Bald sind wir kalt
Zwischen analog und Alter: „Wie wir leben wollen“ ist das neue, zarte Manifest einer der letzten großen Bands des Landes. Denn in diesem Jahr feiern TOCOTRONIC ihr 20. Jubiläum. Ein paar Fragen hätten wir noch
Als Tocotronic den Raum betreten und sich an den langen Tisch setzen, herrscht heitere Stimmung: Bis auf den Bassisten Jan Müller tragen alle am folgenden Gespräch beteiligten Personen einen Bart! Dies passt ganz gut zum bald 20. Jubiläum dieser professionell uneindeutigen Band, die am 25. Januar ein hinreißendes Album veröffentlichen wird, das behaglich an die beiden besten Tocotronic-Platten, „K.O.O.K.“ (1999) und „Tocotronic“ (2002), erinnert.
Für Klangforscher sind die neuen Songs ein Fest, für paranoide Freunde von Zitaten und Verweisen sowieso: The Velvet Underground & Nico („Vulgäre Verse“), „Sympathy For The Devil“ („Exil“), Beach Boys (Dorit Chryslers Theremin!), Laurel Canyon (Rick McPhails Lap-Steel-Gitarre bei „Chloroform“),“Monaco Franze“ („Beim Wandern in Endzeit/ Als ewiger Stenz“), Robyn Hitchcock („Wir ordnen/ Neue Zonen/ Wo die Soft Boys/ Wohnen.“), Charlotte Rampling und Syd Barrett („Unter dem Sand“), Richard Rodgers, Federico Fellini, dazu Will Oldhams „I Tried To Stay Healthy For You“ („Ich will für dich nüchtern bleiben“) und Morrisseys „We Hate It When Our Friends Become Successful“ im Einstieg von „Die Revolte ist in mir“: „Erfolgreiche Freunde/ Geißel der Menschheit/ Erfolgreiche Freunde/ Pest der Existenz.“
Von diesen kleinen Freuden abgesehen, klingen die 17 auffallend feminin und aufreizend gesungenen, sehr detailreichen Stücke auf „Wie wir leben wollen“ einfach fantastisch: Nicht nur einmal mehr Verdienst des Berliner Produzentenkaisers Moses Schneider, sondern auch Werk und Tat einer analogen und äußerst seltenen Telefunken-T9-Vier-Spur-Tonbandmaschine aus dem Jahr 1958, die sich, wie Schneider herausfand, in Ingo Krauss‘ und Paul Lemps Candy Bomber Studio befand, in das Tocotronic dann auch gleich einzogen.
Trotz eines im Vergleich völlig anderen Produktionsansatzes sind sowohl das weiße „Tocotronic“-Album als auch „Wie wir leben wollen“ eindeutig eher Pop als Rock, wobei der Rock in „Die Revolte ist in mir“ oder „Höllenfahrt am Nachmittag“ keine festen Umrisse hat: Er wirkt angenehm formlos, warm und dahingeworfen, und kaum eine Zeile beschreibt die Protokolle und Fallbeispiele (nicht: Erzählungen) auf „Wie wir leben wollen“ in seiner Gesamtheit besser als die Worte der Weisheit in „Neue Zonen“: „Wir haben/ Weiche Ziele/ Wir sind/ Plüschophile.“ Sänger Dirk von Lowtzow wirkt – wie eigentlich immer – völlig aufgeräumt und redefreudig. Jan Müller assistiert, führt aus und verästelt, Arne Zank und Rick McPhail reden etwas seltener, folgen der zweistündigen Konversation aber gespannt und interessiert.
Die Art und Weise, wie sich die neuen Songs auf der Platte ausbreiten, scheint mir angenehm unrockig und, sagen wir mal: schwächlich, im positivsten Sinne. Ich hatte schon beim ersten oder zweiten Hören die Assoziation zu Jackson Pollocks „Unformed Figure“ im Kopf, wo man ja zuerst auch überhaupt nicht weiß, wie sich die Farben und Formen zueinander verhalten, wie sie untereinander kommunizieren.
