Einsame Tänzer
Die Bilder des deutsche Filmemachers und die Musik des japanischen Jazzers gehen in „Pina“ eine magische Verbindung mit den Choreografien von Pina Bausch ein. Wir luden die beiden Künstler zum Gespräch.
Sie haben sich nur einmal kurz auf dem Dach eines Hauses die Hand geschüttelt, während über ihren Köpfen ein Feuerwerk den Tokyoter Himmel erleuchtete, doch in ihrer Arbeit hatten Wim Wenders und der japanische Jazzmusiker Jun Miyake schon sehr intensive Berührungspunkte. Die im Sommer 2009 verstorbene Leiterin des Tanztheaters Wuppertal, Pina Bausch, hat die Musik des Trompeters, der schon Musik für Robert Wilson und Oliver Stone schrieb und etwa mit Arto Lindsay, David Byrne und Grace Jones kooperierte, und die Bilder des Autorenfilmers quasi aus dem Jenseits zusammengeführt.
Wenders und Bausch planten schon seit sie sich Mitte der Achtziger kennenlernten ein gemeinsames Projekt, doch erst nachdem der Filmemacher 2007 U2s Konzertfilm „U2-3D“ gesehen hatte, hatte er eine Idee, wie sich Bauschs kraftvoll-poetische Choreografien auf der Leinwand realisieren ließen – es brauchte die dritte Dimension. Zwei Tage vor dem 3-D-Probedreh in Wuppertal starb die Tänzerin und Wenders brach das Projekt ab. Aber nicht zuletzt die Tänzer selbst, die mit Bausch alle Choreografien für das Filmprojekt einstudiert hatten, ermutigten ihn, nach einer Phase der Trauer fortzufahren, die Stücke „Le Sacre Du Printemps“, „Café Müller“, „Kontakthof“ und „Vollmond“ zu filmen und sparsam mit Archivmaterial zu einer filmischen Würdigung der großen Innovatorin des Tanztheaters zu montieren. Bei den Dreharbeiten erkannte Wenders, dass vor allem die Stücke Miyakes, die Bausch in „Vollmond“ einsetzte, den Geist seiner Würdigung einfingen.
Als Wenders seinen Film „Pina“ einen Monat vor der offiziellen Premiere auf der Berlinale den Tänzern zeigte, lud der Rolling Stone Jun Miyake nach Wuppertal ein, um Regisseur und Musiker anschließend zu einem Gespräch über die Bedeutung und Inszenierung von Musik zu bitten. Die Vorpremiere war ein voller Erfolg, es flossen viele Tränen und die beiden Gesprächspartner trafen sichtlich emotional mitgenommen im Foyer des Opernhauses ein. „Ich fühle mich, als hätte ich ein neues Stück von Pina gesehen“, erklärt Miyake. „Ich war sehr gespannt, wie Wim mit der 3-D-Technik umgehen würde und ich bin sehr beeindruckt. Ich habe von Pina so viel über Liebe und Gefühle, Körper, Tanz und Ausdruck gelernt – und nun habe ich über sie Wim kennengelernt.“
Wir suchen uns einen ruhigen Platz im ersten Stock, vor den großen Fenstern fährt die Schwebebahn vorbei und natürlich fallen uns gleich Rüdiger Vogler und Yella Rottländer aus Wenders frühem Meisterwerk „Alice in den Städten“ ein. Jun Miyake klappt seinen Laptop auf, Wim Wenders holt seinen iPod aus der Tasche. Das Gespräch kann beginnen.
Wie wichtig ist es für Sie, immer Musik bei sich zu haben?
Jun Miyake: Das hängt so ein bisschen davon ab, woran ich gerade arbeite. Es gibt Zeiten, in denen höre ich überhaupt keine Musik.
Wim Wenders: Ich muss immer welche dabeihaben. Ich habe gleich mehrere iPods – für diverse Bedürfnisse. Ich würde mir wünschen, es gäbe einen mit mehr Speicherkapazität! Es passt einfach nicht so viel auf einen drauf, wenn man die Musik nicht komprimiert. Komprimierte Musik hasse ich!
JM: (flüstert) Ich auch.
WW: Ich war einer der ersten mit einem mobilen Abspielgerät, noch lange vor dem Walkman. Schon in den Sechzigern hatte ich das kleinstmögliche Spulengerät, ein Maschinchen von Uher, das höllisch viele dicke Batterien gefressen hat. Und dazu hatte ich diese riesigen Schalenkopfhörer auf. Wenn ich mit meinem 2CV fuhr und Musik hörte, sah ich von hinten aus wie Mickey Mouse.
JM: Man kann an deinen Filmen sehen, wie sehr du die Musik liebst.
