Mann für alle Fälle
Wenn der Genitiv schon im Brunnen liegt - wer kann den deutschen Schlager dann noch retten? Auch Bastian Sick, der derzeit poppigste Sprachpfleger und Erfolgsautor, sieht das Textniveau sinken, kennt aber die rühmlichen Ausnahmen
Es gibt Leute vom Fach, es gibt passende Professoren. Eine vernünftige Expertise über das Textniveau des deutschen Schlagers bekommt man allerdings von keinem. Weil die einen, die Künstler selbst, befangen sind. Und die anderen, die Akademiker, den Gegenstand zu läppisch finden und Unterforderung fürchten. Aber die Zeit, in der Sprachkritik zum bizarr überraschenden Volkssport geworden ist, bringt auch für dieses Problem den richtigen Mann: Bastian Sick, als Autor der „Zwiebelfisch“-Kolumne auf „Spiegel Online“ und der „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“-Bücher berühmt und gut verkauft. Bei den einen ist Sick als lustigster Deutschlehrer der Welt beliebt, während die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ schrieb, sein Publikum seien vor allem „gebildete Mittelschichtsbewohner, denen Sicks dumme Spaße die angenehme Gewißheit verschaffen, dass es zu denen da unten noch ein ganzes Stück Wegs weit ist“.
Unter dem CD-Titel „Lieder voller Poesie“ hat Sick nun seine 19 liebsten Stücke von Udo Jürgens zusammengestellt und kommentiert. Der richtige Anlass, um sich bei ihm nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Schlagerdeutsch zu erkundigen.
Herr Sick, in den Linernotes zu „Lieder voller Poesie“ loben Sie Jürgens Lied „Wärst du nicht du“ als „grammatikalisches Feuerwerk“, in dem in dreieinhalb Minuten 19 Konjunktivformen gesungen werden und „eine Irrealis-Rakete nach der anderen in den Himmel steigt“. Ist Udo Jürgens der Sprachpapst unter den Schlagersängern?
Udo Jürgens hat immer Wert auf gute Texte und eine klare Sprache gelegt. Zu diesem Zweck hat er mit den besten deutschen Textdichtern zusammengearbeitet: Eckard Hachfeld, Friedhelm Lehmann, Michael Kunze, Wolfgang Hofer, um nur ein paar zu nennen. Textdichter, die ihr Handwerk verstehen. Das ist die Grundlage des Schreibens und Dichtens: Zuerst muss man die Regeln beherrschen, dann kann man sich anschicken, mit ihnen zu spielen. So entsteht Kunst.
Sie empfehlen Udo Jürgens‘ Texte gar für den Deutschunterricht. Was könnte man an ihnen denn zeigen?
Man kann die Texte als Beispiel für intelligente, kunstvolle Minnelyrik der Gegenwart heranziehen, um zu zeigen, dass die Poesie im späten 20. Jahrhundert nicht ausgestorben ist, sondern weiterlebt. Im Französischunterricht werden schließlich auch Chansons eingesetzt warum also nicht auch im Deutschunterricht?
Wenn man Ihre Zwiebelfisch-Kolumne kennt, wundert man sich über Ihre Schlagerbegeisterung. Schließlich wird in vielen Liedtexten nicht unbedingt das beste Deutsch gepflegt.
Man muss hier natürlich ganz klar unterscheiden. Schlager ist nicht gleich Schlager. Es gibt gute und schlechte deutsche Unterhaltungsmusik. Wir reden hier nicht über Wolfgang Petry oder Andrea Berg. Ich bin ein Freund des Kunstschlagers, der Unterhaltung mit Haltung, wie sie in den 6oer und 70er Jahren in Deutschland noch selbstverständlich war—und heute leider immer seltener zu finden ist.
Dann bemerken Sie, was die Schlagerqualität angeht, einen Niveauabfall seit den Siebzigern?