Dirk von Lowtzow: Dass das Soundbild, wie du sagst, ein bisschen schwächlich klingt, liegt sicherlich an der Art der Produktion, an der massiven Verwendung von Hall, Delay, Echos und so weiter. Das und der Sound dieser analogen Vier-Spur-Maschine führen natürlich zu so einer Weichheit. Und so sollte es auch sein.
Jan Müller: Einer der größten Unterschiede zu den drei letzten Alben besteht meiner Meinung nach darin, was mit Dirks Gesang passiert ist. Einerseits ist das eine Frage der Aufnahmetechnik, andererseits sind die Stücke einfach wunderbar gesungen. Der Gesang ist produzierter als auf den letzten Platten und deshalb wirkt er auch anders – von dem maoesken großen Sprung nach vorn, den er gemacht hat, mal abgesehen.
Dirk von Lowtzow: Wir haben sehr viel Wert darauf gelegt, eine wirkliche vocal production zu machen, was wir bei den drei letzten Alben, die mit sehr wenigen Overdubs auskamen, dezidiert nicht getan haben. Da war die Idee schon so, die Band beim Live-Spielen einzufangen, das heißt, es war kein Gesang gefragt, der überproduziert ist. Bei den vielen, teilweise sehr intensiv geschichteten Overdubs auf „Wie wir leben wollen“ musste man auch mit dem Gesang anders verfahren: Deshalb gibt es sehr viele Gesangsdopplungen, es gibt Chöre von Julia Wilton, Michaela Meise und Arne, der Gesang wurde insgesamt viel mehr bearbeitet. Es ist eben im weitesten Sinne Popmusik, und Pop braucht dann eben auch eine Vocal-Produktion wie diese. Die drei Platten der „Berlin-Trilogie“ gehören für uns von der Idee, die dahintersteht, und von der Produktion her zusammen, das fühlte sich an wie ein fortlaufendes Ding, das einer bestimmten Dramaturgie folgte. Das Album jetzt ist noch mal ein neuer Beginn in Bezug darauf, wie man sich als Band definiert.
Also vielleicht ein wenig so wie zu Zeiten von „K.O.O.K.“?
Arne Zank: Damals wollte man ja auf eine Art mit etwas abschließen, mit dem man sich tatsächlich nicht mehr so wohl gefühlt hat – und das ist bei der Platte jetzt ja ganz anders. Jetzt hatte man einen Anspruch an sich selbst, der durch die letzten Alben ganz schön hoch geworden ist. Aber das hatte eher etwas Aufmachendes, positiv Gedachtes: Was war, war super, und jetzt muss man eben noch mal gucken, in welche Richtungen man weitergehen kann. Deswegen auch die Sache mit dieser Vier-Spur-Bandmaschine: Ein bisschen Risiko, mal gucken, ob es klappt. Sich selber fordern.
Welchen Einfluss auf die Platte hatte denn das sagenumwobene Vier-Spur-Gerät aus Großmutters Zeiten?
Jan Müller: Das ganze Studio hatte wesentlichen Einfluss auf den Klang. Moses Schneiders Idee war die einer Vier-Spur-Aufnahme mit einer alten Vier-Spur-Maschine mit dickem Band, wie sie die Beatles schon benutzt haben. Das zweite Herzstück dieses Studios ist ein Mischpult der Deutschen Grammophon aus dem Jahr 1956. Das wurde mal für mobile Klassikaufnahmen gebaut. Da hängt noch eine Aura von Karajan und Co. dran. Das ganze Studio wird ja von zwei Sammlern betrieben: Paul Lemp ist eher für spezielles amerikanisches Equipment zuständig, und Ingo Krauss hat viel deutsche Technik gesammelt: Das geht bei irgendwelchen Vorverstärkern aus den 40er-Jahren schon los. Dank Moses‘ Inspiration haben wir dieses Studio so radikal genutzt wie keine Band zuvor.
Arne Zank: Das ganze Album ist auf dieser Maschine aufgenommen, es ist also nicht nur ein Effekt.
Jan Müller: Nur die Overdubs sind in einer moderneren Weise aufgenommen worden. Es hat uns jetzt nicht so interessiert, wie eine Surf-Band aus den frühen 60er-Jahren zu klingen. Wir wollten einfach die klanglichen Vorteile dieser Art der Aufnahmetechnik nutzen, aber auch Sachen aus unserer Zeit mit einbringen. Der Mix von Michael Ilbert war dann noch mal was ganz anderes, mit anderem Equipment: eher auf Transistoren als auf Röhren basierend.
