Herbert Grönemeyer – „Es fühlt sich wieder richtig an!“
Wut und Aufbruchstimmung: Das neue Album "Schiffsverkehr" bringt einen Grönemeyer zurück, wie man ihn lange nicht mehr gehört hat. Im Rolling Stone spricht er über den Neustart, über Afghanistan und Westerwelle - und seine Filmpläne.
Herbert Grönemeyer zu sein, das muss sich oft anfühlen, als wäre man zwar schon eine Art deutsches Denkmal – und dürfte trotzdem seine Tage nicht gemütlich auf dem Sockel verbringen, wo man gepflegt mit Tauben und Touristen abhängen könnte. Sondern müsse weiter jeden Morgen zur Arbeit gehen.
Unser Mann aus Bochum, wohnhaft in London und Berlin und vom 12. April an 55 Jahre alt, macht sich darüber freilich kaum Gedanken. Aber man kann halt noch so tolle Hits und Hymnen haben, von „Currywurst“ bis „Stück vom Himmel“, von „Was soll das?“ bis „Der Weg“, man kann noch so große Stadien beglücken und von noch so vielen Deutschen auf der Straße erkannt werden: Der Ruhm steht immer zur Disposition, das mussten von Lindenberg bis Westernhagen schon so einige spüren. Und wenn „Die Zeit“ dann schreibt, wie 2007 zur letzten Platte, dass ein neues Grönemeyer-Album „wie die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten“ sei – dann ist das nur vordergründig ein Kompliment. Denn so eine Weihnachtsansprache kann auch mächtig in die Hose gehen, und am nächsten Tag reden die Menschen darüber.
„12“, die Veröffentlichung von damals, war erwartungsgemäß eine Nummer eins, verkaufte eine knappe Million Stück, ungefähr so viele Zuschauer sahen anschließend seine Sommertour. Und trotzdem hinterließ die letzte Grönemeyer-Saison keinen komplett souveränen Eindruck. Nach dem triumphalen „Mensch“ von 2002 – das mit 3,15 Millionen Exemplaren die bestverkaufte Platte aller Zeiten in Deutschland ist, noch vor ABBA und Phil Collins – und der Rückkehr des Künstlers aus der kreativen Pause, in die ihn der schockierende Tod seiner Frau Anna im Jahr 1998 geführt hatte, musste natürlich jeder Nachfolger leicht abfallen. Aber zusätzlich blieb das komische Gefühl, dass Grönemeyer bei „12“ weder musikalisch noch textlich hundertprozentig klar war, was er sagen wollte. Zur Lage der Nation und überhaupt.
Jetzt, rund vier Jahre später, ist wieder alles anders. „Schiffsverkehr“, sein insgesamt 13. Album (Rezension siehe Seite 70), steckt voller Songs, die man schon beim ersten Hören als schlüssige Hits erkennt (und einem, „Lass es uns nicht nicht regnen“, in dem der Herbert sogar ernsthaft swingt), und dreht sich in den Texten so viel um Aufbruch, den Mut zur Einsamkeit und die Chancen der Liebe, dass man nach dem Ende des elften Stücks „So wie ich“ am liebsten sofort losgehen und ein Segelboot klauen würde – wenn da nicht doch noch ein zwölftes käme. Auf der CD versteckt hinter rund zehn Minuten Stille, tröstlich und dramatisch: „Tief im Herbst drin/ Liegt ein Neubeginn.“
Grönemeyer, in Jeans und schwarzem Langarm-T-Shirt, brillant gelaunt, bisschen väterlich, bisschen spitzbübisch, verteilt ein Lob: Den verborgenen Song haben längst nicht alle entdeckt, dabei sei er aus allerbestem Grund auf der Platte. Wenn einer eine Geschichte erzählen will, dann ist kein Kapitel zufällig da.
Lassen Sie uns gleich über den Hidden Track reden. Warum musste der noch unbedingt mit drauf?