WW: Ich höre viel. (Zu Miyake:) Ich kann mir das leisten, weil ich kein Musiker bin. Dafür gibt es bei mir Phasen, in denen ich mir keine Filme anschauen kann. Zum Beispiel, wenn ich drehe oder schneide.
Sie reisen beide viel und haben sich selbst in Interviews unabhängig voneinander „dauerhaft Fremde“ genannt. Gibt die Musik in dieser fremden Welt einen Halt?
WW: Es ist seltsam – wenn man mit seiner Musik reist, hat man seine Wurzeln sozusagen immer bei sich. Die Musik hilft, wenn man sich irgendwo verloren fühlt – man ist da nie ganz verloren. Und es gab genügend Situationen, in denen ich echt den Faden verloren habe, wo die Songs mir geholfen haben, nicht vollkommen verrückt zu werden.
JM: Ich mag es eigentlich, mich zu verlieren. Ich kann natürlich immer noch mein Instrument spielen, dann bin ich wieder bei mir. Wenn ich spiele, suche ich nach etwas, das in dem Moment fehlt. Also, ich versuche dann nicht, aus der Tiefe meines Selbst zu schöpfen, sondern etwas zu finden, was ich selbst gerne hören würde.
Gibt’s etwas aus Ihrer Musikbibliothek, was Sie nun gern hören würden?
JM: Hm, in solchen Fällen würde ich normalerweise auf meine Lieblingskomponisten Kurt Weill oder Nino Rota zurückgreifen. Aber vielleicht spiele ich mal etwas Unbekannteres. Kennen Sie sich mit äthiopischer Musik aus?
Ich mag zum Beispiel Mulatu Astatke …
WW: … seit „Broken Flowers“ von Jim Jarmusch.
Stimmt.
WW: Ich war vor Jahren zufällig mit Jim zusammen, als der diese CD von Astatke im Amoeba Record Store in Hollywood gekauft hat. Er hat ewig danach gesucht, und da hat er sie gefunden.
Wusste er damals schon, dass er sie für einen Film einsetzen würde?
WW: Er schrieb wohl gerade das Drehbuch, und er wusste schon, dass er da eine gute Verbindung gefunden hatte.
JM: (lacht) Nachdem ihr das also beide schon kennt, spiele ich doch was anderes. Dieser Track geht quasi zurück zu meinen Wurzeln.
Jun Miyake spielt „New Breed“ von Elvin Jones (Album: „Live At The Lighthouse Vol. 1“)
JM: Das sind Steve Grossman und David Liebman, unterstützt von Elvin Jones am Schlagzeug. Ich mag diesen Saxofonstil, wie sie sich aus der Harmonie herausbewegen.
WW: Das ist komisch, weil ich mir gerade unabhängig von dir überlegt habe, etwas zu spielen, und das kommt quasi aus der gleichen Ecke. Auch hier spielt Elvin Jones Schlagzeug. Ein Stück, das ich immer auflege, wenn ich wirklich runterkommen will.
Wim Wenders spielt „Alabama“ von John Coltrane (Album: „Live At Birdland“).
WW: Ich habe damals ein Saxofon gekauft und lange verzweifelt versucht das nachzuspielen. Irgendwann habe ich aufgegeben. Eine meiner ersten Schallplatten! Alles begann mit Jimmy Giuffre. Über ihn und sein Trio bin ich zum Jazz und zu Coltrane gekommen.
JM: Meine ersten Jazzplatten waren „Jazz At Massey Hall“ von Charlie Parker und „Miles In Berlin“ und. Als Kind hatte ich oft eine Melodie im Kopf, die ich über Tage, manchmal Wochen nicht wieder loswurde. Ich dachte damals, was kann besser sein als das, es war wie eine Droge. Aber ich wusste nicht, was ich damit machen sollte, wie ich von dieser Melodie weiterkomme. Dann habe ich zum ersten Mal Jazz gehört und jemand erklärte mir, das seien improvisierte Phrasen. Das war wie ein Elektroschock für mich, ich dachte: „Das will ich auch machen.“ Das war eine Befreiung.
Weil es keine Grenzen gibt in der Improvisation.
JM: Dachte ich damals. Aber dann habe ich 1981 Miles Davis‘ Comeback-Konzert in New York gesehen. Er hatte davor sechs Jahre nicht mehr live gespielt. Das war eine böse Überraschung. Miles war für mich wie Picasso: Nach einer Phase des Rückzugs kam er mit völlig neuen Ideen zurück. Aber Anfang der Achtziger hat er uns nichts Neues gezeigt. Ich dachte: „Das war’s jetzt wohl mit dem Jazz.“
WW: Ich hab ihn nur ein einziges Mal gesehen, in den frühen Siebzigern in der Berliner Philharmonie. Er spielte das ganze Konzert mit dem Rücken zum Publikum, wir haben nicht ein Mal sein Gesicht gesehen. Ich meine, es war fantastisch und sehr lang und wunderschön, aber eben auch seltsam feindselig. Lasst mich in Ruhe! Ich weiß nicht, ob er das öfter gemacht hat, aber ich hab’s damals persönlich genommen. Er wollte uns nicht sehen.