In einigen Stücken ist ein Theremin zu hören.
Jan Müller: Das Theremin ist zwar sicher nicht das ungewöhnlichste Instrument der Welt, aber ein ganz tolles. Auch die Geschichte des Theremins ist faszinierend, also dass es zuerst als eine Art sowjetisches Propaganda-Instrument beworben wurde. Was ich auf dieser Platte wirklich exotisch fand, war das Chordun, das Ben Lauber gespielt hat: Das habe ich vorher noch nie gesehen.
Der Sound von „Wie wir leben wollen“ klingt ja auch schön verwaschen, unscharf und undeutlich. Habt ihr euch zuletzt – wie man es beispielsweise von „Explosion“ kennt – wieder viel mit Shoegazer-Bands beschäftigt? Oder doch eher Beatles- und Beach-Boys-Platten gehört?
Rick McPhail: Also ich höre im Moment eher viel Psychedelic.
Dirk von Lowtzow: Es handelt sich eher um eine Koinzidenz: Es kam dieses große Buch „Recording The Beatles“ raus, wo die ganzen Tricks dieser Engineers enthüllt wurden. Und die remasterten Beatles-Platten, wo man die einzelnen Spuren hören konnte. Für Moses als Produzent war es eben ein Traum, mal auf diese Art zu arbeiten. Es gibt ja auf der Welt nur noch vier oder fünf dieser alten Vier-Spur-Maschinen, und zufälligerweise war dieses Studio eben im Besitz von einer. Da haben wir gesagt: Lass uns das machen. Natürlich kennen wir alle diese alten Platten …
Jan Müller: Es war jetzt aber nicht so, dass wir alle plötzlich wieder im Beatles-Wahn waren. Wir haben halt bei der Vorproduktion viel Beatles, Beach Boys und so gehört, aber eher analytisch, so von wegen: „Aha, was wird denn da gemacht und wie?“
Arne Zank: Und das Schlagzeug wurde komplett in Mono aufgenommen.
Nach etwa einer halben Stunde muss ich an Matthew Caws denken, der vor seiner Zeit bei Nada Surf als Musikjournalist arbeitete und mir einmal von einem Gespräch mit Lou Reed berichtete, welcher eine ganze Stunde lang ausschließlich über Technik und Equipment reden wollte. Dies kann bei einer Audienz mit Tocotronic freilich nicht passieren, allein schon deshalb, weil ich von beidem nicht die geringste Ahnung habe und, während ich die neue Platte hörte, immer bloß dachte: Ach, diese apokalyptischen Engel mit ihren labyrinthischen, undurchschaubaren, unauslotbaren Klängen und Geräuschen: Ich werde ja doch nie begreifen, wie all das entsteht und aufgenommen wird. Doch ich könnte das Gespräch als Gehilfe in eine andere Richtung leiten, über Qual, Ergebenheit und Zuversicht reden, über Protokolle und Gedichte. Denn handeln die neuen Lieder nicht auch von einem ewigen Dualismus?
Durch die Texte von „Wie wir leben wollen“ ziehen sich die Themenkomplexe Körper und Befreiung. Ist damit die Befreiung der Seele vom Körper gemeint? In einem Song wird der Körper auch als Hülle bezeichnet, der zwei Menschen trennt. Im Idealfall sollte die Seele eines mehr oder weniger funktionierenden Menschen ja den Körper vitalisieren und organisieren. Wenn ich Teile der Texte richtig lese, dann wird zuweilen das Ziel angestrebt, diese Ordnung der Dinge aufzugeben, sich gleichsam zu „ergeben“.