Ich wollte immer einen Song über den November schreiben. Bei der Produktion für das Album „Bleibt alles anders“ hatte ich sogar schon einen fertigen Text: „Schafft ihn ab, den November, das Leben ist schon schwer genug.“ Eine andere Zeile hieß: „Wer jetzt nicht stirbt, der stirbt nie.“ Der ist aber nicht veröffentlicht worden, weil meine Frau gesagt hat: „Was ist das denn für ein Müll?“ Meine Frau und mein Bruder sind später beide im November gestorben.
Was ist mit dem alten Text passiert?
Der ist weg. Der liegt in einer Schublade irgendwo, wenn überhaupt. Wahrscheinlich habe ich ihn weggeschmissen. Aber der November hat mich lange schon beschäftigt. Meine Mutter hat immer gesagt, wir reden den Monat nur so grau, eigentlich entsteht da das neue Leben, die Knospen, die im Frühjahr aufgehen. Und auch wenn die Nummer jetzt etwas düster klingt, der Text ist ja lustig.
Beim ersten Hören denkt man ein bisschen an Guns N‘ Roses, die hatten ja „November Rain“ …
Echt? Ich dachte eher an Metallica, so etwas in der Richtung. Auf jeden Fall musste die Nummer unbedingt untergebracht werden, deswegen der Hidden Track. Das Stück wird man wunderbar live spielen können.
Warum fanden Sie den November so besonders?
Das hat mit Deutschland und der Religion zu tun. Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag, das geht den ganzen Monat so. Ich war ein fröhliches Kind, aber im November dache ich immer: Mann, diese ganzen Toten! Deswegen wollte ich mich damit auch ein bisschen albern auseinandersetzen.
Als Sie klein waren, wie sahen diese Festtage aus?
Ich musste auf jeden Fall in die Kirche. Ich war ein relativ strikter Kirchgänger. Mein Vater war ein ziemlich ungewöhnlicher Calvinist, ein Protestant in einer durch und durch katholischen Gegend. Dafür wurde er im Münsterland immer gehänselt.
Ein richtig strenger, todernster Protestant?
Nein, im Gegenteil, er hatte etwas sehr Schwelgerisches und war eine ausgesprochene Frohnatur. Der stand morgens in der Unterhose im Garten und rezitierte die Bibel oder sagte Gedichte auf. Ganze Heine-Gedichte oder Werke von Hermann Hesse. Aber wir mussten immer in die Kirche. Da war es aber sehr lustig, da hat immer ein Chor gesungen, und an Weihnachten wurden Krippenspiele aufgeführt.
Eine lustige protestantische Kirche? Das ist doch ein Widerspruch in sich.
Ja, das war aber bei meinem Vater dasselbe. Calvinisten sind normalerweise eher karg, wie die Kirchen. Aber mein Vater, der wahrscheinlich am liebsten Pfarrer geworden wäre, war vor Lebensfreude gar nicht zu bremsen. Dabei hatte er nur einen Arm, war in Stalingrad gewesen und hatte seinen Vater im Alter von vier Jahren bei einem Grubenunglück verloren. Mein Opa war Bergwerksdirektor, und als es einmal einen Gas-einbruch gab, ging er sofort runter. Er war auf der Stelle tot. Aber mein Vater war trotz der Schicksalsschläge eine Inbrunst an Lebensfreude.
Waren Sie auch bibelfest?
Nein, aber zumindest habe ich ja immerzu die ganzen Predigten gehört. (lacht)
Wie erleben Sie den November heute, nach all den Ereignissen?
Ich gehe nicht mehr in die Kirche, aber durch meine Geschichte kriegt der November natürlich eine eigene Farbe. Darüber wollte ich immer schreiben. Es geht auch um dieses Gefühl des Alleine-durch-die-Welt-Gehens, das sich durch die Platte zieht. Und das geht auch, man kann sich auch alleine wohlfühlen.