Bedauerlicherweise, ja. Es begann Anfang der 80er Jahre, als man aufhörte, teure Studioproduktionen mit Orchester zu machen, als Musik nur noch per Computer erzeugt wurde. Als es möglich wurde, dass ein einzelner Tüftler in seinem Hobbykeller eine komplette CD produziert. Als man die Arbeit aus den Händen der wirklichen Profis gegeben hat, der Komponisten, Arrangeure und Textdichter. Da hat eine starke Verflachung stattgefunden, und das hat dem Kunstschlager den Todesstoß versetzt.
Oft hört man den Generalvorwurf, die deutsche Sprache sei zu kantig, um sie ansprechend singen zu können.
Die deutsche Sprache kann ganz wundervoll klingen. Udo Jürgens liefert das beste Beispiel dafür – weil er etwas zu sagen hat und dies klar artikuliert. Für jemanden, der nichts zu sagen hat und auch keine gepflegte Aussprache hat, ist es einfacher, sich hinter Englisch zu verstecken, denn da fallt es nicht so auf. Übrigens kann auch Englisch manchmal sehr seltsam klingen. Nehmen Sie nur den Titel „It’s The Strangest Thing“. Bitte wiederholen Sie das fünfmal und sagen Sie mir, ob Englisch sich wirklich besser sprechen lässt und schöner klingt als Deutsch. Früher hatte man übrigens weniger Probleme mit unserer Sprache. Erst meine Generation, die in den 60er Jahren Geborenen, empfand Deutsch irgendwann als total peinlich und spießig.
Wie steht es mit objektiven Sprachfehlern? Sie haben einmal eine Kolumne über den Schlager „Marmor, Stein und Eisen bricht“ geschrieben und dabei die falsche Verbform verteidigt. Korrekt heißt es ja „Marmor, Stein und Eisen brechen“.
Diese Zeile ist eben nicht falsch, das ist es ja gerade. In der Dichtung gelten nicht immer dieselben Gesetze wie in der Schule. Wer „Marmor, Stein und Eisen bricht“ als falsches Deutsch kritisiert, kennt sich in der Dichtung nicht aus. In Bayern wollte man dieses Lied seinerzeit wegen des vermeintlichen Fehlers sogar verbieten. Doch dann hätte man in Bayern das „Vaterunser“ gleich mit verbieten müssen. Darin heißt es nämlich: „Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“, und nicht etwa „Denn Dein sind das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“. Das Verbot war im Übrigen nur ein vorgeschobener Grund; in Wahrheit wollte man Dran Deutscher verbieten, weil der für damalige Verhältnisse zu unkonventionell war. Das war ja vor 1968, da wurde gleich immer alles geächtet, was nach Revolte und Aufbegehren aussah.
Und dann gab es da noch die bayerische Sängerin Nicki mit ihrem Hit „Wegen dir“…
Das war in den 80er Jahren. 1986, um genau zu sein. Das Lied war ja in bayerischer Mundart, und in Bayern wird „wegen“ selbstverständlich mit dem Dativ gebraucht. Im selben Jahr brachte Udo Jürgens eine Platte mit dem Titel „Deinetiuegen“ heraus. Das fand ich damals schon kurios: eine junge Deutsche, die Dialekt singt, und ein Österreicher, der Hochdeutsch singt. Ein herrlicher Kontrast!
Also dulden Sie durchaus sprachliche Fehler, wenn sie unter „lyrische Freiheit“ fallen.
Die Dichtung braucht Freiheit, um Kunst werden zu können. Aber auch die Alltagssprache braucht Freiheit, um sich entwickeln zu können.
Wie sehr beeinflusst Schlagersprache den alltäglichen Sprachgebrauch?
Nun, manchmal werden Liedtitel ja zu geflügelten Worten.
„Mein Gott, Walther“, zum Beispiel.
Ja, oder „Aber bitte mit Sahne“. Manche Namen oder Städte kann man ja gar nicht erwähnen, ohne an bestimmte Schlager zu denken. Ohne das jetzt empirisch messen zu können, tragen Schlager ganz sicher auch zur Verbreitung sprachlicher Strukturen und grammatischer Formen bei.
Sehen Sie in Schlagersprache auch Parallelen zu literarischen Traditionen?