Dirk von Lowtzow: Die Idee ist, vom Körper aus zu denken. Es geht ja immer darum, was in einen eindringt und einen seelisch beeinflusst. Mich hat aber interessiert, wie sich das im Körper manifestiert. Wie manifestieren sich Vorgänge nicht in der Seele, sondern im Körper? Diese Idee einer Innerlichkeit, die interessiert mich nicht so. Das ist bei mir eine ähnliche Abneigung wie gegen Authentizität oder so was wie „Die Gefühle – das wahre Ich“ und so weiter. Ich finde es viel interessanter zu fragen: „Was ist der Körper?“ Der Körper ist etwas, das man permanent mit sich rumschleppt, was einem aber trotzdem total fremd ist. Man merkt das ja zum Beispiel bei Krankheiten, bei jedem Schnupfen: Das ist doch eigentlich ein total fremdes Wesen, dieser Körper. Deshalb fand ich es als Thema so interessant, dass man vom Körper her denkt und nicht von der Seele. Ich will einfach innen und außen vertauschen. Es geht auf dieser Platte einfach viel um körperliche Sachen und Reaktionen, es gibt viele Begriffe, die mit dem Körper zu tun haben. Was einen halt sonst nicht so interessiert, sonst würde man ja auch ständig denken: „Wie geht’s mir heute? Wie fühle ich mich?“
Was tut mir gerade weh? Stimmt, und die ganzen Liebeslieder handeln ja auch immer bloß vom Seelenzustand dessen, der sie geschrieben hat.
Dirk von Lowtzow: Genau. Das meine ich damit, ganz banal. Ich kann’s auch nicht so gut beschreiben. Feelings, Gefühle und so. Aber was ist, wenn es ist wie eine Grippe? Es gibt doch in „Die Revolte ist in mir“ auch die Zeile „In meinem Körper nisten die Viren“.
Gab es denn einen bestimmten Anlass dafür, dass dich als Songschreiber dieses Thema so interessiert hat?
Dirk von Lowtzow: Alter. Man wird alt. (lacht) Man spürt den Körper, man ist in einem Alter, das einen mit der Vergänglichkeit konfrontiert. Wo Menschen sterben, wo Angehörige sterben. Oder, das klingt jetzt so blöd, „Gebrechen“ oder Krankheiten haben. Oder Süchte. Man stellt im eigenen Umfeld fest, dass es so etwas eben gibt. Das hat einfach mit dem Lebensabschnitt zu tun.
Arne Zank: Das hat was mit 40 plus zu tun.
Dirk von Lowtzow: Und oft nähert man sich so einer Thematik einfach an, das nistet sich halt so ein, man kann das gar nicht richtig steuern. Und da kann man dann drauf aufbauen. Man lernt ja beim Schreiben auch etwas über sich selbst.
Ist Texte schreiben für dich harte Arbeit, Dirk?
Dirk von Lowtzow: Ich finde ja dieses Zitat der französischen, feministischen Literaturwissenschaftlerin Hélène Cixous, das besagt, dass Schreiben eine Höllenfahrt und der Einstieg dazu der eigene Körper ist, sehr gut. Ich finde, es ist nicht so eine schwere Arbeit, es ist nicht anstrengend, dafür aber eine ziemliche Höllenfahrt.
Es geht auf dieser Platte auch viel um die Freuden der Inhaltslosigkeit, der Eigenschaftslosigkeit, Sprachlosigkeit, auch darum, die Kontrolle abzugeben, einen Stellvertreter für sich selbst zu engagieren.
Dirk von Lowtzow: Das ist ja eben der andere Themenkomplex auf dieser Platte. Das ist die Befreiung. Es ist ja die totale Befreiung, wenn man jemand anderen was für sich machen lässt. Aber nicht im Sinne von: „Hol‘ mir mal einen Kaffee!“, sondern so wie: Jemand lebt das Leben für einen.
Also eine Utopie.
Dirk von Lowtzow: Ja, das ist sicherlich auch eine Utopie.
Eine Utopie, verehrte Leser und Leserinnen, ist auch, dass dieser Text in ödester und redundantester Form dazu dienen könnte, die schönsten, seltsamsten und unheimlichsten Momente aus knapp 20 Jahren Bandgeschichte abzuwickeln: Erstens mag man Dirk von Lowtzow nur ungern mit nostalgischen Exkursen quälen, zweitens hatten Tocotronic zu keiner Zeit einen sogenannten Karriereplan, der es erforderlich machen würde, hier ganz Nickelback-mäßig einzelne Stationen des Erfolges („Tocotronic – Vom ersten zu engen Werbe-T-Shirt zur Nummer eins in Deutschland“) abzuklappern. Frage deshalb lieber nach Artwork und Albumtitel.