Es geht auf „Schiffsverkehr“ viel um das Gefühl des Aufbruchs, das Vorstoßen in unbekanntes Terrain. Die See-Metapher zieht sich konsequent durch das Album. Sind Sie ein Seebär?
Also, ich habe auf jeden Fall einen Hochseeschein.
Echt? Wie lange schon?
Ach, lange. 15 oder 20 Jahre? Das ganze Ruhrgebiet schwappt im Sommer immer an die Küste. Auch diese ganze Kriegsgeneration hat ihre Kinder entweder in Belgien oder in Holland an der Küste ausgeschüttet. Seitdem ich denken kann, hatten wir in Holland auf Walcheren einen kleinen Bungalow.
Was hat Sie am Meer fasziniert?
Ich habe das Wasser kommen und gehen sehen. Die großen Schiffe, die hinausfahren und dann diese unendliche Weite, wo kein Ende abzusehen ist – das alles fand ich als Kind schon klasse.
Und wie kam die See ausgerechnet auf diese Platte?
Das war einfach ein Zufall. Michael Ilbert, der Mixer aus dem Hansa-Mixroom, hat uns in das Stockholmer Studio von Benny Andersson von ABBA vermittelt, und das liegt mitten in der Stadt am Wasser auf einer Halbinsel, an der die dicken Pötte vorbeifahren, Skeppsholm heißt das. Überall wimmelt es dort vor Schiffen, das ist ein Gefühl von Freiheit, wunderbar.
Aber Benny hat nicht bei der Produktion mitgewirkt, oder?
Nein, aber eine wahnsinnig nette Assistentin hatten wir. Das war Lynn, 21 Jahre alt, die fanden wir ganz hinreißend. Die spielte auch Gitarre und Bass und sang. Der haben wir irgendwann gesagt: „Du singst jetzt auch mal.“ Und jetzt singt sie bei „Schiffsverkehr“ die hohe Stimme und auch bei „Unfassbarer Grund“. Die war hinreißend. Und der haben wir natürlich die ganze Zeit zu imponieren versucht, weil wir dachten, wir müssen zeigen, was wir für tolle Hirsche sind.
Sie komponieren immer erst die Stücke, danach kommen die Texte. Wussten Sie bei der Aufnahme der Musik denn schon, dass diese Schiffs- und Meermetaphorik der rote Faden wird?
Nein, das kam einfach. Es ging auch um einen neuen Ansatz: Hör auf, darüber nachzudenken, was war, jetzt ist Punkt null. Es geht nach vorne, aus. Das hat sicherlich auch private Gründe. Ich wollte mich Musik wieder so nähern wie in den Achtzigern, wie bei „Bochum“ oder „Sprünge“. Natürlich deutlich älter und eben auch nicht mehr Achtziger, aber ich wollte wieder einfacher und klarer arbeiten, nicht so verkopft. Also: ein Stück schreiben, einen Text schreiben, fertig, aus, das nächste.
Das Album ist tatsächlich, das können wir bestätigen, von einer großen Leichtigkeit und Frische und verbreitet diese fast jugendliche Aufbruchstimmung …
(lacht) Danke, danke, genug, ich brauche eine Pause.
Die Platte klingt wenig abgebrüht und altersweise, im positiven Sinne. Es heißt eher: „Lass die Vergangenheit hinter dir.“ „Die Dämonen sind begraben.“ Hatten Sie den Eindruck, da musste ein Schlussstrich gezogen werden?
Die 90er-Jahre waren für mich eine komplizierte Zeit. Der Einfluss der privaten Geschichte, meine Frau ist 1990 krank geworden, das beeinflusst dich natürlich sehr, die Aufarbeitung hat viele Jahre gedauert. Aber es ist dann auch mal gut, wie wir im Ruhrgebiet sagen. Ich dachte: Jetzt hast du das für dich selber geklärt, auch nach außen hin. Ich wollte wieder ein normales Verhältnis zur Musik haben, ein unkompliziertes, natürliches Verhältnis, und jetzt fühlt es sich wieder richtig an. Ich habe schon sechs Stücke für die nächste Platte geschrieben. Es geht wieder.