Es gab sehr pfiffige Kunstlieder in den 20er, 30er Jahren, bevor die Nazis an die Macht kamen und diese lebendige Kultur zerschlugen. „Ich fahre auf die Fidschi-Inseln, da lass ich mir den Bauch bepinseln“ – absurde Texte, ganz köstlich, mit lauter hinreißenden Ideen. „Chinamann liebt das schöne Mädchen Marzipan“ oder „Veronika, der Lenz ist da“. Heute wird höchstens noch Klamauk produziert.
Der früher mal feinsinnige Schlager ist also derber geworden.
Und das gilt nicht nur für die Musik. Vieles hat an Raffinesse und Eleganz verloren. Udo Jürgens hatte immer Stil, und den hat er sich bewahrt. Bei al 1 seinen Konzerten trägt er immer einen Anzug- wie Frank Sinatra. Auch wenn er sich nachher dann einen Bademantel überzieht, den Anzug behält er drunter. Das hat Format! Und das ist es, was ich bei vielen anderen schmerzlich vermisse: Da fehlt das Würdevolle, das Erhabene, die Eleganz.
Auch in der Sprache?
Auftreten und Sprache gehen meistens Hand in Hand. Nicht nur in der Musik, sondern generell. Im Vorstellungsgespräch werden Menschen ja auch nach ihrer gesamten Erscheinung beurteilt, und die setzt sich aus Benehmen, Kleidung und Sprache zusammen. Wer nicht nur gepflegt aussieht, sondern obendrein den Konjunktiv beherrscht, hat bessere Chancen als jemand, der nicht mal weiß, was ein Konjunktiv ist.
Haben Sie außer Udo Jürgens noch andere Lieblinge?
Natürlich, sehr viele! Zu selben Zeit, als ich Udo Jürgens entdeckte, Anfang der 70er Jahre, entdeckte ich auch Mireille Mathieu. Ihre Stimme hat mich einfach umgehauen, eine solche Kraft und Reinheit habe ich bei keiner anderen Sängerin weder davor noch danach wieder entdeckt. Bei ihr finde ich Schönheit, Perfektion, Würde. Ferner mag ich Petula Clark, Charles Aznavour, Ginette Reno, Vicky Leandros, ABBA und viele, viele andere großartige Künstler. Die meisten davon hatten ihre Glanzzeit in den 70er Jahren. Von dem, was danach kam, hat mich nur wenig überzeugen können.
Befassen Sie sich dann gar nicht mit den Negativauswüchsen?
Natürlich, ich kann sogar einige Titel von Dieter Bohlen fast auswendig mitsingen. Das bringt auch mein Beruf mit sich, ich widme mich schließlich den Fehlern in der Sprache – und damit zwangsläufig auch den Fehlentwicklungen in der Gesellschaft allgemein.
In Ihrem aktuellen Bühnenprogramm lesen Sie nicht nur aus Ihren Büchern, sondern singen sogar ab und zu.
Ich singe „Eviva Espana“ kurz an, als Beispiel für einen Hit, der sich aus einem Hörfehler entwickelt hat. Das Wort „Eviva“ gibt es nämlich gar nicht. Auf Spanisch heißt es „Que viva“. Hier hat der Schlager zur Verbreitung einer falschen sprachlichen Information beigetragen. Das finde ich aber nicht schlimm, sondern sogar ganz lustig. Davon abgesehen können Schlager eine schöne Motivation sein, um Fremdsprachen zu erlernen. Durch Julio Iglesias habe ich tatsächlich eine ganze Menge Spanisch gelernt. Und Mireille Mathieu war der Anlass für mich, Französisch zu lernen.
Sehen Sie denn heute irgendeinen potenziellen Nachfolger für Jürgens oder Mathieu?
Es wird immer junge, talentierte Sänger geben. Die Frage ist, ob das Fernsehen und die Musikindustrie jemals vom Prinzip „Schnell, schnell, billig, billig“ loskommen werden und sich wieder trauen, in hochwertige deutschsprachige Unterhaltungsmusik zu investieren. Bis dahin bleiben uns eben nur die Oldies.