Wer hat die Wörter „Wie wir leben wollen“ so hübsch auf das Cover gekritzelt?
Jan Müller: Das hat eine Dame namens Elsa Bablitzka gemacht. Sie ist 1994 gestorben, also fast zu dem Zeitpunkt, an dem wir als Band angefangen haben. Allein das in Zusammenhang mit dem Wort „Leben“ zu bringen, fand ich schon interessant. Ich habe diese Dame während meines Zivildienstes betreut und eine Brieffreundschaft mit ihr geführt. Ich habe immer noch einen Stapel Briefe von ihr. Sie schrieb ganz außergewöhnliche Briefe zwischen Wut, Trauer und Verzweiflung, in diesem ganz irren Schriftbild. Wir haben versucht, das auf unseren Titel zu transferieren. Uns war klar: Wenn wir die Platte „Wie wir leben wollen“ nennen, kann das nicht mit irgendeiner beknackten Computerschrift aufs Cover geschrieben werden.
Diese vier Vokabeln (die Frau Bablitzka übrigens nie in genau dieser Reihenfolge geschrieben hatte) sollten sich auch ineinander verzahnen. Das Wort „Leben“ haben wir in Großschrift belassen – einerseits, weil es dieses Wort in ihren Briefen nicht in Kleinschrift gab, andererseits, weil es eine gewisse Dringlichkeit herstellt. Ich habe das montiert, und die Bandkollegen fanden das Ergebnis ebenso gut wie ich.
Es kommt mir so vor, als würde das Titelstück suggerieren, dass man durch Kunst lernen kann, wie man leben will. Das wäre ein so schöner wie tröstlicher Gedanke.
Dirk von Lowtzow: Wenn man diesen Gedanken durchspinnt, hat das sehr viel mit einem selbst zu tun, gerade im Bereich Popmusik. Denn so habe ich Pop, der einen berührt, immer aufgefasst. Es soll ganz dezidiert nichts Autoritäres sein, keine Vorschrift, aber vielleicht kann man davon lernen, wie man leben will. Dabei finde ich es auch so hübsch paradox, dass man davon lernen kann, wie man leben will. Und Musik kann man ja inhalieren und in sich vervollkommnen. Viel stärker noch als Filme oder Bildende Kunst berührt einen Musik ja ganz unmittelbar und wird ganz stark Teil des eigenen Lebens.
Ein wunderbarer Song, der nach und nach immer stärker ins Hysterische kippt, ist „Vulgäre Verse“. Bei Teilen der Strophe dachte ich sofort: „Femme Fatale“, The Velvet Underground & Nico.
Dirk von Lowtzow: Wie ging denn „Femme Fatale“ noch mal? (singt) Da-da-da…da-da-da-da da-da… (lacht) Eigentlich sehe ich da keine Ähnlichkeit, aber egal.
Jan Müller: Ich bin sehr empfindlich, was so etwas betrifft. Vielleicht hast du recht, aber mir ist es tatsächlich noch nicht aufgefallen.
Rick McPhail: Aber die ersten beiden Akkorde bei „Femme Fatale“ sind ja auch diese: Dang-deng-dang …
Jan Müller: Man kann aber auch Musik, die man hört, nicht immer ausklammern, da kommt dann bestimmt zwangsläufig was rein. Bei „Chloroform“ ist auch was von „These Days“ drin. Also diesen Einfluss, den gibt es halt.
Nicht nur „Vulgäre Verse“, sondern auch „Im Keller“ und bestimmte Passagen von „Auf dem Pfad der Dämmerung“ haben so etwas Abschließendes, da riecht es schon nach Karriereende. „Bald bin ich kalt“, „Jetzt bin ich verblüht“, „Ich will im Swimmingpool ertrinken“, „Ich geistere zurückgezogen/ In möbliertem Revier“ – ich sehe da gleich Norma Desmond aus „Sunset Boulevard“, Margo Channing in „All About Eve“ oder Colleen West aus „Shit Year“ vor mir. Jedenfalls irgendeine alternde Schauspielerin, die nur noch mit ihren Katzen spricht, die zu Hause im Ohrensessel sitzt und auf das Ende wartet.