Bei Ihrem letzten Album „12“ hatten Sie nicht den Eindruck?
„Bleibt alles anders“, „Mensch“ und „12“ waren so etwas wie eine Trilogie. Vor „Bleibt alles anders“ habe ich meinen Produzenten Alex Silva kennengelernt, das war großartig, das wurde eine tolle Platte. „Mensch“ ist das Ergebnis unserer weiteren Zusammenarbeit und natürlich meiner privaten Geschichte, und „12“ – die ist nicht schlecht, aber unter viel Spannung entstanden. Meine größte Angst war jetzt, dass ich eine Platte mache, die weiter ausfranst, also wie so ein Aufguss quasi. Da habe ich gesagt: Nein, das war’s jetzt. Schluss. Wir müssen uns der Musik unverkrampft nähern, kurz, knapp, nach vorne. Und als ich dann den Soundtrack zu Anton Corbijns Film „The American“ gemacht habe, merkte ich schon: Die Musik kommt. Plötzlich fließt es, es kommt aus einem Guss.
Können Sie eine solche Stimmung bewusst schaffen?
Nein. Das ist genau das Nervenzerrüttende. Aber ich bin in die Platte mit sehr viel Vorfreude gegangen, weil ich so glücklich war, dass „The American“ so funktioniert hat. Zuerst wollten sie mich ja gar nicht in Amerika für die Filmmusik.
Sie mussten sich richtig bewerben. War das nicht seltsam?
Nein, das fand ich gut, ich fand das lustig. Anton Corbijn konnte mich vorschlagen für den Soundtrack, aber nicht einfach so durchsetzen. Wir hatten vereinbart, dass wir es probieren, Ausgang ungewiss.
Wie sah das konkret aus?
Wir hatten einen conference call, und dann sagten die Amerikaner: „Ja, was haben Sie denn bisher gemacht?“ Die kannten meine Website, aber für die in L.A. ist das natürlich so, als wenn einer aus Usbekistan singt. Da haben die gesagt: „Pfff, was sollen wir mit dem? Es tut uns schrecklich leid, wir haben hier schon zwei Leute im Auge. Aber wir würden Ihnen gerne mal drei Szenen schicken.“ Zum Glück haben sie mir die schwersten geschickt, den Anfang, das Ende und etwas aus der Mitte.
Um wie viele Minuten ging es?
Das waren zwölf oder 15 Minuten, die zentralen Stellen.
Wie lange haben Sie gebraucht? Gab es eine Deadline?
Weiß ich nicht, ich glaube, es waren zehn Tage. Und dann waren sie ganz begeistert – und mir hatte es irre Laune gemacht. Da merkte ich schon, da geht was.
Das war vor der Aufnahme des Albums?
Ja. Zwei Nummern von „Schiffsverkehr“ kommen in dem Film übrigens vor. Einmal singt eine Sopransängerin den Chorus, aber nicht die Strophe. Das ist praktisch meine erste Sopranarie überhaupt, die heißt auf dem Album „Seelengruß“.
Eines der wenigen Stücke, in denen es um die Vergangenheit geht. Wenn wir bei der Zeile „Dein Seelenreich fehlt so sehr“ an „Du fehlst“ aus „Mensch“ denken, ist das kein Zufall, oder?
Nein. Wobei das jetzt nicht nur an meine Frau gerichtet ist. Es geht um diese melancholischen Sekunden im Leben, wenn man an Menschen denkt, denen man einmal sehr nahe stand, wo es richtig geknackt hat in einem Moment. Das ist eines meiner Lieblingsstücke, ich mag das sehr, sehr gerne. Tja, das ist wohl der Blues auf dem Album, würde ich sagen.