JM: (lacht) Er hat das öfter gemacht, das war sicher nicht persönlich gemeint.
WW: Der einzige andere Künstler, den ich mal was Ähnliches hab machen sehen, war Van Morrison. Den hab ich in einem Club in San Francisco gehört. Das war 1979, als ich an „Hammett“ gearbeitet habe. Irgendwer hat zu Beginn etwas gerufen, und er war so beleidigt, dass er uns anschließend keines Blickes mehr gewürdigt hat.
Die Musik von Van Morrison taucht schon in Ihren frühesten Filmen auf.
WW: Them waren immer meine Lieblingsband. Die fand ich besser als die Stones und sogar besser als die Pretty Things. Und „Astral Weeks“ ist vermutlich das Album, das ich in meinem Leben am häufigsten gespielt habe. Da hab ich mehrere Exemplare verschlissen.
Ist es schon mal passiert, dass ein Musikstück, das Sie liebten, dann nicht funktionierte, wenn Sie es im Film einsetzen wollten?
WW: Ja, das passiert. Es ist schmerzhaft. Wenn man es zu sehr darauf anlegt, geht es oft schief. Das muss aus dem Bauch heraus kommen. In meinen ersten Spielfilm, „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ habe ich alles reingepackt, was ich mochte – Roy Orbison, Van Morrison, die Tokens … Ich war ja auch erst 24 oder so und einfach ein richtiger Nerd. Wenn ich mir das heute anschaue, merke ich, dass ich mich da hab zu sehr hinreißen lassen, all meine Lieblingsmusik reinzustecken.
JM: Wenn ich Musik für Film, Tanz oder Theater schreibe, versuche ich, das zentrale Thema herauszunehmen. Denn das Stück hat ja in der Regel schon einen Solisten, der im Zentrum der Geschichte steht. Wenn die Musik zu viel spricht, übertönt sie ihn.
WW: Da hast du recht. Es darf niemals ganz deckungsgleich sein. Wenn das eine nur das andere illustriert, wird es schnell zu viel. Nino Rota war ein Meister solcher kleinen Verschiebungen. Mit instrumentaler Musik ist das schon schwierig genug, aber wenn dann noch Songs mit Texten im Spiel sind, kannst du in große Schwierigkeiten kommen.
Sie nutzen dieses Mittel aber sehr oft in Ihren Filmen.
WW: Manchmal kann ein Songtext auch die Geschichte erzählen – wenn man sich nicht traut, sie anders zu erzählen. (lacht) Aber es ist knifflig. Für „Palermo Shooting“ habe ich viele Songs gesammelt, die sich – teilweise auch äußerst direkt – mit dem Tod beschäftigen. Aber am Ende musste ich sie fast alle rausnehmen – bis auf einen: „Death To Everyone“ von Bonnie „Prince“ Billy. Der erzählt in dieser Szene quasi schon die ganze Geschichte. Und das im ersten Drittel des Films – ich musste ihn danach also nur noch zu Ende bringen. (lacht)
Der Song, der mir in „Pina“ besonders im Gedächtnis geblieben ist, ist „The Here And After“ von Jun Miyake.
WW: Magisch, der Track. Andreas (Eisenschneider) und Matthias (Burkert), die musikalischen Mitarbeiter von Pina Bausch, haben mir erzählt, dass Pina diesen Song geliebt hat. Und als ich den zum ersten Mal gehört habe, war ich auch ganz hin und weg. Deshalb musste der in den Film. Das ist genau die richtige Musik, um den Film zu Ende zu bringen. Und wenn man auf den Text hört, ist es noch besser. (Zu Miyake:) Wie hast du die Worte für diesen Track gefunden?
JM: Wenn ich mich entscheide, für ein Stück einen Sänger einzusetzen, habe ich meist schon die Stimme im Kopf. Und ich finde es immer am besten, wenn der Sänger seinen Part dann selbst schreibt. In diesem Fall war das Lisa Papineau. Den meisten Textern, mit denen ich arbeite, muss ich vorher nicht viel erklären, die spüren, was ich brauche.
Sie haben einige Male mit Pina Bausch zusammengearbeitet. War das ein ähnlich blindes Verständnis?