Dirk von Lowtzow: Das hat schon so etwas Abschließendes.
Jan Müller: Zumindest stimme ich dir darin zu, dass „Vulgäre Verse“ ein außergewöhnliches Stück ist. Und es ist ja vielleicht auch so ein Spiel: Was daran ist autobiografisch und was nicht? Da wird ja so eine narzisstische Regulationskrise beschrieben. Aber andererseits steht der Text ja in Anführungszeichen, was das Autobiografische, was er haben könnte, schon wieder infrage stellt – durch jeweils nur zwei kleine Striche bei den Strophen.
Dirk von Lowtzow: Gerade „Vulgäre Verse“ ist sehr theatralisch. Das ist, wie du sagst, schon so eine Figur wie bei „Sunset Boulevard“, oder Marlene Dietrich oder so. Dass man nur noch zu Hause sitzt und nachts telefoniert, und über den Balkon huscht man wie so ein Geist. Also dieses Sich-Hineinträumen in eine alternde Diva. Eigentlich ein Bild, was wir schon mit Ingrid Caven im Video zu „Im Zweifel für den Zweifel“ bemüht hatten. Es ist aber eben auch ein ganz starkes, faszinierendes Bild und passt natürlich sehr schön zu so einer fiktiven, erschwindelten oder halb wahren Geschichte.
Jan Müller: Ich finde das bei dem Stück ganz spannend – wo man doch immer so viel über Authentizität redet. Man kann natürlich sagen: Ach, hier wird jetzt also mal Marlene Dietrich herbeizitiert, man kann es aber auch so sehen: Jemand war ordentlich feiern, und danach packt einen das schlechte Gewissen oder das Über-Ich.
Wenn man das Stück oft genug hört, muss man irgendwann auch wahnsinnig lachen über diese totale Verzweiflung, diese Übertreibungen.
Dirk von Lowtzow: Das soll bei uns eigentlich immer so sein. Manche Stücke beginnen als Tragödie und enden als Komödie, und manchmal ist es umgekehrt. Ich finde, dieses Kippen zwischen den Genres muss schon immer sein, denn sonst wird es blöder Kitsch.
Jan Müller: Aber es ist wirklich sehr schwer, über so etwas zu reden. Ich glaube, es ist wichtig, dass es immer noch einen Bezug gibt, denn sonst wären das ja alles reine Fingerübungen. Woody Allen ist ja auch deshalb lustig, weil in diesem Humor immer auch eine Tragik drin ist. Deshalb kommt man auch zu so einer Verzahnung verschiedener Genres.
Dirk von Lowtzow: Aber es gibt natürlich auch ganz klar autobiografische Hintergründe dieser Sachen. Doch die sind so schlimm oder so schön – die geben wir nicht preis.
Dirk, ist es vorstellbar, dass du irgendwann einmal zu der Art von Texten zurückkehrst, die man von den ersten drei Tocotronic-LPs kennt?
Dirk von Lowtzow: Für mich ist das oft gar kein so großer Unterschied. Rein von der Struktur her erinnert zum Beispiel ein Text wie „Im Keller“ daran. Aber grundsätzlich möchte ich überhaupt nirgendwohin zurückkehren! Ich spreche jetzt nur für mich, aber ich kann Nostalgie und Rückschau überhaupt nicht ertragen. Ich halte das nicht aus. Und deshalb stellt sich für mich die Frage auch nicht. Das ist wie diese Frage: „Möchtest du noch einmal 20 sein?“ Ich weiß es nicht. Ich nicht, ehrlich gesagt. Und auf meine Texte bezogen würde das ja implizieren, dass es da den einen Stil gab und es jetzt diesen anderen Stil gibt. Aber dass sich die Texte verändern, hat sich einfach sehr natürlich ergeben, so wie sich auch die Musik sehr natürlich verändert hat. Das wäre ja grauenvoll und die absolute Horrorvorstellung, wenn man sich als Band hinsetzen und sagen würde: „So, und jetzt brauchen wir noch ein Sauflied, und dann noch eins von der Sorte …“
In dem Song „Exil“ gibt es sowohl musikalisch als auch textlich Verweise auf die Rolling Stones. Was bedeuten euch die Stones und findet Ihr, sie sollten aufhören?