Die Fragen, auf wen kann man sich wirklich verlassen, auf welchen Freund, auf welche Liebe, mit wem trotzt man den Wagnissen des Lebens, auch jenseits etablierter Regeln, wer geht mit einem hinaus in die Fremde – darum geht es immer wieder.
Ja, das stimmt. Auch dieses Freundschaftslied „Kreuz meine Wege“ ist durch solche Überlegungen entstanden. Ich saß wutentbrannt zu Hause, leicht angetrunken, und hatte mich gerade wahnsinnig über jemanden aufgeregt, der mich eigentlich sehr gut kennt und mir sehr nahe steht. Ich dachte nur: Verdammter Mist, warum müssen wir uns das Leben immer so schwer machen? Warum? Alex, mein Produzent, hat mal gesagt: „Wenn ihr Deutschen abends essen geht, rettet ihr zusammen die ganze Welt und geht danach alle deprimiert nach Hause. Wenn wir Engländer abends essen, sind alle tierisch gut drauf und gehen betrunken nach Hause!“ Das meine ich, diese Lebenslust, die will ich spüren. Und nicht dieses überflüssige, nervtötende Klein-Klein.
Genau dieses Sich-immer-noch-aufregen-Können, das Nicht-Altersweise, das Nicht-Resignative lässt das Album so dynamisch und jung wirken. Steckt dahinter ein Konzept?
Das klingt viel zu planerisch. Ich merkte einfach, diese oder jene Nummer muss noch drauf. Das wusste ich bei dem November-Stück, das wusste ich bei dem Freundschaftslied. Es gab aber beispielsweise auch noch einen Text über die Arroganz des Westens, dass der Westen am Ende ist mit seiner Weisheit und es nicht wahrhaben will: „Egal, wie du heißt, egal, welcher Hund dich beißt, keinen interessiert deine Haut, und die Welt ist laut.“ Das Stück passte später aber nicht mehr zu dem Rest.
Wird der Westen erst auf dem nächsten Album abgeschrieben?
Vielleicht. Ich will damit nur erklären: Es steckt kein Konzept dahinter, sondern ich denke, das erzählt sich dann irgendwann auch selbst. Das kriegt eine eigene Dynamik. Ich merke irgendwann, es passt oder eben nicht. Es gibt Leute, die arbeiten sehr strukturiert, und es gibt andere, die arbeiten halt mehr aus so einer Wucht heraus. Und ich arbeite eher so.
Das Stück „Fernweh“ erinnert vom Grundgefühl her an eines Ihrer Stücke aus den 80er-Jahren, „Jetzt oder nie“. Der Song ist damals zu einer Protesthymne geworden, als es gegen Pershings und AKWs ging: „Es tut so gut, wenn dir die Seele brennt, du auf die Straße rennst und du zeigst, es geht dir nicht gut“. Interessanterweise trifft dieser Geist auf der neuen Platte auf einen neuen, ähnlichen Geist in der Republik: Es wurde gegen „Stuttgart 21“ und den Castor demonstriert. Ist die Stimmung vergleichbar?
Ich denke, es gibt diese Aufbruchsstimmung, und es gibt diesen neuen Mut und diese neue Wut. Das steckt auch in meinem Freundschaftslied „Kreuz meinen Weg“ drin. Dass man durchaus für Krawall gebürstet ist. Die Phase des leichten Vor-sich-hin-Dämmerns scheint vorbei. Die Leute mischen sich wieder ein. Das hat was von den Achtzigern, stimmt. Gut so.