JM: Ich glaube, dass Tänzer und Sänger einiges gemeinsam haben – ihre Interpretationen der Musik sind gewissermaßen Adaptionen. Aber ich bin der Meinung, die Musik steht ebenso für sich, wie der Tanz für sich steht. Und das liebe ich so an Pinas Arbeit. Sie hat in der Regel gar nicht mit Musik gearbeitet, sondern zunächst mit einem Metronom oder einem tempo-track gearbeitet. Erst sehr spät hat sie dann ihre Mitarbeiter instruiert, nach der passenden Musik für ihre Choreografie zu suchen. So haben wir uns auch kennengelernt. Ich bekam einen Anruf von Andreas, dass sie gern ein Stück von mir verwenden würden. Wir haben uns angefreundet, und von da an haben sie mich immer gefragt, ob ich Musik für sie habe.
Tanzen Sie eigentlich selbst auch?
JM: Ich? Nein, eigentlich nicht.
WW: Ich schon. Aber ich bin ein einsamer Tänzer. Paartanz kann ich nicht.
JM: Ich muss zugeben, dass ich auch tanze, wenn ich komponiere. Allein in meinem Studio. Aber da sieht es niemand.
Also sind Sie beide einsame Tänzer.
WW: Ich hab nichts dagegen, ein einsamer Tänzer in der Öffentlichkeit zu sein.
Verändert Musik auch das Denken? Bei Ihnen weiß ich’s, Herr Wenders. Das dritte Velvet-Underground-Album hat Sie an einem entscheidenden Punkt in Ihrem Leben beeinflusst.
WW: Stimmt. Damals war ich echt in Schwierigkeiten. Im Sommer 1968 bin ich mit einigen Kommunarden und diversen Linken nach Italien gefahren, zu einer Art Kongress aller möglichen Happening- und Underground-Bewegungen. Einige von ihnen beschlossen dort, tatsächlich in den Untergrund zu gehen, mit der Konsequenz, dass einige von ihnen später ermordet wurden oder, noch schlimmer, selbst andere umgebracht haben. Und andere – zu denen gehörte ich – entschieden, dass Gewalt nicht der richtige Weg für uns war. Es ist vermutlich einzig und allein dem Tape mit diesem Album zu verdanken, dass ich damals nicht verrückt geworden bin. „Some Kinda Love“, „Jesus“ und „Pale Blue Eyes“ haben mir wirklich das Leben gerettet.
Jun Miyake spielt „Kalasnjikov“ von Goran Bregovic (Album: „Underground“).
JM: Diese Gypsy-Musik hat mein Denken definitiv verändert. Das kommt direkt aus dem Leben der Musiker. Und wenn man bedenkt, was für eine schlimme Zeit das damals in Jugoslawien war, ist es umso erstaunlicher, wie fröhlich das ist. Das ist eine sehr intensive Musik, die mich gelehrt hat, das Leben in seiner Gesamtheit zu lieben.
WW: Als Ry Cooder diese fantastische Platte mit Ali Farka Touré gemacht hat („Talking Timbuktu“), hat er mir eine völlig neue Welt gezeigt. Da habe ich angefangen, Musik aus Mali zu hören. Mittlerweile ist das wohl das Land, aus dem ich die meiste Musik gesammelt habe – mehr als aus Äthiopien.
Mehr als aus den USA?
WW: Nicht ganz, aber in den letzten Jahren hat sich das sehr in Richtung Afrika verlagert. Mein großer Favorit ist Boubacar Traoré. Die ganze Zeit schon wollte ich was von ihm spielen. (sucht auf seinem iPod) Aber ich finde das Lied nicht. „Je Chanterai pour toi“… Aber das hier ist genauso gut!
Wim Wenders spielt „Kar Kar Madison“ von Boubacar Traoré (Album: „Kar Kar“).
WW: Boubacar – den ich noch nie getroffen habe. Aber das ist einer meiner großen Pläne. Boubacar treffen, in Mali.
JM: Es ist unglaublich, wie sehr afrikanische Musik die japanische Musik beeinflusst hat. Es gibt ganz ähnliche work songs auch in unserer Kultur.
Möchten Sie zum Abschluss einen spielen?
JM: Ich habe etwas anderes.
Jun Miyake spielt „The Ballad Of The Soldier’s Wife“ von Marianne Faithfull (Album: „Lost In The Stars. The Music Of Kurt Weill“)
Welche Geschichte steckt dahinter?
JM: Keine Geschichte. Der Song hat für mich so ein Road-Movie-Gefühl. Ich dachte, das wäre ein passender Abschluss, denn von Wim habe ich gelernt, mein Leben wie ein Road Movie zu führen.