Jan Müller: (lacht) Ich habe die Rolling Stones – die Stones, wie wir Kenner ja sagen – mal per Zufall live gesehen, auf der Hamburger Trabrennbahn. Ich fand’s ein bisschen traurig, weil viele Leute da waren, die beim Schauen auf die Bühne ihrer Jugend nachgeschaut haben, flankiert von irgendwelchen Würstchenbuden. Aber die Stones selber haben mir sehr gut gefallen. Ist zwar auch schon ein paar Jahre her, aber die sollen sehr gerne noch so lange weitermachen, wie sie Freude daran haben. Und es schien mir, als hätten sie noch große Freude.
Ganz provokativ gefragt: Sind sie als Recording Artists heute noch relevant?
Rick McPhail: Es gibt genügend Leute, die weiterhin neue Stones-Platten kaufen, die kennen auch nichts anderes und bleiben halt treu, die sind nicht enttäuscht und finden das weiterhin gut – Hut ab! Ich fand es schon bei dem Scorsese-Film schwierig, dass sie so viele neue Lieder gespielt haben. Aber Mick Jagger tanzt da immer noch wie ein Wilder rum, vielleicht hat er orthopädische Turnschuhe an.
Dirk von Lowtzow: Ich habe ein wahnsinniges Problem mit dem Begriff „Relevanz“.
Arne Zank: (lacht) Vielleicht sind wir nach 30 Jahren auch nicht mehr relevant.
Dirk von Lowtzow: Das geht ja schon mit diesen Verschwörungstheorien los, diese alte, kitschige Geschichte: Die müssen jetzt ihre neue Platte promoten und spielen deshalb die neuen Stücke oder so. Diesen Relevanzbegriff finde ich wirklich schwierig. Auf der anderen Seite muss ich auch sagen, es gibt viele Leute, die so rumgeistern im Feuilleton, wo man denkt: „Ich möchte jetzt einfach überhaupt nicht mehr, dass darüber berichtet wird.“
Als mir 1995 ein Freund „Digital ist besser“ aus einer Hamburger Karstadt-Filiale mitbrachte, dachte ich nicht im Traum daran, dass das Feuilleton jemals über diese (damals noch drei) Hänger in den Flugzeugsitzen berichten würde. „Die hörst du allein mit deinen zwei Freunden“, dachte ich, und: „Hoffentlich dürfen die wenigstens noch ein zweites Album machen.“ Aber wie gigantisch waren diese 18 Songs und wie viel bedeuteten sie mir. Ich hatte mich geirrt, schon hauten Tocotronic in Guided-By-Voices-Manier Album um Album raus.
1997 lernte ich Dirk von Lowtzow bei einem bizarren, dreieinhalbstündigen Interview vor dem Hamburger Golden Pudel Club kennen. 1999 voluntierte ich unter einem Decknamen bei L’age D’or und promotete „K.O.O.K.“, schon da war eins zu eins vorbei. Ich blieb Fan, aber eher aus der Ferne, ohne Götzendienst und Trainingsjacke. Zu jeder neuen Platte führte ich ein Interview, das lustigste mit Dirk allein, per Fernsprechgerät: Die Flucht vor der Chimäre „Seitenscheitel-Trainingsjacken-Typ auf Lebenszeit“ gelang auf eindrucksvolle Art und Weise. Von Lowtzow bereicherte seine Texte nun um Elemente aus Fantasy, Science Fiction und Zauberei – die größten Realisten und Befindlichkeitsfanatiker verließen enttäuscht das Gebäude.
Tocotronic aber schreiten weiter voran: Dirk von Lowtzow verschickt seine Texte nicht mehr per Fax, es werden bis zur Veröffentlichung von „Wie wir leben wollen“ 99 Thesen (die sich allesamt so oder so ähnlich in den Texten wiederfinden) verbreitet und im neuen Song „Abschaffen“ wird sogar der Tod annulliert.
Was für eine wundervolle, unerhörte Idee!