Manche reden abfällig von den „Wutbürgern“, die sich überall ereifern, weil sie zu bequem geworden sind und nur noch klagen können …
Das ist mir zu billig. Wer sich auf die Straße setzt, ankettet und protestiert, der ist nicht bequem. Das linke oder grüne Bewusstsein in Deutschland ist nur dadurch entstanden, dass die Leute auf die Straße gegangen sind. Wenn man beispielsweise aus dem Atomausstieg aussteigt, werden die Leute halt sauer. Ich finde Wut nach wie vor wichtig.
Wenn wir schon über die 80er-Jahre reden, müssen wir dringend noch ein paar Fragen zu einem Großereignis einfügen, bei dem Sie auch auf der Bühne standen, dem Anti-WAAhnsinns-Festival 1986 bei Wackersdorf, wo eine Wiederaufbereitungsanlage entstehen sollte.
Hilfe! (brüllt) Oh Gott! Nein! Also los, fragt mich!
Warum? Was war da los?
Ja, weil es das Konzert war – die totale Realsatire.
Sie haben später von der „Bankrotterklärung der deutschen Musikszene“ gesprochen. Warum?
Also kurz zusammengefasst: Es ging darum, dass wir ein Konzert spielen, um Gelder einzunehmen, damit die Autonomen, die gegen die Wiederaufbereitungsanlage gekämpft hatten, ihre Prozesse zahlen können. Das war die Idee …
Und dann wurde es irgendwie sehr schwierig …
Ich will gar nicht in die Details gehen, aber es ging drunter und drüber. Plötzlich sollten auch noch eine Platte und ein Kinofilm gemacht werden, dafür waren aber gar nicht die richtigen Leute oder die richtige Ausrüstung da. Die Bayerische Landesregierung wollte zunächst nur 40.000 Leute zulassen für das Gelände, es kamen dann aber, glaube ich, über 140.000. Ein absolutes Chaos. Die Catering-Frau wollte sich mit einem Sack mit 500.000 Mark mit vorgetäuschtem Herzinfarkt im Krankenwagen aus dem Staub machen. Da haben alle gesagt: „Rück sofort die Kohle raus!“ Es war der nackte Irrsinn. Und dann gab’s noch den sogenannten Film: Wir sehen völlig hemdsärmlig aus. Konzeptlos gefilmt, ohne Liebe und Verstand. So schnell war noch kein Film aus dem Kino. Ein Desaster durch und durch, es blieben nur 50.000 DM übrig, und die mussten noch versteuert werden. Danach gab es auch nie wieder eine solche konzertierte Aktion der deutschen Musikszene.
Das Politische kommt auf dem neuen Album etwas versteckt. „Auf dem Feld“ heißt ein Song, in dem es eindeutig um die verzweifelte Situation eines Soldaten im Einsatz geht. Aber das Wort Afghanistan wird nicht erwähnt.
Ich wollte von Anfang an versuchen, darüber ein Lied zu schreiben. Über diese merkwürdige Situation, dass deutsche Soldaten wieder in einem Krieg sind. Dass sie dort ihr Leben riskieren und gar nicht richtig wissen, warum sie überhaupt da sind. Und dass es zu Hause eigentlich überhaupt keinen interessiert.
Sie sind in England zu Hause, aber auch in Deutschland. Sind das auch Ihre Soldaten, die da in Afghanistan sind, die deutschen Soldaten?
Ja, sicher. Weil es Deutsche sind, sind sie einem sicherlich noch einen Zacken näher. Aber grundsätzlich ist das ein Soldatenlied, das diese eigenartige Situation beschreibt – wie das ist als Soldat, wenn man irgendwohin geschickt wird, um zu kämpfen, in ein Land, das man nicht kennt, fern der Heimat, die selbst gar nicht direkt angegriffen wird.
In Deutschland wurde es als großer Fortschritt empfunden, als der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg zum ersten Mal das Wort „Krieg“ für den Einsatz in den Mund nahm. Es wurde geradezu als Befreiungsschlag angesehen. Ging es Ihnen auch so?
