein komplexes narratives Geflecht, das die spinnennetzartige Sozialstruktur dieses Todesortes abbildet. Jeder hängt hier zumindest mittelbar mit jedem zusammen, seine Geschichte ist immer auch die Geschichte Amarâqs, und so verleiht Kim allen diesen vermeintlichen Zufällen eine beinahe schon plausible Unausweichlichkeit. Wenn man sich das Unglück als eine Art Krankheit vorstellen kann, wie der Roman es vorschlägt, dann ist er ihre gründliche Autopsie. Sie verläuft letztlich aber auch ergebnislos. Bei der Komplexität dieses kollektiven Organismus kommt die Medizin nicht weiter, da hilft nur noch Schamanentum. Es zeugt von einer enormen erzählerischen Disziplin und einem hohen dramaturgischen Talent, wie sie all diese Handlungsfäden im Griff behält und den ausfasernden Stoff trotzdem in Form bringt. Das macht die mitunter etwas geschwätzige, anmaßend prätentiöse Diktion mehr als wett. (Suhrkamp, 19,95 Euro)
Text: Frank Schäfer
Foto:
Kyra Becker/ Suhrkamp.
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