Dirk von Lowtzow: Als Grundvoraussetzung dafür, eine Utopie zu denken, muss der Tod abgeschafft werden, sagt Adorno. Das ist die Voraussetzung für alles. Und diesen Gedanken finde ich total interessant. Das Stück schwebt permanent zwischen zwei Sphären: Einerseits einem Sprachgebrauch, der aus dem theologischen Bereich kommt, andererseits einem, der der marxistischen Terminologie entstammt.
Jan Müller: (grinst) Und dann noch ein bisschen Vulgärsprache dazu – fertig! Aber wirklich: Wie Dirk zwischen diesen beiden Polen das Wort „Scheiße“ reinknallt, das hat mich echt fasziniert. Wobei ich hinterher feststellen musste, dass es mittlerweile Usus ist, solche Begriffe in Popsongs zu verwenden. Letztens im Elektromarkt lief so einer, von Xavier Naidoo oder so – ich kann diese Fritzen nicht auseinanderhalten -, wo im Refrain das Wort „Scheiße“ vorkam!
Dirk von Lowtzow: Komisch. Na ja. (lacht) Man kennt das Zeug halt nicht. Man tut wohl auch besser daran.
Wie steht ihr denn eigentlich einem Phänomen wie Unheilig gegenüber?
Jan Müller: Damit habe ich mich zu wenig beschäftigt. Mich interessiert ja Schlager sehr, aber nicht diese Art von Schlager. Ich mag dann lieber Vicky Leandros. Ich bin da ein bisschen altmodisch.
Dirk von Lowtzow: Man hat zwar schon mal ein Plakat oder Ähnliches gesehen, doch ansonsten ist das an mir vorbeigegangen.
Arne Zank: Ich fand diesen großen Erfolg gar nicht so erschreckend oder erstaunlich, da diese Art von Musik doch eigentlich schon seit Jahren wahnsinnig erfolgreich ist. Wobei es bei solchen Sachen wieder erstaunlich ist, wie viele Leute dann doch noch CDs kaufen. Aber klar, das ist schon gut gemacht. Der Mann und die Produzenten, die dahinter stehen, die können was.
Jan Müller: Der Mann ist angenehmer als Joachim Witt. Der mal so schöne Lieder gemacht hat wie „Kosmetik“, das ja nicht umsonst Fassbinders Lieblingslied war. Und dann jetzt so was Blödes.
Arne Zank: Man selbst sagt sich dann ja auch: „Das muss ich nicht hören.“
Gibt es eigentlich einen Grund dafür, dass „Wie wir leben wollen“ auf den ersten Blick keinen so überlangen, epischen Crazy-Horse-Track wie „Eure Liebe tötet mich“ enthält?
Jan Müller: Ach, es wäre ja langweilig gewesen, das zu wiederholen. Ich finde „Abschaffen“ episch, ich finde „Vulgäre Verse“ episch, ich finde auch „Warm und Grau“ episch. Dieses Neil-Young-Mäßige hat uns diesmal nicht so interessiert.
Es liegt aber nicht daran, dass du Neil Young nicht magst, Jan, oder?
Jan Müller: Arne und ich sind in der Band die Anti-Neil-Young-Fraktion.
Arne Zank: (lacht) Da herrscht eine gewisse Skepsis!
Jan Müller: Ich komme auch langsam auf den Geschmack und habe mir sogar schon Neil-Young-Platten gekauft.
Ein Dichter muss sich glühend, glanzvoll und freigiebig verschwenden, und wer schreibt, der begibt sich – wie Franz Xaver Kroetz es ausdrückte – in einen manischen Zusammenhang mit sich selbst. Und dann sind wir auch noch an einen Körper gefesselt, von dem uns Welten trennen? Von dem wir oft nicht wissen, wie wir mit ihm kommunizieren können? „Wie wir leben wollen“ ist ein erster Schritt, eine sanfte Revolte, etwas, das uns ruft, doch nichts verlangt.
Tocotronic haben exklusiv für den ROLLING STONE die CD „Live 1993 – 2012“ zusammengestellt – mit bisher unveröffentlichten Aufnahmen aus 20 Jahren. Die CD gibt es nicht im Handel, sondern nur mit dieser Ausgabe.