Nein! Und egal, wie man es nennt, ich halte das für ein Absurdum. Wir haben da nichts zu suchen. Das ist einfach Schwachsinn. Würde mein Sohn dort fallen, ich wüsste nicht, was ich machen würde. Ich glaube, ich würde zum Terroristen werden oder Amok laufen.
Gegen Castor und „Stuttgart 21“ wurde heftig protestiert. Wenn die gefallenen Deutschen nach Hause kommen, bleibt es sehr ruhig. Niemand demonstriert wirklich gegen den Krieg, niemand empört sich. Wie erklären Sie sich das?
Das ist ein völliger Widerspruch, stimmt. Vielleicht, weil das so abstrakt bleibt. Fast wie eine Geheimaktion. Man weiß gar nicht, was ist das eigentlich. Es ist kein Vietnam-Krieg, aber es gibt auch keine klaren Fronten, es wird auch nicht jeden Tag geschossen. Ich habe gerade „Skateistan“ gesehen, den Film über eine Skateboardschule in Kabul, den hat Kai Sehr gemacht, der auch mein Video gedreht hat …
… der übrigens kürzlich in Berlin bei „Cinema For Peace“ prämiert worden ist …
Und der zeigt eben das Leben in Kabul, das so vor sich hin läuft. Gleichzeitig herrscht dort irgendwie Krieg. Es ist eben nicht richtig zu fassen. Man kann die Geschehnisse schwer auf den Punkt bringen. Aber es ist falsch, dass wir dort sind, das ist klar.
Wenn Anne Will Sie zu einer Diskussion zum Afghanistaneinsatz einladen würde, mit Merkel vielleicht oder dem neuen Verteidigungsminister, würden Sie hingehen?
Ich weiß nicht, was ich da soll.
Warum nicht?
Ich will da nicht mitreden, mich macht das fertig.
Aber Sie haben doch viel zu sagen zu dem Thema.
Ja, ich sage das ja jetzt hier. Diese Sendungen sind mir zu sehr durchkalkuliert. Jeder muss da im Studio seine Rolle spielen, das ist alles schwer erträglich.
Sie beobachten die deutsche Politik auch von außen, von England aus. Wie wirkt jemand wie der deutsche Außenminister auf den im Ausland lebenden Grönemeyer?
Für mich ist Westerwelle eine von den ganz merkwürdigen Personen: Die existieren nicht. Er mag ein reizender Mann sein, aber in seiner Funktion ist er absolut inexistent. Über den kannst du dich noch nicht mal ärgern. Der ist so blass, dass er einem wirklich schon fast leidtut.
Sie unterstützen „Deine Stimme gegen Armut“, waren bei den Veranstaltungen rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm sehr präsent, reden aber im Gegensatz etwa zu Bono oder Bob Geldof nie mit Politikern direkt. Warum eigentlich?
Ich vertrete eher diese westfälische Partisanentechnik. Ich denke, Rockmusik oder Kunst muss gefährlich sein. Das Sich-gemein-Machen mit der Politik funktioniert für Künstler nicht. Der frühere Finanzminister Eichel hat interessanterweise einen Brief unterschrieben, als es um das G8-Treffen in Rostock ging, und hat da auch eingestanden, dass er damals den Schuldenerlass nicht unterschrieben hätte, wenn es „Deine Stimme gegen Armut“ nicht gegeben hätte. Das hat mich sehr berührt.
Wie radikal waren Sie als junger Mensch?
Ich bin Jahrgang 1956 und komme aus einer hochpolitischen Zeit. Meine beiden Brüder waren in der Kommunistischen Partei, an der Bochumer Uni ging’s auch gut zur Sache. Die Rote Armee Fraktion bildete sich, als ich Jugendlicher war. Es gab in Bochum X Organsationen: KPD, Roter Morgen, Grüner Morgen, Gelber Morgen, Aufgehende Sonne, KPE, KPW, DKP, ein Wahnsinn.
Und Organisationen waren nicht Ihr Ding?
Absolut nicht. Ich fand das zu verkopft, zu ideologisch, zu verbiestert, zu weltfremd. Ich habe mich auch später immer eher als Trommler gesehen, der Musik und den Leuten damit vielleicht Mut macht.
Die Musik für „The American“ war nach langer Abstinenz Ihr erster größerer Kinoeinsatz. Anton Corbijn hat schon angedeutet, dass er Sie gerne noch mehr in diese Richtung drücken will. Sind Sie beim nächsten Film wieder dabei?
Ja, die Absprache ist, wenn er wieder einen Film dreht, schauspielere ich auf jeden Fall – wenn es zeitlich passt. Es gab ein Projekt, das wurde aber wieder verschoben, da hätten wir in Hamburg gedreht. Jetzt macht er zunächst einmal die Bühne für uns für die Tour.
In Corbijns Film „Control“ hatten Sie auch schon eine sehr schöne, kleine Szene …
Wir haben oft darüber gesprochen, dass er Filme drehen sollte, was er nie wollte. Die Absprache war schließlich, ich helfe ihm bei der Finanzierung seines ersten Film – also „Control“ – dafür muss ich eine kleine Rolle übernehmen. Deswegen durfte ich am letzten Tag noch diesen Arzt spielen. Das war sehr nett.
Sie haben wieder richtig Lust auf eine Filmrolle?
Ich denke, ich könnte gut wieder einen Film drehen, ja. Aber jetzt kommt erst einmal die Tour.
Eine Tour ist eine große körperliche Anstrengung. Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Nächste Woche geht’s los. Ich werde Fahrrad fahren, Pilates machen und eine Diät. Ich will natürlich gut aussehen auf der Bühne. Man hat ja einen Ruf zu verlieren. (lacht)
Wie viele Wochen dauert so ein Programm?
Rund drei Monate. Das macht man aber auch nur, weil man ein Ziel vor Augen hat. Man braucht die Kondition.
Die Tournee ist für Sie das Entscheidende, die neuen Lieder machen Sie im Prinzip nur, damit Sie neuen Stoff für die Bühne haben. Richtig?
Das stimmt ein bisschen. Ich fände es langweilig, wenn ich wüsste: Ich gehe auf Tour und spiele wieder das gleiche Zeug. Da muss neues Material sein, das mich fordert und auf das ich mich freue. Das ist die Frage bei jeder neuen Platte: Wird die so gut, dass du sie auch selber gerne spielst?
Und? Wie schneidet „Schiffsverkehr“ bei diesem Test ab?
Da freue ich mich auch selber schon drauf! Die macht wirklich Laune, ja.
Zum Schluss noch eine hochinteressante, wenn auch nicht ganz frische Zahl, die wir gefunden haben: Die Online-Partnervermittlung ElitePartner hat 2009 weibliche Singles in Deutschland befragt, mit wem sie gerne einen Abend verbringen würden. 50 Prozent aller Befragten haben angegeben: mit Ihnen!
Das ist schön. Aber davon würde ich strengstens abraten.
Herberts Weg
Bei all den Plattenrekorden vergisst man oft: Herbert Grönemeyer, 1956 in Göttingen geboren, ist eigentlich ein Kind des Theaters. Schon mit 20 war er musikalischer Leiter am Bochumer Schauspielhaus, stand auch auf der Bühne, arbeitete mit Meis-tern wie Peter Zadek und Jürgen Flimm. Und obwohl „Das Boot“ seine bekannteste Filmrolle bleibt, machte er 1982 als Robert Schumann in Peter Schamonis „Frühlingssinfonie“ neben Nastassja Kinski die noch bessere Figur. Nach dem Erfolg mit den Alben „Bochum“ (1985) und „Sprünge“ (1986, seiner ersten Nummer eins) war klar, dass die Popkarriere den Vorzug erhalten würde.
Infos: www.groenemeyer.de